Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 15 (Januar/Februar 2007)

 

  

  

INHALT: VON DER DEUTSCHEN GEGENWART: Deutsche Sätze aus dem 20. Jahrhundert (Karl Kraus) - Leser-Reaktionen. VON DER WISSENSCHAFT: Vom Zeitungsinterview mit einem Geisteswissenschaftler zur Frage von Sprache und Krise in den Geisteswissenschaften .VON DER DEUTSCHEN VERGANGENHEIT: Reflex und Reflexion der Jugendbewegung und ihrer Literatur in Kempowskis kollektivem Tagebuch „Das Echolot“.VOM ISLAM:Wie der „Spiegel“ vom Islam redet – Dialog mit dem Abgeordneten Volker Beck.VON DER DEUTSCHEN KULTUR: Der Wiederaufbau der deutschen Kultur. VOM JOURNALISMUS: Die vierte Gewalt – Nach dem Presseclub – Das Blatt bespricht. VON DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT: Renault-Erfahrungen - Wie die Postbank aus eigenen Fehlern Vorteile zuungunsten ihrer Kunden zieht – Stromausfall. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1956.

  

  

  

VON DER DEUTSCHEN GEGENWART

   

Deutsche Sätze aus dem 20. Jahrhundert I

  

„[…]

Es ist meine Religion, zu glauben, daß Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet  hat, daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.

Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu mißbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur  zu verstehen gegeben, daß es  nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! […]

Die Natur  mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur  entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Sicherheit dieser Ordnung ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, daß ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.

[…]

Da besinnt sich die Menschheit, daß ihr der Sauerstoff vom Fortschritt entzogen  wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Fortschritts, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.

[…]

Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist: aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffmnung! […]

Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich micht  nicht; aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zustimmen, wenn er nicht selbst wieder eine politische Sache wäre, also eine Gemeinheit.[…]

Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies  schon in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?

Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muß sie untergehen.

Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.

[…]

Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt hätten oder haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf eine Feder dienen, die für Leser schreibt. […] Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht so sehr hassen als unbedingt notwendig ist. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: ‚Flieg’n m’r, Euer Gnaden?’“

  

Karl Kraus,  Apokalypse (Offener Brief an das Publikum) [Ausz.], 1908.

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Leser-Reaktionen

  

Ein hochangesehener Soziologe  dankt  für Nummer 13, „insbesondere für den Festredner“. Das meinte wohl den Artikel über des ehemaligen Außenministers Hommage für den Kritiker Reich-Ranicki.

Der Präsident einer Akademie schreibt ähnliches an einen Freund und schickt mir eine Kopie des Briefs.

Das ist beides liebenswürdig, aber es geschieht wohl nicht allein, um mich zu loben.  Es geht vielleicht vor allem darum, daß man sich freut, weil einer das sagt, was man selbst nicht öffentlich sagen kann oder mag.

Andere sagen anderes. So ein deutscher Schriftsteller, der mir  erst versichert, wie sehr er meine  Arbeiten zu Robert  Musil geschätzt habe, aber dann, daß er  die Beiträge in „Zur Lage der Nation“ nicht mag . Das bleibt ihm natürlich völlig unbenommen, und er braucht sie ganz einfach nicht mehr zu lesen. Aber das genügt ihm nicht. Als kündige er nun ein Abonnement, ersucht er darum, ihn aus der Liste  derer zu streichen, die  über  eine neue Nummer informiert werden. Das  macht natürlich sachlich keinen Sinn, aber dem Manne liegt daran, daß ich ihn, indem ich ihn streiche, beachte.

Ähnliches wünscht ein mir völlig unbekannter Privatdozent, der nur, weil er dem Fach am Ort angehört, informiert wurde.  Welch eine Wichtigtuerei. Mannhaft treten sie vor und  fordern, empört über das, was sie lesen, obwohl sie es nicht lesen möchten,  daß ihr Name aus einer Liste schwinde, was umgehend geschah. Aber deshalb diese Aufregung? 

Doch gibt es ebenso die Bitte, neue e-mail-Adressen zu registrieren. Und es gibt Fälle, in denen ich die Information streiche.

Ganz  anders wieder steht es  mit einem Leser, der  sehr ausführlich zur Nummer 14 sich äußert, z.T. lobend, z.T. kritisch. Das gibt mir Gelegenheit, einige  seiner Bemerkungen aufzugreifen, um vielleicht ein bißchen deutlicher zu machen, was mit dem gesagt werden soll, was gesagt wird.

  

Lieber Herr Dr. L.,

Sie hatten die Liebenswürdigkeit, meine „Bemerkungen“ der Nummer 14 nicht nur zu lesen, sondern etlichen von  ihnen auch Ihre  freundliche und kritische Aufmerksamkeit zu widmen und sich damit viel Arbeit zu machen. Dafür darf ich Ihnen herzlich danken.

[…]

Sie […] schreiben mir ausführlich dazu. Und ich hatte schon versucht, Ihnen gegenüber meine Zufriedenheit  mit dem neuen Medium Internet zu äußern, das   zuläßt, ohne Einfluß und Einrede von Redakteuren und Verlegern, Sätze zu schreiben, die überdies noch sehr unterschiedlichen genres angehören. Damit muß ich aber zugleich hinnehmen, daß  andere Äußerungen im Internet z.T. in Formen auftreten und Inhalte vermitteln, die ich, abgesehen von deren Details,  nicht akzeptieren kann. Denn darin präsentieren sich oftmals wildgewordenes Denken und Schreiben, die Privates und Generelles in Willkür ausbreiten.

Denke ich darüber nach, was dies verhindern könnte, so finde ich leider keinen besseren Begriff als den der Subjektivität, der heute aus einem Mißverständnis, als handle es sich eben um Privatheit, eher abgelehnt wird.

In ihm trifft sich aber in Wahrheit das Individuelle mit dem Allgemeinen. Dieses  ist dann ein Moment der Subjektivität, wenn es nicht als generelle, sondern als konkrete Reflexion erscheint, jenes, insofern es sich auf ein Allgemeines hin öffnet. Das bedeutet, daß erst da von Subjektivität gesprochen werden kann, wo Sätze als sinnvolle Sätze möglich werden, in denen  ja immer das Individuelle und das Allgemeine erscheinen: das Individuelle, das in jedem Satz als dem eines bestimmten Sprechers sich zeigt, das Allgemeine, indem der Satz als Teil der Sprache  sich realisiert.

Damit sind wir schon bei Ihrem ersten Bedenken, nämlich dem, daß Sprache sich nicht als die eine zeigen könne, sondern in den verschiedenen Sprachen, wie sie z.B.in der babylonischen Sprachverwirrung der Genesis uns als Verstehensproblem entgegengehalten werde. Sie antworten damit  auf eine kurze Bemerkung in einem Text über den 11. September 2001, wo ich davon spreche, daß wir schon seit dem 19. Jahrhundert unsere Chance, die in der Sprache liege, nicht mehr wahrnähmen, weil jene auseinanderfalle  in Sprache als Wirklichkeit, wie sie übrigens ein Teil der Literatur und der Philosophie noch repräsentieren, und Sprache als Apparat der Tatsacheninformation.

Nun bedürfte es zu einer kompetenten Erwiderung natürlich einer ausführlicheren Darstellung der hinter jener These stehenden Sprachauffassung, die ich in vielen Arbeiten zu leisten versucht habe und die Sie sowohl in „Zur Lage der Nation“(Nachweise im Register) finden wie in meiner Internet-Bibliographie nachgewiesen sehen. Sollte ich versuchen, diesen mir sehr zentralen Punkt  ein bißchen zu verdeutlichen, so kann ich das hier nur in einer recht simplen Form tun, nämlich mit dem Hinweis auf das Konstitutive der Sprache für unsere menschliche Existenz. D.h. wir müssen uns klar darüber sein, daß, was immer  als das Seiende, Gedachte, Gefühlte auftritt, es ein Gesprochenes ist, insoweit es denn (für uns) existiert. Ganz gleich, ob wir das als Last oder Lust erfahren, was wir sind und was wir haben, was wir erfahren, denken, fühlen, erschließt sich uns nur als  sprachlichen Wesen.

Diese Auffassung ist eine ziemlich späte, denn Sprache ist in allem Denken über lange Zeiträume „umschlossen“ gewesen  von Primärbegriffen wie Mythos, Religion, Vernunft und erst mit dem Fraglichwerden von Vernunft  als „sie selbst“, als letzte Universalie hervorgetreten. Davon sprechen  v.a. die deutschen Sprachdenker seit Hamann. Nun ist aber alle Sprache wie alles Sprechen so angelegt, daß es verstanden werden will. Hier setzen Sie ein und lesen den Text von der Sprachverwirrung so, als sei wegen der zahlreichen Sprachen,  die natürlich nicht erst mit den natürlichen Sprachen beginnen, sondern damit, daß jeder Sprecher seine eigene Sprache hat,  vom Augenblick jener Sprachverwirrung an kein Verstehen, v.a. aber keine Verständigung mehr möglich.

Dem halte ich entgegen, daß Verstehen zum Sprechen als der Grundfigur unserer Existenz gehört und daß darum ein generelles Bestreiten von Verstehen, wie wir es ja in jedem Dialog, in jeder Interpretation, in jeder Übersetzung postulieren, absurd wäre, da es unsere Existenz als menschliche vernichtete.

Die Genesis-Erzählung vom Turmbau  geht nicht  von der Unmöglichkeit des sprachlichen Verstehens aus, sondern davon, wie die Anmaßung des Turmbaus verhindert werden könne. D.h. wo die Wirklichkeit, die als menschliche immer  sprachlich ist, reduziert werden soll auf den homo faber, verwirrt Gott die Sprache der Menschen, was aber zugleich heißt, sich statt auf das Machen wieder auf Sprache als Sprachen und ihr Verstehen zu konzentrieren. 

Wir gehen sicher d’accord, wenn wir sagen, daß die heutigen Sprecher in ihrer Mehrzahl alles tun, um diese Konzentration zu verhindern, was aber nicht heißt, daß es nicht, solange noch etwas ist, möglich wäre. Die entschiedenste Erschwerung dieser Konzentration liegt in dem Aufkommen des ‚Tatsächlichen’, über das ich in einem längeren Beitrag in Nummer 14 spreche.

Dieses ‚Tatsächliche’ tendiert in zweierlei Weise auf das Sprachlose: nämlich in der Weise von Gewalt  und in der Weise der Phrase. Die ‚reine’ Gewalt ist der Umschlag von Sprache in Sprachlosigkeit. Sie droht, sich in den mannigfaltigsten Formen  zu realisieren,  so daß keine Lebenssphäre mehr von ihr ausgeschlossen ist. Von der Losgelassenheit von Kindern bis zu Terror und Krieg sucht Gewalt die Welt als sprachliche zu destruieren. Viel harmloser nimmt sich Phrase als die Weise aus, in der Sprache selbst Sprachlosigkeit zu etablieren, also deren Formen beizubehalten, aber als solche des Nichtigen. Dies ist vorwiegend die Leistung der sogenannten  Medien von der Tages- und Wochenpresse über den Rundfunk zum Fernsehen. So schlimm deren Mitteilungen als berichtete und konstruierte auch sind, ihr eigentliches Problem ist die Auffassung von der Sprache als Apparat zum Transport dieser Mitteilungen, die die Semantik der Sprache, die diese selbst ist, je und je vernichtet, und an ihre Stelle Tatsachennachricht und Meinung setzt,  die nicht einmal als das Allgemeine und das Individuelle erscheinen, sondern eben als das Nichtssagende der Phrase. 

Es hängt für mich eigentlich alles, also auch die Momente, die Sie aus der Nummer 14 zitieren, mit dieser Voraussetzung zusammen.

So beziehen Sie sich auf meine Eingangs-Thesen, die von 2001 stammen: „Wir haben Zeitungen und Fernsehen, sie haben den Koran“ und antworten, daß wir doch sehr viel mehr als nur jene haben, ich nennte doch selbst die Architektur Andalusiens. Mein „Lamentoso“ versucht aber darauf hinzuweisen, daß wir diese andalusischen Wunder nicht mehr „haben“, wenn sie auf ihr touristisch Anlaßhaftes  reduziert sind,  und daß gleichzeitig „Zeitungen und Fernsehen“ die Chiffren unseres sprachlosen Zustands sind, dem der „Koran“ als ein Buch gegenübersteht, in dem es auf jedes Wort ankommt,  freilich auch eines, das, weil das Ernstnehmen des Wortes nicht die subjektive Reflexion einschließt, sondern den blinden Akzept will, das sogenannte  „Wörtlichnehmen“, zum Terrorismus führt.

Der Terrorismus mag, wie Sie glauben,  ein „Verzweiflungsschrei dessen sein“, „der sich unverstanden fühlt“, aber ist  ‚Unverstandenheit’ jemals Lizenz zu töten, also die  Sprache zu verlassen und an ihre Stelle Gewalt zu setzen?

  

„Schmeichelei und Heuchelei“ lesen Sie als Aburteilung von „Primitivlingen“. Doch ging es primär um etwas anderes, das wohl nicht deutlich geworden ist. Der Text sucht  alte Begriffe, die dem Literaturwissenschaftler natürlich vor allem aus der Komödie geläufig sind, zu reaktivieren und deren Verschleierung durch einen neuen(„political correctness“) zu zeigen. 

Daß jene verschwunden sind, scheint mir nicht aus dem Verschwinden der ‚Phänomene’ hervorzugehen, sondern daraus, sie sprachlich und damit realiter zu verdrängen. Ja, ärger als das: sie sind universell geworden, wären also in der Komödie als ‚Fehler’ einzelner, die ‚Feinde der Gesellschaft’ sind, nicht mehr verwendbar, noch schlimmer: die alten und kritisch funktionierenden Begriffe sind  nun  Repräsentanten anerkannter gesellschaftlicher Doktrin, indem sie für „political correctness“ stehen.

Sie haben  ihren anthropologischen Typus z.B. in Joschka Fischer als einem, der zunächst im Gefolge der Achtundsechziger agierte, einer Gruppe von Unverantwortlichen, sich dann  immer mehr angepaßt  und gleichzeitig diese Anpassung realisiert hat als tartuffische  Harmonie von Faulheit und  Rhetorik, welch letztere an die Stelle von Gewalt getreten ist. Diese Harmonie  hat seine Karriere und in einem seine Beliebtheit begründet. Erfolgreich wird in dieser Welt gebotener universeller Schmeichelei und Heuchelei nämlich gerade der, der nichts gelernt hat außer der Beherrschung des konformierenden Jargons. Das gefällt nämlich der großen Mehrheit, die ohne Anstrengung reüssieren will. 

  

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Die „Service-Wüste“ entsteht, wie mir scheint, aus einem Rollenwechsel,  der das Dictum, das ich auf einem LKW las, auf den Kopf stellt: „Die Kunden sind unsere Auftraggeber“.

Schon 1966 habe ich den Aphorismus publiziert: „Die Konsumenten sind das Proletariat von heute“.

  

Dies ist eines der Beispiele, von denen in der gängigen Publizistik nicht gesprochen wird und die auch der Kunde nicht gern hört, weil seine Ohnmacht darin erscheint.

Generell gilt wohl, daß kritisches, polemisches, satirisches Sprechen niemals erfolgreich ist, (so ist z.B. „Gulliver“ ein Kinderbuch geworden, es hat also seinen ‚Zweck’ verfehlt). Solange aber überhaupt gesprochen wird, muß als Signal des Widerstandes auch so gesprochen werden.

   

Sehr interessant und wichtig ist Ihre Frage nach  der Wahrnehmung bedeutender Literatur. Das ist  ein sehr undurchsichtiges Problem. Ich neige zwar dazu, daß, sofern es eine Rezeption jenseits von Reich-Ranicki gibt,  oft in einem langen  Prozeß Vergessenes oder Verborgenes entdeckt und Gelobtes ausgeschieden wird. Das größte Beispiel ist die Wiederentdeckung Homers im 18. Jahrhundert. Aus der neuen Literaturgeschichte: Musil war 1942, also bei seinem Tod, ein vergessener Autor. Er gilt nun vor Proust und Joyce und natürlich vor Thomas Mann, dem imnmer  noch Überschätzten, als der erste Romanautor des 20. Jahrhunderts.

  

Damit habe ich natürlich nur eine geringe Zahl Ihrer immerhin sechzehn „Dialogversuche“, wie sie Ihre Bemerkungen überschreiben, berücksichtigt. Ich bin sicher, Sie werden das verstehen.

Aber abschließend möchte ich noch auf Ihre Klage eingehen, die auf „die ganz erschreckende eigene Erfahrung überrumpelnder Isolationen“ sich richtet, die dem ‚Amtlosen’ begegnen.

Das ist einerseits sicher eine nie endende Klage des Alters, in dem wir eben gewahr werden, daß das evolutionäre Drängen jüngerer Generationen uns verdrängt, worüber die These von der Weisheit des Alters  die Alten hinwegzutrösten suchte. Aber jenseits dieses etwas durchsichtigen Trostes bleibt doch richtig, daß wir gerade durch unsere öffentliche Ausschaltung die Möglichkeit haben, die Dinge, die uns zuerst in unserer Jugend wichtig erschienen, wieder frei zu bedenken, was der Betriebsnudeligkeit der ‚Tätigen’  gar nicht möglich ist. Und das ist sicher fruchtbarer als der Drang von Achtzigjährigen, sich  wenigstens noch als Betriebsnudeln wichtig zu machen. 

   

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VON  DER WISSENSCHAFT

  

   

Vom Zeitungsinterview mit einem Geisteswissenschaftler

zur Frage von Sprache und Krise in den Geisteswissenschaften

   

Auf  der Hochschulseite der „Westfälischen Nachrichten“ vom 19.Oktober 2006 erscheint ein Interview mit dem Kirchengeschichtler an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster Prof. Hubert Wolf. Es soll darin gehen um „Krise“ und „Zukunftsperspektiven“ der Geisteswissenschaften.

Von den 11 Fragen des anonymen Interviewers gelten acht  der Erkundung, ob die Geisteswissenschaften den Ansprüchen der „Öffentlichkeit“ Genüge tun, Von der „Krise“ und den „Zukunftsperspektiven“ der Geisteswissenschaften ist also gar nicht die Rede. Dabei sind dies natürlich  zentrale Themen. 

   

Das Thema der Krise ist so alt wie die Geisteswissenschaften selbst, denn in ihnen geht es viel vordringlicher als in den Naturwissenschaften um das Verhältnis ihrer Gegenstände zu ihrer Methode, will sagen: zu ihrer Art des Sprechens, die den Gegenstand erst konstituiert und ihn dann interpretiert. Das ist immer ein krisenhaftes Verhältnis. Damit ist auch das Thema der Zukunftsperspektiven angesprochen. Denn in dem Maße, wie sie ihre Krisen erkennen und bearbeiten, bekommen die Geisteswissenschaften Perspektiven als Möglichkeiten auf die Zukunft hin.

Dadurch daß sich die Naturwissenschaften auf die Tatsachen als ihre Grundlagen berufen, scheinen sie von der Problematik der Geisteswissenschaften befreit. In Wahrheit verdrängen sie aber (bis auf Mathematik, Fundamentalphysik u.ä.) nur die auch ihnen natürlich eignende Problematik der Art ihres Sprechens, was v.a.durch  die Dogmatik einer Wissenschaftssprache geschieht, die es in einem strikteren Sinn überhaupt erst seit ca 150 Jahren gibt.

In den Geisteswissenschaften tritt diese  Problematik ganz unverhüllt zutage, so daß es eine ganze Anzahl von modernen Disziplinen gibt, die nur aufgrund ihres Lexikons den Anschein durchsetzen, Wissenschaften  zu sein.

In älteren Disziplinen wie etwa der Literatur- und der Geschichtswissenschaft hat  dieses Lexikon zwar auch eine erhebliche Bedeutung. Aber noch wichtiger scheint uns zu sein, wie beide  die Sprache syntaktisch und strukturell handhaben. Die Geschichtswissenschaft hat sich spätestens im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts dem Positivismus anzuschließen begonnen und Rankes Forderung, zu zeigen, wie es eigentlich gewesen, in diesem Sinn aufgefaßt. Dabei hat sie freilich gleichzeitig immer stärker, bemerkt oder unbemerkt, auf die schriftlichen Quellen gesetzt. Und ihre großen Repräsentanten haben, zumal in Deutschland,  sich immer um Hermeneutik bemüht, also um ein Sprechen, das in der Lage ist, zu verstehen und auszulegen. Doch war sie angesichts dieser Synthesebemühung auch immer in der Gefahr, entweder sich einer Objektivitätshoffnung zu ergeben oder aber in die Nähe, ja unter das Gebot ideologischer Tendenzen zu geraten.

Nach der Romantik und nach den Grimms ist die Literaturwissenschaft ihr als Literaturgeschichte lange gefolgt, bis es zur Annäherung an die Lebensphilosophie, später an  den Formalismus der Kunstwissenschaft kam. Obwohl sie, vielleicht noch stärker als die Geschichtswissenschaft,  sich ideologischen Einflüssen  ergab, hat sie es nach dem zweiten Weltkrieg verstanden,  zu der in der Öffentlichkeit am meisten akzeptierten Geisteswissenschaft zu werden, und zwar zum erheblichen Teil durch Repräsentanten, die schon in der Nazizeit eine nennenswerte Rolle gespielt haben. (Witzig genug war es freilich, daß der größte Schelm nicht aus dem Kreis der Innerlichkeitsapostel oder gar der immanenten Interpretation kam, in der ‚kritische’ Germanisten  die im Formalistischen sich versteckenden ehemaligen Nazis zu erkennen glaubten, sondern als Mitglied fortschrittlich-gesellschaftskritischer Marschierer aufgetreten war.)  Das war sehr wahrscheinlich dem Umstand zu verdanken, daß der schon seit längerem eingeführte Verbund von  scheibar gegensätzlichen Tendenzen  in Gestalt einer sowohl existentialistischen wie formalistischen Rede darum so großen Erfolg hatte, weil er  einem kruderen philosophischen Interesse wie dessen wissenschaftlicher Legitimierung sehr entgegenkam.

Diese Synthese war vorherrschend bis zu den Achtundsechzigern, die mit Recht deren Suada bekämpften, aber zu Unrecht  ihre ideologische dagegensetzten, so daß nun die Phase marxistischer Redensartlichkeiten begann, die an der Langeweile ihrer Rezipienten zugrundeging. Das führte allerdings nur zu einer sozusagen im Sekundentakt sich u.a. ablösenden psychoanalytischen, strukturalistischen, poststrukturalistischen, dekonstruktivistischen Literaturwissenschaft, die schließlich  mit der Flucht aus den literarischen Texten unter dem Namen Kulturwissesnchaft endete und  in eine Nacht  führte, in der alle Katzen ‚irgendwie’ waren. 

Kein Wunder, daß  diese Literaturwissenschaft nicht mehr auf das Interesse der Öffentlichkeit stieß, obwohl dem die Schlangen vor den Anmeldungsbüros  für germanistische Seminare zu widersprechen scheinen. Doch geht es dabei nur um das Unterkommen im Beliebigen, um die Verheißung durch Nichtstun (als  beliebteste Art heutiger Tätigkeit) Erfolg zu haben.

So ist die Geschichtswisenschaft als am meisten akzeptierte Geisteswissenschaft abermals aufgetreten.Auch sie hat sich natürlich mit den verschiedensten sprachlichen Lexika präsentiert. Aber ihr erfolgreichstes ist doch  das ikonale, das sie mit Hilfe des Fernsehens  durchgesetzt hat. Denn den ideologisch und formalistisch Enttäuschten konnten nun (fotografische und filmische) Bilder vorgesetzt werden, die über Jahrzehnte hin  als Dokumente der Tatsachen-Wirklichkeit angeboten und dann auch rezipiert wurden und noch werden, obwohl man längst weiß, daß sie das Gegenteil bis hin zur krassen Lüge sein können. Es beginnt damit, daß schon unter historisch-technischen Gesichtspunkten der Kosmos der Bilder anfangs wie später eine Zufallsauswahl ist, gegenüber der die schriftlichen Quellen geradezu systematische Qualitäten zeigen. Dennoch hat sich  ein Gelehrter wie Herr Knopp, der ohne jede Scheu seine Historikervergangenheit abtut, etablieren können, indem er bspw. ‚belegend’ Bilder zeigt, die mit dem jeweiligen Thema nur etwa die ungefähre Gleichzeitigkeit  oder etwa dessen ‚Verarbeitung’ als Spielfilm gemein haben. Wir sind also weit hinter die Einfälle von Holzschneidern, Stechern und Lithographen vergangener Jahrhunderte zurückgefallen, wo es um die Aufarbeitung von Historie geht.

Schon in dieser Skizze wird deutlich, wie es mit den Krisen der Geisteswissenschaft bestellt ist, denen die nicht geringeren der erfolgreichen Naturwissenschaften gegenüberstehen, die aber verschwiegen werden. Und darum auch mit ihren Perspektiven, von denen aber das Interview mit dem Kirchengeschichtler Wolf   so wenig spricht wie von ihren Krisen.

Das fragt, wie gesagt, immer aufs neue nach der Legitimation der Geisteswissenschaften vor der „Öffentlichkeit“. Dabei wird bereits verschwiegen, was der Begriff der „Öffentlichkeit“ denn bedeuten solle. Er meint natürlich nichts anderes als die publizierte und publizistische Öffentlichkeit, die eine ist, die Warencharakter hat und  darum „Öffentlichkeit“ als absetzbare Öffentlichkeit versteht.

 

Der Interviewer sieht es als einen provokanten Eingang seines Interviews, daß  er in einer Fachzeitschrift , die im Institut des Interviewten aufliege, „einen Aufsatz über die Kurhessische Verfassung von 1831 gefunden“ habe. Es sei, will der Zeitungsmann damit sagen,  nichts aberwitziger und unwichtiger als ein derartiger Aufsatz, wobei er sich als typischer Journalist mit dem Rekurs auf das Thema des Aufsatzes begnügt, aber, da er ihn  natürlich nicht gelesen hat, nichts über den Aufsatz sagen kann. Nichtsdestoweniger kann er recht haben. Nicht alles, was in geisteswissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert wird, muß publiziert werden.  Aber daß   ein Interview mit diesem  Zweifel eröffnet  wird, dessen  Umgebung von so zentralen Themen mitbestimmt wird wie denen, daß der norwegischen Kronprinzessin Blumen überreicht wurden (mit Bild), daß „der Fettmarkttag mehrere Tausend Besucher“ in Warendorf anzog, daß (langer Bericht) „Fünflinge ‚wie sechs Richtige’“ sind (typisches journalistisches Relikt aus Jahrmarktsensationen), dass dem ‚Traumschiff’“ im Fernsehen die „Kreuzfahrt ins Glück“ folgt, daß der Papst wieder VW fährt, daß vier Seiten  dem Sport etwa unter der Überschrift „Kerpen hofft auf Hilfe von Schumi“ eingeräumt werden etc etc und täglich (außer sonntags): „Was bringt es mir, darüber etwas zu wissen?“ fragen wir mit dem Frager. Der leitet daraus  weitere Fragen ab. So könnten Kritiker fragen, ob man überhaupt Geisteswissenschaften brauche. Und ob die Geisteswissenschaften „in der Regel nur einen begrenzten Zuhörerkreis“ erreichten?Und ob „die Geisteswissenschaftler nicht noch stärker an die Öffentlichkeit gehen“ müßten? Und ob man „das eine oder andere Fach noch“ brauche, weil  sich bestimmte Themen „nur ganz schwer in der Öffentlichkeit vermitteln lassen“? Und was „mit [dem] Wissen“ sei, „das es partout nicht an die Öffentlichkeit schafft“? 

Die Geisteswissenschaften werden von einem Zeitungsanonymus als Unternehmen gesehen,  die den Medien  gegenüber sich so darzustellen haben, daß diese es als Leistungen, die die Öffentlichkeit wahrnimmt, akzeptieren.  Die Nazis verlangten, daß die Wissenschaften  der „Volksgemeinschaft“ sich verpflichtet fühlten. Viele Wissenschaftler haben das akzeptiert. Hier tritt das Medium als Repräsentant  der zur „Öffentlichkeit“ gemodelten „Volksgemeinschaft“auf.

Die Einsamkeit des Wissenschaftlers hatte Wilhelm von Humboldt für die von ihm konzipierte Universität gefordert, eine Universität im monarchistisch-preußischen Staat, die eine freie Universität war. Er hatte damit die Zeit der bedeutendsten Wissenschaftsnation  im 19. Jahrhundert eingeleitet.

Auch diese hat es, wie wir am Beispiel einiger Disziplinen zu zeigen versucht haben, nicht vermocht, sich gegenüber den Ideologien und den Nutzenspostulaten ihrer „Öffentlichkeit“ zu behaupten, ja sie ist in vielen Fällen bis hin zu einem Philosophen wie Heidegger zu deren Postulaten übergelaufen. 

Man kann sich, hoffe ich, einigermaßen vorstellen, was (und zwar nach dem noch präsenten Beispiel der Achtundsechziger) aus einer Geisteswissenschaft  würde, die sich dem Jargon und damit den Zwängen der „Öffentlichkeit“ ergäbe, deren Regeln die Medien setzten. Schon ein harmloses Interview mit einem stillen Kirchenhistoriker kann es lehren. 

   

(nach oben)

   

VON DER DEUTSCHEN VERGANGENHEIT

   

   

Reflex  und Reflexion der Jugendbewegung und ihrer Literatur in Kempowskis kollektivem Tagebuch „Das Echolot“

(Vortrag, gehalten im Archiv der Deutschen Jugendbewegung, Jugendburg Ludwigstein,  am 24.Oktober 1999, wiederholt in der Freitagsgesellschaft an der Universität Münster am 26.Januar 2001 und im Ambassador-Club Münster am 14. März 2002. )

   

Walter Kempowskis Stimmen-Anthologie „Das Echolot“, 1993 erschienen, ist nicht einfach das Zeugnis eines außerordentlichen Sammlerfleißes, sondern vielmehr die Dokumentation, nein die Rekonstruktion eines Zeitbewußtseins, das sich aus einer Fülle individueller Bewußtseine herstellt. Dieses Zeitbewußtsein ist im engeren Sinne das der zwei Monate vor und nach dem Ende von Stalingrad, also Januar und Februar 1943. Es ist aber zugleich das einer Kriegsepoche als der Epoche des Zweiten Weltkriegs wie auch als der Epoche der Kriege und Katastrophen, die v.a. das 20. Jahrhundert ausmachen. Die Selbstdarstellung der Bewußtseine in den Texten - Autobiographien, Tagebüchern, Briefen vor allem - und Alltagsfotografien wie ihre Darstellung und Synthese durch die Auswahl und Komposition des Rekonstrukteurs Kempowski ist eine ungewöhnliche Leistung, weil sie in einer Makro-Momentaufnahme - vier Bände - aus Mikro-Text- und Bildelementen eine Zeitfluktuation fixiert, die sonst in Impression und Empfindung die verlorene Zeit nur als eine flüchtige vermittelt. Die Synthese, von der ich sprach, ist natürlich keine harmonisierende, sondern die einer Zusammengehörigkeit des Gegensätzlichsten, Widersprüchlichsten und Paradoxen und zugleich einander schrecklich ähnlichen. 

Kempowski hat auch Stimmen ausländischer Repräsentanten, nämlich Politiker, Militärs, Schriftsteller, einbezogen, aber der Hauptakzent der Sammlung liegt doch auf den Stimmen deutscher Zeitgenossen nicht nur, sondern insbesondere solcher aus den Bereichen des Alltäglichen, nämlich junger Frauen, Hausfrauen, einfacher Soldaten, Linienoffiziere, alter Männer u.s.f. So wird das Abgesunkene, Vergessene, Private erinnert, das sonst nie über den Bereich der Familie oder des Freundeskreises hinaus wirkt. Das hat nichts mit der Suche nach Ursprünglichem zu tun, als das manchmal die Alltagsgeschichte mißverstanden wird. Vielmehr wird darin die breite Sedimentierung, die Ablagerung von Metamorphosen aus den Schriften, Gedanken, Tendenzen einer Epoche kenntlich, die in der Flüchtigkeit der Alltagsrede nur zu rasch wieder verschwindet. Die Bände Kempowskis machen es nun möglich, diese Zeitbewußtseinsströme zu kanalisieren und in ihren Elementen erscheinen zu lassen.

Doch ist es von vornherein kein Gesamtheitliches, was uns vorgestellt wird, sondern das hochsensible Gechichtsdetail der Stalingrad-Katastrophe bzw. ihres Reflexes und ihrer Reflexion in den Köpfen und Herzen der vielen. Wir wissen oder ahnen doch, daß Stalingrad als dieses Geschichtsdetail, aber auch Geschichtssignal eine traumatische Qualität in der Geschichte Deutschlands hat. Das Traumatische begegnet quasi unmittelbar bei den an den Kämpfen Beteiligten, ihren Kindern, Frauen, Eltern und Freunden, aber es begegnet auch bei potentiell allen Angehörigen der damaligen Kriegsgenerationen zwischen Kindheit und Alter, ja es begegnet mittelbar auch bei den Nachgeborenen in der diffusen Ablehnung des Krieges, der der moderne Massenkrieg seit dem Ersten Weltkrieg ist und der in Stalingrad realiter und metaphorisch kulminiert. Mögen die beiden Atomkriegssignale von Hiroshima und Nagasaki die Menschheitskatastrophe avisiert haben, so ließen sie den Schrecken doch auch abstrakt werden, der in Stalingrad noch einmal konkret war und sich gleichzeitig schon in Richtung auf Unvorstellbarkeit hin überschlug.

Wie aber begegnete dem das Bewußtsein der Gleichzeitigen ? Wir kennen die Rhetorik der Granden des Nazireichs, die aus den Versatzstücken heroischer Stile und den drastischen Exklamationen des Kerls komponiert ist und vor allem in den Stalingrad-Reden von Göring und Goebbels erscheint. Die Texte des Alltags sind davon nicht immer, aber doch zum größeren Teil entfernt. Doch wäre es ganz falsch anzunehmen, man könne darin unmittelbar dem Volk aufs Maul schauen, vielmehr begegnen wir von der unreflektierten bis zur reflektiertesten Artikulation Sprechtraditionen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen.

Wenn wir im folgenden nach den Reflexen von Jugendbewegung und ihrer Literatur in diesen Texten fragen, so ist zuvor an einige Basissätze der Jugendbewegung selbst zu erinnern, wie sie etwa in den Reden auf dem Hohen Meißner 1913 formuliert wurden. Aus ihnen ging die Formel hervor, die Knud Ahlborn in seiner Feuerrede als verbindlichen Grundsatz zitierte. Die „Freideutsche Jugend“ suche „nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortlichkeit, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten und für diese innere Freiheit unter allen Umständen geschlossen einzustehen“. Unüberhörbar sind die erratischen Substantiv-Adjektiv-Verbindungen: ‘eigene Bestimmung, eigene Verantwortlichkeit, innere Wahrhaftigkeit, innere Freiheit’ und die Bezugsgröße ‘Lebensgestaltung’. Dabei fällt das leicht Tautologische von ‘eigener Bestimmung’ und ‘eigener Verantwortlichkeit’ ebenso auf wie die Synonymisierung von ‘innerer Wahrhaftigkeit’ und ‘innerer Freiheit’. Freilich könnte die ‘innere Freiheit’ auch Selbstbestimmung, Selbstverantwortlichkeit und ‘innere Wahrhaftigkeit’ implizieren. Aber es gehört wohl zu solchen Formeln, daß sie in ihrer Begrifflichkeit und in der Verbindung der Begriffe mehr oder minder diffus bleiben. Hinzu tritt der Bezug zum ‘Leben’, und zwar zum individuellen Leben, das durch jene vier Begriffe wesentlich geprägt, ja konstituiert werden, daß ‘gestaltet’ werden soll, wie die Formel sagt. Schließlich scheint die Diffusität präzisiert zu werden durch die Präpositionen ‘nach, vor, in’ Jedenfalls finden sich die zentralen Begriffe oder Worte der Formel in den Reden wieder. Ahlborn spricht vom „Streben nach Wahrhaftigkeit“, „Gefühl der Verantwortung gegen sich selbst“ vom „Leben“, von „Selbstbestimmung“(S. 32 f)., Gustav Wyneken  in seiner Schlußrede vom „Gewissen“(S.43), von „strengster Wahrheit“, von „eigener innerer Disziplin“(S.46). Auch werden außerdem die Bereiche benannt, in denen sich jene Begriffe realisieren sollen. Bei Ahlborn sind es das „große Erlebnis“, die „Tat“, „das Leben in und mit der Natur“, „das Gesunde und Echte“(S.32 f), bei Wyneken sind es das „Vaterland“, die „stillen Berge“(S. 40) die „Stimme der Gerechtigkeit und der Schönheit“, die „Weltgeschichte“(S.43 f), der „Zusammenschluß der Menschen zu geistiger Tat und sittlichem Siege“, „Arbeit“ und „Kampf“(S.46). Ihnen wird bei Ahlborn „entseelter und entseelender Genuß“(S..33), bei Wyneken der „Trubel der Städte“(S.40), die „Schreckensherrschaft der Phrase“(S.42) entgegengestellt. Und Wyneken bezeichnet als „das Höchste, was der Mensch erlangen kann“ und was die Lebensgestaltung spezifiziert: „ein[en] heroische[n] Lebenslauf“(S.44).

Wir hören in diesem Vokabular Postulate, aber so gut wie keine Analyse. Man mag sagen, die könne auch im Genus der Rede nicht erwartet werden. Aber andererseits - und das macht das Problem der Reden aus - stehen die zentralen Vokabeln dieser Postulate nicht oder nicht mehr in einem Traditionszusammenhang, der ihre Deutung vorgäbe oder doch erläuterte. Ja, die Redner bestehen natürlich gerade darauf, daß es diese Vorgegebenheit, die Konventionalisierung bedeutete, nicht gibt. Das aber heißt, daß jeder Hörer die Postulate nach eigenem Verständnisvermögen rezipieren soll, will sagen: die zentralen Vokabeln interpretieren muß. Das ist eine der typischen Situationen der Moderne. Nahezu jede Vokabel kann ganz verschiedene Kontexte herstellen und diese Kontexte können sich auf das unterschiedlichste auswirken. Während die allermeisten dieser Vokabeln einen Bedeutungshof haben, der denen der meisten anderen zunächst affin ist, wobei diese Gesamtaffinität aber wiederum in völlig unterschiedliche, ja gegensätzliche Bedeutungsrichtungen tendieren kann, fällt eine Wendung bei Wyneken auf, die keine Affinität zu den anderen Vokabeln bzw. ihren Bedeutungshöfen hat, nämlich „die Schreckensherrschaft der Phrase“(S.42). Schon vorher hatte Wyneken von der „Phrasenuniform“(S.40) gesprochen, was natürlich in Richtung auf die nationalen Vokabeln gesagt ist. Wyneken spürt sehr deutlich die Gefahr, daß eine Begriffserratik immer schon so phrasenhaft wie herrschaftlich sich auswirken kann. So sagt er seinen Zuhörern: „Wenn ihr aber nur auf Worte eingestellt seid, wenn nur die bekannten Redewendungen euch zu raschem Beifall reizen, so werdet ihr an mir vorbeihören“(S.40). Die „bekannten Redewendungen“ sind natürlich die Phrasen, vor denen er warnt. Aber was schützt davor, daß die zentralen Vokabeln der Jugendbewegung ebenso „bekannte Redewendungen“ werden? Wyneken empfiehlt, sich nicht nur auf „Worte“ einzustellen. Doch identifiziert er damit gerade „bekannte Redewendungen“, Phrasen mit den „Worten“ überhaupt, was die höchst bedenkliche Alternative der „Tat“ heraufruft. Also auch an dieser Stelle, die zunächst eine erstaunliche Reflexion auf analyseferne Postulate anzeigt, wird diese Reflexion abgebrochen zugunsten der Behauptung, die Hörer hörten nur richtig, wenn sie nicht oder nicht nur „auf Worte eingestellt“ seien, obwohl er selbst  seinen Zuhörern eben Worte - was auch anderes - bietet. 

Wenn Walter Benjamin sich im März 1915 von Wyneken lossagt, so wegen dessen Schrift „Krieg und Jugend“, in der Benjamin das Signal für die ‘Erblindung’ der Theoria in Wyneken sieht. D.h. Benjamin erfährt, daß die Entscheidung Wynekens für den Krieg nicht nur Verrat an dessen bisheriger Haltung ist, sondern vielmehr die Abwendung von der Theoria als dem erkennenden Wort2).

Damit sind wir bei der Frage, wie sich die Jugendbewegung 30 Jahre nach dem Treffen auf dem Hohen Meißner und nach der Entscheidung wichtiger Repräsentanten der Bewegung für den Krieg als eine Tendenz des Zeitbewußtseins noch greifen läßt. Die ist nicht identisch mit der Frage, wie sich führende Angehörige der Jugendbewegung explizit zu ihr äußern. Vielmehr geht es nun um einige bei Kempowski versammelte Texte. Sie sind in unserem Zusammenhang daraufhin zu betrachten, ob und in welchen Zusammenhängen in ihnen gewissermaßen Residuen des ‘Geistes’ der Jugendbewegung aufbewahrt sind. 

Wir sind dabei, soweit nicht ausdrücklich auf die Jugendbewegung Bezug genommen wird, angewiesen auf begründete Vermutungen, wobei gerade das subkutane Weiterwirken von Vorstellungen der Jugendbewegung interessant ist. Die Strukturen der Textkomposition Kempowskis  müssen bei unserer Betrachtung notwendig in den Hintergrund treten3)

Wir beginnen mit Hinweisen auf einen jungen Maler, bei dem uns aber nicht so sehr das unverkennbar ‘Malerische’ in seinen Texten beschäftigen soll, sondern die Artikulation seiner Vorstellungen wie auch seine Lektüre-Hinweise. Der 1945 gefallene Maler und Lehrer Klaus-Andreas Moering ist 1943 28 Jahre alt. Er ist Soldat in einer Stellung bei Woronesch, über 500 km Luftlinie südöstlich von Moskau und etwa ebensoweit nordwestlich von Stalingrad. Die Briefe an seine Frau enthalten viele Landschafts- und Situationsdarstellungen. In dem ersten bei Kempowski abgedruckten heißt es: „Schön, wenn ein Reiter mit fliegendem Mantel, Pelzmütze und so weiter durch den weiten Schnee reitet, oder eine ganze Gruppe.“(I, 377) Wie dann immer wieder sucht Moering inmitten des Krieges, inmitten eines harten Winters die Schönheit der russischen Landschaft zu erfassen. Die Wahrnehmung dient zunächst der Bewahrung der eigenen Existenz unter der Belastung von Krieg und Winter. Sie wird gesucht mittels einer ästhetischen Perspektive, die in den folgenden Briefen häufig benutzt wird.

 

Trotzdem ich aber seit gestern früh um 5 Uhr auf bin, war der Weg doch schön, besonders als der Himmel aufging - ein schöner, klarer, eisiger Tag - das Land, im Sommer sicher triste, hat im Winter seine Reife -etwas bergig - auf große Strecken bewegt, zart in seiner Zeichnung: verreifte Wiesenunkräuter, Weiden in den Schluchten, Schneedächer, der Hauptbestandteil der Häuser, die sich kilometerlang zu einem Dorf hinziehen, jedes mit seinem hellen Rauch. Eine Gruppe Frauen, die Stroh dengelt, die Panjepferdchen mit ihren dicken Winterfellchen, Schlitten - neulich machte ich so eine Schlittenfahrt mit - sportlich elegant. In den Panjehäusern - nicht gerade zivilisiert - aber interessant, oft sehr reizvolle Jungengesichter. Besonders der Ofen, der Hauptteil des Zimmers - zum Schlafen, zum Backen, zu allem, ist ein prima Möbel. (I, 706)

 

Die Betonung der Schönheit des winterlichen Tages geht einher mit der Wertung des Winters gegenüber dem Sommer, eine Kompensation der schrecklichen Wintererfahrungen, die zur gleichen Zeit die Soldaten in Stalingrad besonders intensiv machten. Hinzu kommt eine Impression des Dorfs und des Dorflebens. Spätestens hier wird die Beziehung zu literarischen Texten deutlich, etwa zu den auf Rußland bezogenen Rilkes. Im „Stunden-Buch“ heißt es z.B.:

 

 

In diesem Dorfe steht das letzte Haus

so einsam wie das letzte Haus der Welt.

 

Die Straße, die das kleine Dorf nicht hält, 

geht langsam weiter in die Nacht hinaus.

           

Das kleine Dorf ist nur ein Übergang

zwischen zwei Welten, ahnungsvoll und bang,

...4)

 

Literarisch bezieht  sich Moering ausdrücklich auf den „Don Quijote“, der „wundervoll“ sei (I, 428), an anderer Stelle auf Hölderlins „An die Freiheit“. Aus dessen Tübinger Zeit stammt die „Hymne an die Freiheit“, die wohl gemeint ist. Deren letzte Strophe lautet:

Lange schon vom engen Haus umschlossen, 

Schlummre dann im Frieden mein Gebein! -

Hab ich doch der Hoffnung Kelch genossen, 

Mich gelabt am holden Dämmerschein!

Ha! und dort in wolkenloser Ferne, 

Winkt auch mir der Freiheit heilig Ziel!

Dort, mit euch, ihr königlichen Sterne,

Klinge festlicher mein Saitenspiel! 5)

   

  (nach oben)

   

Der Ton Schillers ist in diesen Hymnen noch unverkennbar. Die letzte Strophe, schreibt Moering an seine Frau, „hat mir viel Stärke gegeben in den Tagen mancher Ungewißheit“ (IV, 276).

Wenn man nur dieses wenige zusammennimmt: die Darstellung der russischen Winterlandschaft und des russischen Dorfs, die Rilke-Reminiszenzen, die „Don Quijote“-Lektüre, das Zitat Hölderlins  mit den Kernworten ‘Hoffnung, wolkenlose Ferne, Freiheit, königliche Sterne’, so ist es wohl nicht verfehlt, wenn schon nicht von einem Angehörigen der Jugendbewegung - er ist 1933 ja erst 18 Jahre alt - zu sprechen, so doch von jemandem, in dem sich einige für die Jugendbewegung bestimnende Elemente ähnlich wiederfinden und ähnlich bündeln.

Einen zweiten Komplex sehen wir in einer Gruppe von Briefen an Autoren, insbesondere an Manfred Hausmann, dessen Bücher „Lampioon“ und „Abel mit der Mundharmonika“ gegen Ende der Jugendbewegung breit rezipiert wurden. Dabei wird 1943 in Hausmann ein Schriftsteller angesprochen, der eine christliche Wendung vollzogen hat, der aber doch noch als Dichter der Jugendbewegung oder der Jugend angesprochen wird.

Ein Brief aus Frankreich vom 12. Januar 1943 bezieht sich zunächst auf Hausmanns „Brief eines Vaters an seinen Sohn im Felde“6), in dem Hausmann u. a. ein Lob der Märchen sagt. Der Briefverfasser Helmut W. hat daraufhin nicht etwa die Grimmschen Volksmärchen, sondern die späten literarischen Märchen Richard Volkmann-Leanders wieder gelesen, ein „einfache[s] Buch“, wie er schreibt, das er „nach dem nüchternen Dienst“ gelesen hat und das ihm „noch aus den Kindertagen lebendig ist“. Er rühmt deren „Zartheit“ und „Überwirklichkeit“, die „romantische Stimmung“(I,528) erweckten. Sehr deutlich begegnen sich hier die Neigung der Jugendbewegung zum Märchen, die freilich vor allem das Volksmärchen meint, und der entwicklungspsychologische Wunsch, in die Kindheit zurückzukehren angesichts der soldatischen Situation. Diese zunächst sehr einfache Konstellation zeigt doch eine Affinität zwischen dem Autorinteresse am Märchen, der ‘Märchenbewegung’ als einem Moment der Jugendbewegung und der sehr privaten Neigung, sich mittels des Märchens dem Bereich der militärischen Ordnung und Disziplinierung zu entziehen, eine Affinität von Fluchtbewegungen ins unterschiedlich verstandene ‘Kinderland’. Eine solche Flucht wird gerade bei mittleren Autoren wie auch in der Jugendbewegung evoziert und von einem Publikum bestätigt, das angesichts der beiden Weltkriegs-, der Wirtschafts- und Arbeitslosigkeitskatastrophen  nicht mehr aus noch ein weiß. Dabei wird der Fluchtreflex, der ja nicht nur auf das Naive, sondern auch auf das Einfache tendiert, im immer Trivialeren ausgelebt, wie die Angebote des Fernsehens es paradigmatisch zeigen, so daß „Märchen“ zu einem der verhunztesten Begriffe im Alltagsgebrauch geworden ist.

Von einem „Transport nach Rußland“ schreibt Kurt W. am 10. Februar 1943 an Manfred Hausmann, daß „das Dunkel immer dichter“ werde. Hier scheint nicht mehr von Flucht die Rede zu sein, doch auch er spricht von einer „Insel“, einem „Reich“, „das uns Frieden und Ruhe“ gibt. Aber, fährt er fort, „wir sind ausgesetzt auf den „Hügeln [recte „Bergen“] des Herzens“7). Texte von dieser und für diese „Insel“ sind ihm offenbar Lyrica von Hausmann, er nennt ein Reiterlied und das „Reh“8) und deren Vertonungen durch einen Kameraden. Daneben aber werden ausdrücklich die „wenigen Tage“ in Worpswede als „Insel“ bezeichnet, an die das „Rilke-Gedenkbuch“ „Stimmen der Freunde“ ihn erinnere(III, 531). Die Flucht sublimiert sich gewissermaßen, das „Dunkel“ wird aber nicht mehr verdrängt, sondern ausdrücklich genannt. Und an die Stelle des Märchens treten Lyrik und „Worpswede“, nicht nur als Wohnort Hausmanns, vielmehr auch als kleiner, mit dem Namen Rilkes verbundener Mythos. Der Briefverfasser ist offensichtlich vertraut mit der Literatur, worauf auch das Zitat Rilkes hinweist. Aber es scheint ein ganz bestimmter Ausschnitt der Literatur zu sein, in dem qualitativ sehr Verschiedenes, hier Rilke und Hausmann nebeneinander stehen. Diese Rezeptionshaltung, die mehr an Thematischem als an der poetischen Bedeutung orientiert ist, kann vielleicht als Hinweis auf die Jugendbewegung und ihr Verhältnis zur Literatur gelesen werden, und zwar darum, weil ja auch bei ihr die jugendaffine Thematik in der Literatur häufig als solche wichtig war. Auch ist interessant, daß neben die bedeutenden Lyriker der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, also George und Rilke, eben Autoren wie Hausmann oder Weinheber gestellt werden, während die heute zentralen Schriftsteller der deutschen Moderne Kafka, Musil, Brecht und Benn offensichtlich gar nicht bekannt sind, obwohl sie ja bis 1933 und zum Teil noch danach gedruckt wurden. Selbst der schon damals sehr verbreitete Thomas Mann taucht in unseren Kontexten nicht auf. Keiner von ihnen ist wohl, und zwar wieder aus thematischen Gründen, für die Jugendbewegung interessant gewesen.

In einem weiteren Brief an Hausmann, der am 18. Januar 1943 datiert ist, stellt ein Will N. den Zusammenhang zwischen der genannten Literatur und der Jugendbewegung explizit her. Er kritisiert zunächst die Ablehnung von „Lampion“[!], „Salut gen Himmel“ und insbesondere von „Abel“ als eine von „gewisse[n] Bürokraten und Spießbürger[n]“ und bezieht diese Ablehnung alsbald auf eine offizielle Haltung, die nämlich in der Lage ist, „den Dichtern, die wir in der Zeit der Jugendbewegung so sehr liebten, heute so viele Schwierigkeiten“ zu machen (II, 12). Als weitere Namen nennt er Wiechert und Hesse. Und er fragt rhetorisch und emphatisch: „Sollte es denn wirklich sein, daß alle Dichter, die uns Führer und Wegbereiter waren in den Zeiten der Jugendbewegung und der bündischen Jugend[,] heute totgeschwiegen werden?“(II, 12 f) Er versichert Hausmann dann, daß eine „Mauer“ von „Liebe und Vertrauen“, die Wiechert in einem Aufsatz apostrophiert habe, wie um diesen so auch um „Hausmann und Hesse stehen“ werde „und um alle[,] die uns lieb waren. Das Schöne und Gute kann doch niemals untergehen.“(II, 13) Die Beglaubigung der genannten Autoren und anderer geht also aus deren Stellung in der Jugendbewegung hervor, in der sie als Repräsentanten des „Schönen und Guten“ als des platonischen Begriffspaars galten. Die starke Durchdringung der Jugendbewegung durch Literatur ist in diesem Brief ganz deutlich greifbar.Zugleich wirft er aber die Frage auf, was das für eine Literatur und für eine Literaturrezeption war.

Daß es bei letzterer sowohl um eine thematisch-ideologische wie um eine privat-existentielle Rezeption ging, zeigt der Brief im weiteren. Hausmann hatte den Schreiber offenbar nach seinem „Worpsweder Hirtenspiel“ gefragt. Der antwortet, es habe ihn „tief ergriffen“(II, 13), aber diese Bemerkung ist wahrscheinlich doch mehr eine Pflichtübung gegenüber dem verehrten Dichter der Jugendbewegung, der Hausmann in dem Hirtenspiel aber gar nicht mehr ist. Der Briefschreiber bekennt hingegen, gerade der Eintritt in die Jugendbewegung mit 18 Jahren habe die jahrelangen religiösen Kämpfe in ihm beendet. Er habe erkannt, daß es nicht darum gehe, nach der Lehre der Kirche Gott zu suchen und zu finden, sondern um die Erkenntnis, „daß Gott in uns ist“ (II, 13). Es vollzieht sich also eine Trennung zwischen dem gegenwärtigen christlichen Autor Hausmann und dem Briefschreiber, die aber eigentlich gar nicht literarischer, sondern ideologischer Art ist und  auch die Rezeption der älteren Arbeiten Hausmanns als ideologisch bestimmte annonciert. 

Schließlich ‘beichtet’ der Briefschreiber Hausmann das Liebeserlebnis mit einer verheirateten Frau. Der habe er zum Abschied Hausmanns Gedichtband „Alte Musik“ geschenkt. „Können Sie verstehen, daß so ein Buch einem heilig ist?“(II, 15) Auch hier stoßen wir nicht auf die literarische Rezeption von Lyrik, sondern auf eine, durch die sich ein Leben oder eine Station des Lebens ihrer selbst versichert. Das scheint mir eine Haltung zu sein, die für die Jugendbewegung, ja für die Zeit zwischen den Kriegen überhaupt sehr kennzeichnend ist. Sie hat nicht zu einer Schärfung des literarischen Bewußtseins beigetragen, sondern hat auf einer ‘Lebensnähe’ der Literatur insistiert, die in der Bestätigung des eigenen Lebens, genauer: der Bestätigung der Meinung, ein eigenes Leben zu führen, gesehen wurde. Die Verbindung zu den Reden auf dem Hohen Meißner stellt sich darin her, daß die dort postulierten Vokabeln als Begriffe bei Autoren gesucht und gefunden wurden, woraus deren Bedeutung für die jungen Leser hervorging.

Eine solche an Vokabeln und Vorstellungen intuitiv orientierte Rezeption von Literatur hat sicher auch zu Affinitäten geführt, die vielfach später in Frage gestellt worden sind. Das hat sehr wenig zu tun mit der jeweiligen expliziten politischen Haltung der verehrten Autoren. Zumindest Wiechert und Hesse waren klare Gegner des Nazismus, Hausmann stand ihnen gewiß nicht nah. Das Problem ist vielmehr, daß durch blockhafte, erratische Begriffe, die gleichzeitig fast ganz der kritischen Reflexion entzogen waren, die Vorstellungen Jugendlicher geprägt wurden.

Nicht an Hausmann, sondern an Hans Grimm, den heute nahezu vergessenen Verfasser von „Volk ohne Raum“, wendet sich aus Berlin ein Helmuth M. Es wäre von vornherein ganz falsch, den nationalen oder nationalistischen Grimm als Nazi-Repräsentanten in unserem Kontext abzustempeln. Und es wäre ebenfalls falsch, dies mit dem Schreiber zu tun, wenngleich er sich deutlich und affirmativ auf die HJ und deren Reichsjugendführung bezieht und sich als ein „immer“ „begeisterter Führer in unserer Jugendorganisation schon von 1932“ bezeichnet. Aber er schreibt gleichzeitig, daß man in der Reichsjugendführung seine „Einstellung zum Christentum“ ablehne und „eine Lösung vom Biologischen her“ verlange, „die ich gern geben würde [trotz seiner Einstellung zum Christentum, Anm. Vf.], wenn sie nicht schon lange von dem von mir verehrten Kolbenheyer gefunden und ausgesagt wäre“(II, 292), der nun wieder keinesfalls klar der Linie des nazistischen Biologismus folgte. 

Aber die direkte Beziehung zwischen diesem Brief und dem letzten an Hausmann adressierten stellt eine Bemerkung zur schriftstellerischen Arbeit des Briefschreibers dar. Der führt sich bei Grimm als Verfasser einer Schrift „Spiel der Kräfte“ ein, hat sich aber bereits auf eine neue Arbeit konzentriert, „die das Werden der deutschen Jugendbewegung von 1813 bis heute zum Thema“ hat (II, 292). Sicher ist der Begriff der Jugendbewegung hier nicht unmittelbar identisch mit der historischen Jugendbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, was schon in der zeitlichen Bedeutungserweiterung sichtbar wird. Dennoch erscheint der Name nicht von ungefähr und selbst die historische Ausweitung läßt an die Beziehungen des Hohen-Meißner-Treffens zur Jahrhundertfeier der Völkerschlacht bei Leipzig denken.

In Arno Klönnes Buch „Jugend in Dritten Reich“ wird in dem Kapitel „Jugendbewegung und Nationalsozialismus“ die Frage von deren Affinität so zu beantworten versucht, daß die „bürgerliche deutsche Jugendbewegung“ „in ihren politischen Denkweisen oder Gefühlswelten überwiegend so weit in der Nähe des Nationalsozialismus“ stand, „daß sie sich 1933 als Teil der ‘nationalen Erhebung’ verstehen mußte.“ Das sei aber nur ein Symptom „einer allgemeinen politischen Fehlentwicklung des deutschen Bürgertums“ gewesen. Demgegenüber sei das „’autonome‘ Milieu jugendlichen Gruppenlebens...zumindest zum Teil widerstandsfähig auch gegenüber dem totalitären Zugriff der staatlichen Jugenderziehung im Fachismus“ geblieben“9). Abgesehen davon, daß dieses „autonome Gruppenleben“ während der Nazizeit doch wohl weniger seine Herkunft in der Jugendbewegung hatte, ist dies eine zwar verständliche, aber doch zu gängige sozialgeschichtliche Betrachtungsweise, die die tieferen Affinitäten (und Verschiedenheiten) nicht entdecken kann.

Im „Echolot“ gibt es einen längeren Abschnitt, ebenfalls überschrieben „Jugend im Dritten Reich“, verfaßt von Nicolaus Heutler, einem Rintelner Bürger, der aus der Nachkriegssicht und im ganzen politisch korrekt die eigenen Erfahrungen mit Jungvolk und Hitlerjugend beschreibt. So kritisch er durchweg den „Dienst“ in der HJ charakterisiert, so bleiben doch bestimmte Momente des Dienstes davon ausgenommen: z.B. die Geländespiele. Auch wird sehr nachdrücklich die Begeisterung für den eigenen Fähnleinführer erwähnt, „für den ich durchs Feuer gegangen wäre“ (IV, 165). Und es werden neben den spezifischen HJ-Liedern solche erwähnt, die in der Jugendbewegung umgingen. Das positiv Erinnerte weist jedenfalls in die Nähe der Tradition der Jugendbewegung. Und diese Erinnerungen haben eben sehr wenig mit „politischen Denkweisen oder Gefühlswelten“ zu tun, von denen Klönne spricht und die er bei der Jugendbewegung in der Nähe des Nazismus sah. 

Vielleicht hilft eine kurze Bemerkung in Heutlers Bericht für das Verständnis etwas weiter. Es heißt dort: „Großen Eindruck machten auf mich die NS-Filme, etwa „Die Kadetten“, in dem preußische Kadetten todesmutig eine überalterte Kleinfestung gegen Russen verteidigen...“(IV, 168) Das hat fürs erste noch nichts mit der Jugendbewegung zu tun, in der es meines Wissens nichts gab, was den Jugendfilmstunden der HJ entsprach. Doch es ist wichtig, daß einzig an dieser Stelle, sozusagen gegen die political correctness, ein als Naziinstrument benannter Film „großen Eindruck“ macht. Darin wird nämlich die Selbstverantwortlichkeit und selbständige Entscheidungsfähigkeit von Jugendlichen, allerdings unter dem Befehl eines Offiziers, gefeiert. Eben die aber führen wieder in die Nähe der Jugendbewegung. Der Film hat bei seinem Rezipienten eine ähnliche Funktion wie dort die Literatur: Er bietet (scheinbare) Konkretisierungen der postulativen Begriffe und Vokabeln in deren programmatischen Reden und Schriften.

Abschließend soll ein dritter Komplex, ein ideologisch tendierender nämlich, zur Sprache kommen, der durch eine Sequenz von zehn Tagebucheintragungen des damals 49jährigen Martin Rahlenbeck repräsentiert wird. Von ihm wissen wir nicht mehr, als daß er nach dem Krieg als Kurdirektor tätig war und 1953 starb. Ob es bei ihm eine Verbindung zur Jugendbewegung gegeben hat, ist mir nicht bekannt, er war 1913, zur Zeit des Hohen-Meißner-Treffens, 19 Jahre. Seine Tagebuchnotizen schrieb er in der ukrainischen Stadt Shitomir, wo er , soweit wir das aus den Eintragungen erkennen können, eine höhere Verwaltungsfunktion hatte, und zwar in „brauner Uniform“(IV, 277), also als sog. Politischer Leiter oder als SA-Führer. Seine Aufzeichnungen figurieren als „Ukrainisches Tagebuch“ und präsentieren sich durchaus als literarisches Produkt. Das wird sofort im Stil, aber auch in der Allgemeinheit der Ausführungen deutlich. Rahlenbeck ist derjenige unter unseren Autoren, der dem damaligen Regime am nächsten steht, der sich aber von den üblichen Funktionären durchaus unterscheiden will. Gleich in der ersten Eintragung vom 3. Januar 1943 versammelt sich ein kennzeichnendes Vokabular: ‘Leben, Idealismus, Tat, heroische Zeit, Zucht [im Sinne von Selbstzucht], Gesetz, Wort vs. Tat, Beispiel, Gewordene aus Eigenem, Selbsterziehung, Führernaturen, Genügsamkeit und Einfachheit, Pflicht’. Es ist nicht schwer, einen erheblichen Teil dieses Vokabulars in Äußerungen der Jugendbewegung zu finden. Auch für die kritischen Vokabeln gilt das: ‘Triebe, Brunst nach dem Weibe, Mitgelaufene, Unredlichkeit’(I,144). Es zeigt sich auch hier alsbald das Problem der Funktionalität dieser Vokabeln.

Ganz die Sprache der Innerlichkeit ist aus einem Abschnitt vom 10. Januar zu hören:

 

Ich liebe die stillen Abende und Nächte. Ich habe sie hier lieben gelernt. Kein Laut ist zu hören. Nur im Ofen knackt vielleicht ein brennender Scheit. Auch das Übertragungsgerät [das Radio] schweigt. Ich lausche nur der Melodie des Herzens. Brennend in mich versponnen warte ich darauf, daß die Seele selber anhebt zu klingen, und mühe mich dann, ihren Gesang zu deuten. Das sind die fruchtbarsten, diese stillsten Stunden.(I,433)

   

  (nach oben)

  

Auch das könnte aus der Prosa eines Schriftstellers stammen, der als Autor der Jugendbewegung gilt. Jedenfalls zeigt weder das Vokabular und schon gar nicht dieses Zitat an, daß Rahlenbeck ein Nazi war.

Wenig später, am 24. Januar, sucht er sehr Grundsätzliches zu formulieren. Ein Freund ist aus dem Urlaub zurückgekommen und hat nun die Empfindung, daß sie hier „an den Grenzen des Lebens leben“ Er spricht nun von „Urzustände[n] des Daseins“, die der Familie fernrücken, Die nennt er „Ordnungszelle“, ohne Zweifel eine Vokabel der LTI. Aber dann heißt es: „Wir sind ganz einfach Männer der Wildnis. Männer auf weiter Fahrt“. Und nun in ausdrücklicher Anspielung auf einen Zentralbereich der Jugendbewegung: „Was wir als Knaben ersehnten, wenn wir dem häuslichen Bereich entflohen und auf Wanderfahrt gingen, das ist nun Wirklichkeit:“ (II,333) Hier zeigt sich, wenn auch noch auf harmlose Weise, etwas von der Funktionalität der Vokabeln und Vorstellungen, die zweifellos auch für die Jugendbewegung wichtig waren. Aber das, „was wir als Knaben ersehnten“, „das ist nun Wirklichkeit“, nämlich bei den fünfzigjährigen Männern. Blieb in der Jugendbewegung noch unbeantwortet, was denn werde, wenn der Knabe, der Jugendliche Mann geworden sei, so soll hier als Antwort gelten, daß die knabenhafte Sehnsucht sich im Leben des älteren Mannes realisieren soll. Wir brauchen nicht auf die Problematik dieser Realisierung hinzuweisen, die ihre komische Seite in den lebenslang Jugendlichen mit kurzen Hosen zeigt. Die ernstere Seite ist die des Nichterwachsenwerdenwollens, die ja eines der großen Probleme der Gegenwartsgesellschaft ist. 

Und nun plötzlich, sozusagen in der Perspektive der Knabenhaftigkeit, gilt auch schon nicht mehr, was eben noch an ‘Zucht, Selbsterziehung, Genügsamkeit und Einfachheit’ gegolten hatte. Denn nun sind „Bett und Nahrung“ „wesentlich geworden“ und „die Jagd nach den kleinen Annehmlichkeiten des Daseins“; auch „der Kampf um Frauengunst“(II, 333), der eben noch als „Brunst nach dem Weibe“ denunziert wurde, ist plötzlich wichtig. Im kleinsten Bezirk, dem des Individuums, findet innerhalb von 14 Tagen ein Paradigmenwechsel statt, weil eine Vorstellung wie „Männer der Wildnis“ dazu die Möglichkeit gibt. Dann aber wird das Bauen der neuen Heimat beschworen, das „werdende Reich“, die Suche nach dem „wahre[n] Gesicht der Menschheit“. Aber in einem Atemzuge wird die Pilatusfrage gestellt, die Frage auch, „was gut und böse, was recht und schlecht“ sei, „Sitte und Gesetz“, „keusch und ...unrein“? Denn nun gilt: „Die Zeit zerbrach alles. Wir stehen vor dem Chaos der Trümmer.“(II, 334) Aber zwei Abschnitte vorher wollte er doch noch die „neue Heimat“ bauen, das „neue Reich“ suchen und das „wahre Gesicht der Menschheit“. Eine eigenartige Beliebigkeit im Umgang mit Begriffen und Vorstellungen breitet sich aus: „Untergang“ und das Fügen von „Stein zu Stein“(II, 334) im Abstand von zwei Zeilen. Das ist eher knabenhaftes als erwachsenes Denken. Und es verwundert nicht, daß plötzlich ein deutlich anderes Vokabular nach vorn drängt. Von „Quellen des Bluts“ ist die Rede, von „Tiefen der Volkheit“, von „Raum und Kampf um das Dasein“(II, 334). Der unreflektierte, bloß emphatische Umgang mit Vokabelgruppen produziert einen widersprüchlichen Eklektizismus, der rasch zum Phrasenhaften tendiert, vor dem schon Wyneken warnen wollte, der aber dabei die Sprache selbst verdächtig machte. Und Rahlenbeck holt sich abschließend in einem Zitat Rilkes10) die Bestätigung seines eigenen, ziemlich bodenlosen Denkens.

Am 28. Januar denkt er an Stalingrad und hält einen Redemonolog über das Befehlen des Großen, „Pflichterfüllung“, „Größe des Glaubens“, „Schwere des Opfergangs“, „verbissene Tapferkeit“, als wolle er Göring und Goebbels vorwegnehmen. Und er reiht sich endgültig in diese Rednergruppe ein, wenn er als Resultat des Vergleichs von Kampf im Westen und in Stalingrad weiß: „Aber wir damals, wir hatten kein Menschenvieh zum Gegner...“(II, 513). So schnell verwandelt sich die Innerlichkeit in Barbarei, nicht weil sie Innerlichkeit ist, sondern weil da jemand gedankenlos mit Vokabeln hantiert. Denn am 3. Februar hört Rahlenbeck ein „gehaltvolles Konzert“. Und der „Russe Kowalski“, der sechshundert Platten besitzt, hört mit seiner Frau zu: „Beide genießen schweigend die Töne.“(II, 544) Rahlenbeck kommt angesichts dieser Feststellungen gar nicht die Frage, was denn nun mit der Kategorie „Menschenvieh“ anzufangen sei.

Ohne zu merken, daß er selbst von seinem Reden betroffen sein könnte, notiert er am 22. Februar: „Wer aber das Wort für die Tat nimmt, sich selbst berauschend, wenn er zu der Menge redet, der ist unter den Verführern der verderblichsten einer.“(IV, 316) Nur weil er keine Gelegenheit hatte, zur Menge zu reden, war er vor seiner eigenen Verführerschaft geschützt. Die schlimme Dichotomie von Wort und Tat, die Dichotomie Fausts, erscheint auch bei ihm. Wenn bei dem, zu Anfang des Trauerspiels, die Variante nach dem Johannes-Evangelium gelten soll, daß am Anfang die Tat sei, so erweist sich die am Ende als das Graben des Grabs. In die historische Realität übersetzt sich diese Faustische Großmetapher auf dem Weg vom Hohen Meißner nach Stalingrad. Wyneken wollte, daß seine Zuhörer „Krieger des Lichts“11) werden. Aber sie und ihre Söhne wurden, gegen ihren Wunsch, aber wegen eines Bewußtseins, das Bewußtlosigkeit im Nachsprechen erratischer Vokabeln war, Krieger des Untergangs.

   

Anmerkungen

   

 1) Reden an die deutsche Jugend im zwanzigsten Jahrhundert. Hrsg. v. A. Weyer. Wuppertal-
     Barmen 1966.S.32

 2) Walter Benjamin, Briefe. Band 1. Hrsg. v. G. Scholem und Th.W. Adorno. Frankfurt M.1966.
     S.120 ff.

 3) Walter Kempowski, Das Echolot, ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943. Vier 

      Bände.München 1993. Im folgenden zitiert: Bandzahl, Seitenzahl.

 4) Rainer Maria Rilke, Werke in drei Bänden. Band 1. Frankfurt am Main 1966. S.79.

 5) Friedrich Hölderlin, Werke. Tübingen o.J. S.152.

 6) Der Briefverfasser gibt als Quelle nur an, er habe den Text in einer Illustrierten gelesen.
     Hausmann hat ihn offenbar nach dem Krieg nicht in eine seiner Essaysammlungen übernommen

  7) Rainer Maria Rilke, Werke in drei Bänden. Band 2. Frankfurt am Main 1966. S.94 f.

  8) Es handelt sich mit Sicherheit um die Gedichte „Die Reiter“ und „Das Reh“ aus dem Band
    „Jahre des  Lebens“(1938). In: M.H., Die Gedichte. Frankfurt am Main 1949 SS. 52 u. 59.

  9) Arno Klönne, Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner. München 1990.S.117.

10) „Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen-Seins, des in einer Erfahrung
      Bis-ans-Ende-gegangen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann.“(Rainer Maria Rilke,
      Briefe. Band 1.Wiesbaden 1950. S.171.Die Verbindung zu seinem Denken stellt R. dadurch her,
      daß er Kultur und „Welt- und Gottesanschauung“ auch als „Kunstding“ behauptet.

11) Reden...A.a.O. S.46. 

   

   

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VOM ISLAM

   

Wie der „Spiegel“ vom Islam redet

   

Herrn

Matthias Matussek

« Der Spiegel »

Redaktion Kultur

   

Brandstwiete 19

20457 Hamburg                                                      FAX 040/3007 2247

   

   

Das Haus des Krieges: Der Spiegel 38/2006

   

Sehr geehrter Herr Matussek,

   

wahrscheinlich haben Sie und die Ihren sich einige Mühe mit dem Papst-Islam-Artikel, den ich gerade gelesen habe, gegeben. Aber ein journalistisches Zehner-Team schafft dann doch nur eine Olla potrida, die als Ergebnis nicht mehr hat als eine Art  Bekenntnis : " Sünder sind wir alle ". Das ist ja wahr, aber auch nichtssagend.

Das Schlimme aber ist, daß Sie und die anderen neun, weil sie glauben, ganz schnell arbeiten zu müssen, immer das Entscheidende verfehlen.

S.72 heißt es z.B. die Muslime störe kaum, daß Allah sich widerspreche. Das ist aus Sicht des Islam schon eine sehr fragliche Behauptung.

Beispiel dafür soll sein – und nun kommen Suren-Zitate ohne Quellenangabe - , daß " einerseits " Allah die Rettung des Lebens eines einzigen Menschen als Rettung der Menschheit betrachte, " andererseits " er in Hinblick auf die " Ungläubigen " " barsch " die Tötung fordere.

Dann folgt, daß es derlei " Widersprüche " " zuhauf " auch in der Bibel gebe.

Hier ist alles ungenau.

Die immer wieder gern zitierte Surenstelle (5,32) über die Rettung eines Menschen als Rettung der Menschheit steht in einem ganz engen Kontext (es geht nämlich um die " Kinder Israel ") und ist die einzige derartige Stelle im ganzen Koran. Von den Tötungsgeboten, die an die " Gläubigen " gerichtet sind, gibt es dagegen eine ganze Anzahl, die zudem oft höchst drastisch formuliert sind.

Vor allem aber berücksichtigen Sie überhaupt nicht den Unterschied zwischen Koran und Bibel.

Während die Bibel " heilige " und " säkulare " Texte nebeneinander stellt; während sie (wie Ihr Moses-Beispiel) auch historische, meinetwegen auch "heilsgeschichtliche" Erzählungen enthält, die nur für die erzählte Zeit gelten; während wir ja seit 250 Jahren Bibelkritik im philologischen und im Bewertungssinn haben,ist der Koran nicht nur nach Ansicht von Fanatikern oder der Wahhabiten eine nicht allein verbindliche, sondern göttliche Botschaft, als welche er sich selbst auch eindeutig nennt.

Diese ganze Ähnlichkeitsthese, sowohl hinsichtlich der Lehre wie hinsichtlich der Defekte, ist unsinnig.

So muß ständig auf die " Sünden " des Christentums rekurriert werden, insbesondere auf die Kreuzzüge, um den Islam zu entlasten, und muß die Kunstfigur des Islamismus eingeführt werden, wenn es um den täglichen Terror von Muslimen geht. Dabei handelt es sich bei letzterem nicht um eine historische Verfehlung, abgesehen davon, daß sie höchst aktuell ist, sondern um etwas, das sich auf Gebote des Koran gegen die " Ungläubigen ", zu denen auch die " Leute der Schrift " gehören, beziehen kann.

Gegenüber stehen sich also " Westler ", die mit der Bibel völlig frei umgehen können, wenn sie sich überhaupt für sie interessieren, und Muslime, die an einen verbindlichen, ja " heiligen " Text gebunden sind, in dem jedes Wort überhistorisch ist und für alle Zeiten gilt.

Sie helfen durch Ihre Ungenauigkeiten und durch Verschweigen mit dazu, daß diese Gegensätze verwischt werden. Dazu kommt, daß der Koran  vorwiegend – im Gegensatz zur westlichen Kultur – die Verachtung des Diesseits als eines kurzen Augenblicks und statt der westlichen Friedensehnsucht den Kampf als Unterwerfung der " Ungläubigen " postuliert.

   

Mit freundlichen Grüßen,     

                                                                                                         

                                                                                                         

Helmut Arntzen

   

   

   

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P.S.(Das Zitat Benedikts XVI.  und der Journalist Smoltczyk). 

In Nummer 47/2006 des „Spiegel“ klärt Alexander Smoltczyk die Leser darüber auf, warum in dem Vortrag Benedikts XVI. in Regensburg am 12.9.06 ein islamfeindliches Zitat des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaiologos verwendet worden sei.

Das sei vor allem der fehlenden Medienpolitik des Vatikans zuzuschreiben: keiner sei dort wirklich kritisch befaßt mit dem, was der Papst sage. Obwohl dann auch der Wechsel in der Leitung des päpstlichen Presseamtes eine Rolle spielt, ist  dieses Argument, das freilich keineswegs das entscheidende des Artikels ist, hochinteressant. Denn es hebt bzw. senkt die Frage, die das Zitat aufwirft, nämlich ob Gewalt den Islam wesentlich bestimme, auf die medientaktische, wie deutlich ein Papst davon sprechen dürfe, insofern dieses Sprechen ja immer sofort von den Medien verbreitet werde, und zwar als „das Zehn-Sekunden-Soundbit und nicht [als] das fußnotengespickte Ganze einer Vorlesung“(122). In einer Mischung aus Arroganz (jeder hat zu respektieren, daß die Medien bzw. ihre Hallodris sagen, was immer gesagt wird) und antiaufklärerischer Schicksalsergebenheit (was, wann und wie die Medien bzw. ihre Hallodris von dem sagen, was gesagt wird, ist unbeeinflußbare Natur) wird damit postuliert, daß auch päpstliche Worte an dem sich zu orientieren haben, was Medien (also ihre Hallodris) daraus machen bzw. machen könnten.

Auf einer anderen Ebene ist es dann fast schon eine Kuriosität, wie die Medienvorlage ‚Papstvortrag’ mit dem Zentrum ‚Zitat des byzantinischen Kaisers’ zustande gekommen sei.Da ist die Doktorarbeit eines „libanesischen Immigranten“ in Frankreich, des „junge[n] Religionswissenschaftlers Théodore Adel Khoury“(112), in der dieser Text in größerem Zusammenhang veröffentlicht wurde. Der Professor sitze jetzt „in einem Mietshaus in Laer bei Münster“ und sei vom Papst in seiner Vorlesung viermal genannt worden. „Es ist eine Ehre. Théodore Khoury hätte gern darauf verzichtet.“(112) Der lese nun(als verstünde er die Welt nicht mehr) von all dem, was sich daraus entwickelt habe: brennende Kirchen im Westjordanland, Demonstranten in Indonesien, die „Kreuzigt den Papst“ rufen, Verbrennen einer Papstpuppe im Irak etc, etc. Beiläufig wird gesagt, daß K. den Koran übersetzt habe und mit Islamgelehrten zusammenarbeite. Wir kennen K. als langjähriges Mitglied unserer Freitagsgesellschaft und wissen, daß er sich unendlich um den christlich-islamischen Dialog bemüht hat. Es wäre interessant und wichtig, darüber etwas in diesem Zusammenhang zu hören. Aber davon kein Wort.

Statt dessen neben dem Tadel an der taktischen Unvollkommenheit der vatikanischen Pressepolitik, an der „Hilflosigkeit des Vatikans gegenüber der Gegenwart“ (die vom Journalisten Smoltczyk mit den Medien identifiziert wird) wieder einmal eine journalistische Olla potrida.

Da ist zunächst die richtige These, die allerdings als die eines Seminars in der päpstlichen Sommerresidenz behauptet wird (und damit schon wieder denunziatorische Züge bekommt), „daß es keine zentrale Autorität [im Islam] gebe und der Koran als Gotteswort gelte, nicht als von Gott inspiriertes Wort wie im modernen Christentum“(113). Das hätte nun für das Weitere von ganz entscheidender Bedeutung sein müssen. Als ich vor fast 25 Jahren in einem Gespräch mit einem literaturwissenschaftlichen ägyptischen Kollegen von großer Toleranz und Weltläufigkeit die Frage äußerte, wie es denn mit einer Analogie von Bibelkritik im Islam stehe, erhielt ich die denkwürdige Antwort: „Ich verstehe Ihre Frage nicht, Herr A., der Koran ist ein geoffenbarter Text“. Und in diesem Text stehen (in der Übersetzung von Max Henning) in den Suren 2,190 f; 4,104; 5,33; 8,12; 8,67; 9,5; 9,30; 9,111; 9,123; 33,61; 33,64 f; 35,7; 47,4; 47,8; 47,34; 98,6 mindestens 16 Aufforderungen und Bekenntnisse zur Gewalt, die von Allah (nach dem Verständnis des Islam) ausgehen. Darüber müßte gesprochen werden.

Smoltczyk schreibt aber über die „Ratzingersche Lust an der Provokation“ – das konstatiert ausgerechnet ein Journalist -, über die Sorge Kardinal Kaspers, daß das päpstliche Zitat Ärger geben könne, darüber, daß ein Papst lange nicht mehr „einen derart islamkritischen Satz zitiert“ habe, „ohne sich klar davon zu distanzieren“(120), über Reden anderer Journalisten, unter denen das Zitat „’Schmähungen des Papstes gegen den Koran lösen Tumulte aus’“(121), von einem „medialen Tsunami“(122), von einem ‚kreuzzügelnden Leitartikler’, der u.a. geschrieben hatte, es gehe „um den Kampf der Freiheit – vor allem der Gedankenfreiheit – gegen das gefangene, geknechtete, manipulierte Denken“(122) (solch eine These ist also nach Smoltczyk bereits „kreuzzügelnd“), davon, daß Benedikt von der „fundamentalen Bedeutung des Logos“ gesprochen habe(richtig), was ihn aber  veranlassen müsse, zu bedenken, daß „’am Anfang war das Wort’“ nicht nur bei Johannes stehe, sondern daß dies das „Grundgesetz des Skandalons“ (122)sei, also des journalistischen Sensationismus, das sich  ja im „Zehn-Sekunden-Sounbit“(122) vollzieht(grauenhaft).

Daß hier einiges durcheinander geht, fällt dem flotten Schreiber nicht auf.Daß er manches zum Anlaß deutlicher Selbstkritik nehmen müßte, fällt ihm nicht ein oder er drückt sich davor (wie vor kurzem seine Kollegin Gisela Friedrichsen in der Sendung „Hart, aber fair“). 

Überhaupt ist es ihm in diesem Zusammenhang kein Problem, daß spätestens seit dem 11.September 2001 immer wieder Gruppen von Muslimen im Namen des Islam massiv Gewalt ausüben, worüber von fortschrittlichen westlichen Journalisten oftmals nichts anderes gesagt wird, als daß es auch die Kreuzzüge gegeben habe, oder von dem etwas sublimeren Alexander Smoltczyk mit dem Hinweis hinweggegangen wird, daß 38 Islam-Gelehrte, darunter „ein Ajatollah, der Großmufti von Ägypten (gibt es den?) und Würdenträger aus Rußland, Bosnien, Istanbul und Oman“, in  einem Schreiben an den Papst sagen, daß „Dschihad“ auch „Anstrengung auf dem Weg Gottes“ bedeute, obwohl doch sehr viele andere Muslime (es gibt keine „zentrale Autorität“) den Begriff anders verstehen, was durch Koranverse gedeckt wird, mit deren Gewaltaspekten sich diese Gelehrten aber nicht auseinandersetzen, wohl aber behaupten, daß es „einen Gleichklang zwischen den Wahrheiten der koranischen Offenbarung und den Fragen der menschlichen Intelligenz“ gebe. Was Alexander Smoltczyk freut, der nun gar nicht mehr danach fragt, ob „Fragen der menschlichen Intelligenz“(122) auch die Ablehnung von Gewalt einzuschließen hätten. Er sieht vielmehr, daß ein „menschlicher Irrtum“, der natürlich der des Papstes und des Vatikans ist, „durchaus einem Zweck dient“(122), wenn er auch verschweigt, welcher Zweck denn das wohl sei.

    

    

Dialog mit dem Abgeordneten Volker Beck 24.9.06

   

 

 

Sehr geehrter Herr Abgeordneter,

   

laut "Netzeitung" werfen Sie dem Papst "Geschichtsblindheit" vor, offenbar, weil er einen byzantinischen Kaiser zitiert hat, der seinerseits dem Islam Gewaltbereitschaft vorwarf.

Sie sprechen davon, daß die drei großen (Schrift-) Religionen  „sich die Akzeptanz von Religionsfreiheit und Pluralismus erst erarbeiten" müßten, sollten aber dabei wissen, daß nach dem Koran vom Islam weder beides erarbeitet werden kann noch darf und daß, was die Apostrophierung von Gewalt angeht, nicht der Papst, wohl aber Leute wie Sie „geschichtsblind" und angesichts von täglichen Terror-Anschlägen durch sogenannte Islamisten von Appeasement-Vorstellungen bestimmt sind,, als kennten wir die nicht seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wo sie eine Weile Adolf Hitler zugute kamen.

Mit dem wollen Sie natürlich nichts zu tun haben, aber Sie begeben sich mit solchen Distanzierungen in den Dunstkreis seiner damaligen Adlaten.

   

Mit freundlichen Grüßen :Prof:Dr. Helmut Arntzen

 
 
   

27.9.06

   

Sehr geehrter Herr Arntzen,

Sie haben kürzlich Herrn Becks Äußerungen zum Vortrag des Papstes in Regensburg kritisiert. Herr Beck hat mich gebeten Ihnen zu antworten.

Herr Beck hat die Äußerungen des Papstes in Regensburg über den Islam und dessen Verhältnis zur Gewalt als „merkwürdig einseitig und geschichtsblind“ bezeichnet, da der Papst in seiner Rede allein anhand des Beispiels Islam seine (im übrigen richtige) These untermauern wollte, dass Gewalt als Mittel zur Durchsetzung religiöser Ziele niemals statthaft sein kann. Volker Beck sagte dazu wörtlich: „Alle drei großen monotheistischen Religionen müssen bzw. mussten sich die Akzeptanz von Religionsfreiheit und Pluralismus erst erarbeiten. Deshalb gibt es keinen Anlass, eine dieser Religionen gegenüber der anderen als überlegen hinzustellen.“ 

Weiterhin hat Herr Beck in diesem Zusammenhang aber nicht nur einseitig die insofern zumindest ungeschickten Äußerungen des Papstes kritisiert, sondern zugleich auch darauf hingewiesen, dass in islamischen Ländern die Religionsfreiheit nicht in einem akzeptablen Maße gewährleistet ist. Mit Blick auf die Kritik aus der Türkei am Papst forderte er gegenüber der Nachrichtenagentur epd, „der türkische Staat müsse erst einmal auch nicht-sunnitischen Glaubensgemeinschaften wie den Christen, Juden und Aleviten Religionsfreiheit gewähren“.

Herr Beck hat also anders, als von einer Agentur berichtet, nicht Verständnis für die Reaktionen auf die Rede des Papstes gezeigt. Die Äußerungen des Papstes sind selbstverständlich von der Meinungs-, Glaubens-, und Forschungsfreiheit gedeckt. Die verbale Kritik daran allerdings auch. Die Rede zeigt, auch ein Papst ist fehlbar.

Dass man das Thema interreligiöser Dialog, Probleme wie Glaubensfreiheit in islamischen Ländern und das Gewaltproblem mit dem anwachsenden Islamismus auch angemessen zur Sprache bringen kann, zeigt im übrigen die vorzügliche Rede von Kardinal Lehmann vom 19.9.2006: http://www.dbk.de/aktuell/meldungen/01162/index.html

Die von Islamisten organisierten Ausschreitungen und Übergriffe, die auf die Rede des Papstes folgten, werden von Herrn Beck verurteilt. Sie sind mit der Kritik an den Worten des Papstes in keiner Weise zu rechtfertigen. Die Grünen haben sich übrigens immer wieder für die Glaubensfreiheit in muslimischen Ländern eingesetzt. (vgl. Kleine Anfrage Iran, BT-Ds. 16/1480 und Türkei, BT-Ds.16/2553)

   

Mit freundlichen Grüßen

   

Martin Gronert Mitarbeiter

   

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12.10.06

   

Sehr geehrter Herr Abgeordneter,

   

es ist ja außerordentlich interessant und erhellend, daß Sie Ihren Herrn Mitarbeiter Gronert zitieren lassen, was ich  zuvor zitiert hatte.

Aber die lange Suada enthält kein Krümelchen über meinen Vorhalt Ihnen gegenüber, daß vom Islam weder Religionsfreiheit noch Pluralismus "erarbeitet" werden kann noch darf.

Auch hinsichtlich der Kritik an Ihrem Vorwurf der "Geschichtsblindheit" gegenüber dem Papst wird nicht darauf abgehoben, Nachdenklichkeit über den unendlichen Unterschied zwischen der historischen Gewalttat der Kreuzzüge vor (gerade mal) 775 bis 900 Jahren und dem aktuellen Terrorismus zu zeigen, so als sei es angemessen, der maoistischen Kulturrevolution die "Sachsentaufe" Karls des Großen gegenüberzustellen.

Alles das garniert durch das übliche "Zwar- aber".

    

Mit freundlichen Grüßen: Prof.Dr. Helmut Arntzen

   

   

VON DER DEUTSCHEN KULTUR

   

Der Wiederaufbau der deutschen Kultur

   

Nun sind sie wieder für die deutsche Kultur. Was seit 1933 zerstört wurde, was dann nach 1948  nur wieder hervorgeholt wurde, um wie im architektonischen Historismus hinter einer ‚schönen und guten’ Fassade die Geschäfte erfolgreicher zu erledigen, was schließlich  im phrasenhaften Stumpfsinn der Achtundsechziger seinen letzten Stoß erhielt, dem soll nun wieder Aufmerksamkeit zugewendet werden. Nicht etwa, weil man selbst  das Bedürfnis danach hätte – wie auch, da man nichts davon kennt noch weiß, geschweige denn es verstehen und denken kann oder will -, wohl aber, weil man sich, was man lange gar nicht bemerkt hat, mit der aus den Medien bezogenen Phraseologie und Ignoranz in fernen Ländern, in denen man eigentlich nur weitere Geschäfte betreiben wollte, blamiert. Was soll man sagen, wenn man nach Schopenhauer gefragt wird und selbst kaum weiß, wie der geschrieben wird?

Denn das ist ja das Problem dieser neuen Gewitztheit: wie soll ein Volk, das in der Mehrheit aus intellektuellen Analphabeten besteht, eben mal rasch „Dichter und Denker“ spielen. Man sehe sich die Chat-Foren des Internet an, in denen geläufige Stammler alle Orthographie und Grammatik hintansetzen, um sich über Halsbeschwerden und Weltpolitik ungehindert verbreiten zu können. Dabei haben sie das mediale Geschwätz aufs prächtigste gelernt. Aber wie ein Satz auszusehen habe, können sie natürlich nicht bei Journalisten lernen, die bspw.schon bei der  Rektion der Präpositionen und  beim richtigen Kasus von Appositionen versagen, ganz abgesehen davon, daß sie nicht wissen, was Präpositionen und Appositionen sind. Dafür können sie aber von Goethe und Heine plaudern und unbestraft Lippen zu Mozart und Mahler riskieren. 

Mit diesem Personal soll nun die deutsche Kultur, was ja in erster Linie hieße: ihre Geschichte, reaktiviert werden. Sicher, da steht ein Schwadroneur vom Schlage Reich-Ranickis allzeit bereit, der ihnen zum hundertsten Male einbläut, es gehe um Thomas Mann. Den aber Musil überfordert, Kraus zum Schäumen bringt und den das 17. und 18. Jahrhundert  nichts angeht.

Aber wo ist im Ernst nach Jahrzehnten des Kahlschlags die Lehrerschaft, die mehr sagen kann  als „Böll“ und „Grass“? Wo ist das Theater, in dem nicht dumme Kerle große Texte dazu mißbrauchen, um auf sich aufmerksam zu machen ? Wo ist eine Literaturwissenschaft, der  nicht längst  das, was sie „Kulturwissenschaft“ nennt, eine Melange aus esoterischen Platituden, zu einer Art akademischem Zeitvertreib geworden wäre, der die Studenten zwar langweilt, aber auch vor jeder Forderung bewahrt?

Nein, man muß schon weiterhin Türken und Perser, Chinesen und Japaner, auch ein paar Franzosen, Engländer und Amerikaner einfliegen lassen, damit sie den Deutschen etwas von ihrer Kultur erzählen.

Denn die haben, ob nun inzwischen 80 oder erst im lallfähigen Alter von 16 nie  etwas vernommen von Andreas Gyphius, Paul Fleming, Paul Gerhardt, Johann Christian Günther, von Lichtenberg, Lenz, Novalis, Brentano, Arnim, von Raimund und Nestroy, von Gottfried Keller und Raabe, von  George und Rilke, von Trakl, von Wedekind und Sternheim,von Horváth, von Celan und Ernst Meister. Und Goetheschillerkleist sind ihnen allenfalls Straßennamen. 

Aber eilt die Herde denn nicht zu allen Festspielen und Ausstellungen? Sicher, denn es ist ein Event. Aber Deutschland beginnt mit jedermanns Geburtstag und  ist bemerkenswert nur als Klinsmann plus Fähnchen  und natürlich als Hitler. Das ist der Event der Events. Gleichzeitig ist H. unserer Intellektuellentruppe ein Hampelmann, der ein schlechtes Buch verfaßt hat. So etwas wie  ihr Inbegriff.

Also dann: „Deutsche Arbeiter, ans Werk!“

   

VOM JOURNALISMUS

    

Die vierte Gewalt

Medien, Macht und Politik

    

Die moderne Demokratie beruft sich  auf das Prinzip der Gewaltenteilung, wie es von Montesquieu in „De l’ésprit des loix“ 1748 formuliert worden ist. M. glaubte, daß staatliche Gewalt  als voneinander unabhängige Dreiheit von Legislative, Exekutive und Judikative zu bestimmen sei, eine Dreiheit, die er aus der englischen Verfassungswirklichkeit  bezog. Dabei wird der Legislative eine bevorzugte Stellung gegenüber den beiden anderen Gewalten eingeräumt, insofern diese sich auf die Legislative und ihr Vorrecht, Gesetze zu verabschieden, beziehen. Denn die Exekutive hat  die Gesetze  auszuführen, die  Judikative hat sie auszulegen.

Die Legislative erscheint  als die Primärgewalt  auch darin, daß  sie  direkt aus Wahlen hervorgeht, wobei die Wahlberechtigten schließlich aus der Gesamtheit der mündigen Bürger bestehen, so daß es zu allgemeinen Wahlen kommt. Die beiden anderen Gewalten hingegen  gehen nur indirekt  aus diesen allgemeinen Wahlen hervor: die Exekutive dadurch, daß sie vom Parlament als den Gewählten bestimmt oder bestätigt wird, die Judikative dadurch, daß sie durch die Exekutive, manchmal auch (bei den bedeutendsten Gerichtshöfen) durch die Legislative ernannt wird.  Wie immer dieses Verhältnis von Gleichberechtigung und Abhängigkeit  beurteilt werden mag, es zeigt sich eine mehr oder minder starke Fundierung  der Gewalten in  dem aktuellen Volkswillen, die auch darin zum Ausdruck kommt,  daß noch die am meisten von diesem entfernte Gewalt, nämlich die Judikative, ihre Urteile „im Namen des Volkes“ fällt. Jenseits aller fraglichen Konkretionen  sind die öffentlichen Gewalten fest  institutionalisiert dadurch, daß sie sämtlich auf den Volkswillen bzw. den Willen der Wählerschaft zurückgeführt werden können und darin ihre Legitimation haben.

„Vierte Gewalt“ ist natürlich eine Metapher, aber als sich durchsetzende gleichzeitig mehr als das. Es ist schwierig, die Herkunft dieser Metapher festzustellen. Inzwischen ist sie aber so etabliert, daß die Medien ernsthaft zumindest an die Seite der, wenn nicht gar über  die drei anderen Gewalten gestellt werden. Das hängt natürlich damit  zusammen, daß einzig die Journalisten in einem ständigen Kontakt mit den Repräsentanten der ersten und zweiten Gewalt, viel weniger allerdings mit denen der dritten Gewalt sind.

Gleichzeitig bewirkt der Metapherngebrauch die Annahme, die „vierte Gewalt“ konstituiere sich in ähnlicher Weise wie die drei anderen Gewalten. Davon kann schon darum nicht die Rede sein, weil die sogenannte „vierte Gewalt“ auf einer privatwirtschaftlichen oder ihr ähnlichen (gemeinhin als „öffentlich-rechtlich“ apostrophierten) basiert. D.h. sie produziert eine Ware, die sich in ihrer Verkäuflichkeit bewährt oder nicht bewährt. Alles, was sie ausmacht, hat in dieser Warenhaftigkeit  ihren Ursprung und ihre Legitimation. Eine Ware also erhebt den Anspruch, von solcher öffentlichen Relevanz zu sein, daß  sie in die Nähe  der anderen öffentlichen Gewalten rückt. Das  wird auch tatsächlich  postuliert, insofern das Kaufverhalten von Zeitungslesern gleichgesetzt wird mit dem Wahlverhalten von Bürgern. Es ist natürlich evident, daß beides überhaupt nichts miteiander zu tun hat. Der Zuspruch für die Bildzeitung gilt nicht einer politischen Tendenz, sondern der so simplen wie populistischen Darstellumg von Politik, gemischt mit  Sensationismus und sexuellen Reizen, die weitab liegen von jeder enrsthaften Betrachtung politischer Phänomene. Verworrener noch liegen die Dinge in der Sphäre der sogenannten öffentlich-rechtlichen Institutionen, also vieler Rundfunk- und Fernsehanstalten, deren Produktionen nicht nur längst auch  zum erheblichen Teil Warencharakter haben, sondern gerade in den Teilen, die öffentliche Funktionen erfüllen sollen, der privaten Meinung von Intendanten und Redakteuren ausgeliefert sind, so daß der Wille von Hörern und Zuschauern gänzlich manipuliert werden kann oder er in Anlehnung an Teile der Zeitungsproduktionen  als Wunsch nach dem plattesten entertainment verstanden wird. 

Es ist also mit Hilfe der Theorie der Pressefreiheit schon im 19., dann aber v.a. im 20. Jahrhundert gelungen,  die Medien zu einer öffentlichen Gewalt zu erheben, die längst über die ursprüngliche Idee, nämlich unhelligt von staatlicher oder anderer Gewalt seine Meinung sagen zu können, hinausgegangen ist.

Schon die Kumpanei mit den ersten Gewalten zeigt, daß es sich nicht um Gewaltenteilung mehr handelt, sondern  um die Tendenz, den Inhabern  jener Gewalten so nahe zu rücken, daß die ihre Geschäfte nur in ständiger Konsultation mit den Journalisten ausüben können. Das kommt schon in einem scheinbar  völlig beiläufigen Moment zum Ausdruck, nämlich der Form des persönlichen Umgangs. Während in den angelsächsischen und romanischen  Ländern immerhin noch eine Distanz zwischen Politikern und Journalisten dadurch betont wird,  daß  in der Anrede zwischen der öffentlichen Position von Abgeordneten und Ministern und der privaten und privatwirtschaftlichen Position von Journalisten  unterschieden wird, ist es im Deutschen längst gängig, daß die öffentlichen Funktionäre, inzwischen bis zur Bundeskanzlerin, mit ihrem Namen tituliert und damit auf die Ebene der Privatheit  gezogen werden. 

Vor allem aber das Sprechen der Journalisten setzt die Anerkennung einer „vierten Gewalt“ durch. Geht  es normalerweise  darum, als Autor, sei es sachlich, sei es kritisch zu sprechen und damit zu einem Diskurs aufzufordern, ist der rhetorische Sprachgebrauch der Journalisten immer schon an die Voraussetzung gebunden, daß hier nicht ein  Individuum spricht, sondern der Repräsentant einer Instutution, die überdies noch in eine Reihe mit den anderen öffentlichen Gewalten gestellt wird. So privat dieses Sprechen ist, insofern der Sprecher der Angestellte einer Firma ist,  so „öffentlich“ wird es durch diesen Hintergrund. Jede Glosse, jeder Kommentar, jeder Leitartikel treten als die Stimme der Zeitung  oder der Medienanstalt auf, in der sie erscheinen. Während der Autor nur das Surplus des Drucks oder einer ähnlichen  öffentlichen Verbreitung, das durch die jeweilige Kritik gemäßigt oder verstärkt wird,  dem nicht publizierenden Zeitgenossen voraus hat, aber jedem Leser die Möglichkeit läßt, die Äußerungen des Autors abzulehnen oder gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, kann jeder, der durch einen Verleger  oder Chefredakteur bei einem Medium angestellt wurde, erfolgreich den Eindruck erwecken, daß seine Rede den Status einer Äußerung der „vierten Gewalt“ habe. So wird z.B. niemals die jeweilige politische Position der als bedeutend geltenden Schriftsteller  oder Philosophen erfragt,wohl aber in Presseschauen die politische Auffassung irgendeines Schreibers verkündet, weil sie als die einer Zeitung oder eines Senders auftritt und damit eines Repräsentanten der „vierten Gewalt“ .

Die politische, verwaltende und richterliche Macht, die durch die Repräsentanten der öffentlichen Gewalten ausgeübt wird, gerät nun unter den Einfluß von irgendwem, weil dieser als Repräsentant  einer Zeitung oder eines  Senders gilt, die selbst wiederum als Teile der  „vierten Gewalt“  sich durchzusetzen vermögen, obwohl es doch um nichts anderes als um die von wirtschaftlichen Interessen bestimmte Meinung eines einzelnen sich handelt, insofern er eine abzusetzende Ware produziert. 

Die Produktion einer Ware, die gleichzeitig als Ausfluß einer „vierten Gewalt“ gelten soll  und auch verstanden wird, kann natürlich zu außerordentlich problematischen Wirkungen führen.  Denn obwohl die veröffentlichten Nachrichten und Thesen  nichts anderes sind als Äußerungen, die gekauft werden sollen,  ob sie nun  richtig oder falsch, wahr oder unwahr sind etc, schaffen sie den Eindruck, sie seien viel mehr als das, ja auch mehr als die Äußerungen eines Autors, der Autorität gewonnen hat und der der Kontrolle seiner literarischen Fähigkeiten unterliegt. Sie erscheinen nämlich als Ausfluß der „vierten Gewalt“ von ähnlichem Gewicht wie  Gesetze, Verwaltungsakte und Urteile, die an Gesetze gebunden sind, obwohl sie doch oftmals nur   statements sind , die einmal der Laune eines Schreibers und der Raschheit des Augenblicks, vor allem aber dem Interesse am Verkauf  entsprungen sind.

  

 

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Nach dem Presseclub

   

Nun „dürfen“ die Hörer fragen, aber auch nur das, wie  der Präsident in basta-Manier ihnen mitteilt. Sie tun es auch durchweg brav  wie Schüler von ehemals, indem sie mit einem verbalen Knicks auf der Hörfläche erscheinen.

Ihre rührende Hoffnung ist es, die Versammelten seien „Experten“, die ihnen eine zulängliche Auskunft auf ihre Frage bieten können. Die sind aber lediglich Journalisten, also Leute, die über die konventionalisierten und trivialisierten Ansichten hinsichtlich einer politischen oder wirtschaftlichen Frage verfügen. Die aber kennen die Hörer  aus der Lektüre der Zeitungen längst selbst.Und natürlich ist auch ihre Frage durch diese Lektüre vorgeprägt. 

Es handelt sich natürlich  nur um eine Alibi-Veranstaltung des Senders, der die journalistische Autokratie durch sogenannte Interaktivität ein bißchen schwinden machen will, eine Autokratie, die sich  in den präsidialen Anweisungen  der Pleitgen und Voß aber alsbald wieder durchsetzt. 

   

   

 „Das Blatt bespricht“

   

lautet die Presseschauformel, wenn sich, wie stets, nur irgendein Hinz oder Kunz äußert, sich aber durch Formeln wie diese hinter dem „Blatt“ versteckt und dadurch den Eindruck erweckt, der Weltgeist persönlich artikuliere.

Es ist natürlich alles Fiktion. „Das Blatt“, das aus nichts anderem als aus einer größeren oder kleineren Handvoll von  Leuten besteht,  und diese meist völlig unbeträchtlichen  Lohnschreiber, die  als „das Blatt“ figurieren, als gebe es davon mehr als den Titel .
 
 
   

VON DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT

   

   

Renault-Erfahrungen

oder Die Mißachtung des Kunden

   

Die Hinweise in Nummer 14 von „Zur Lage der Nation“ machen deutlich, daß große Firmen wie die Deutsche Post,  die  Deutsche  Bahn, TUI, die Postbank offenbar zunehmend dazu neigen, Kunden als Personen zu betrachten, von denen sie einzig ihnen vermeintlich oder tatsächlich geschuldete Beträge entgegennehmen, die sie sich aber ansonsten in jeder Hinsicht fernhalten, indem deren Geschäftsleitungen z.B.anordnen, Telefonnummern Kunden nicht bekanntzugeben, Verbindungen zu erbetenen Stellen nicht herzustellen, auf  Darstellungen mit Redensarten oder gar nicht zu antworten, unseriöse Praktiken bei eigenen Fehlern einzuführen etc.

Besonders leistungsfähig in dieser Hinsicht hat sich inzwischen die Firma Deutsche Renault in Brühl unter Ihrem Vorstandsvorsitzenden Rivoal erwiesen, über die ich im folgenden berichte.

                                                                 *

Als wir unseren neuen Renault Laguna vor  gut einem Jahr bekamen,  sagte uns unser Renault-Mann in S., wir hätten damit die fortschrittlichste Technologie der Welt. Wer immer ihm das eingeredet hatte, wir  erhielten in den darauffolgenden Monaten hübsche Beispiele für diese Technologie, waren aber im ganzen dennoch zufrieden und brauchten selten  die Hilfe des Service am Ort noch gar die der Zentrale.

Das änderte  sich im Sommer 2006 drastisch. Als wir in So. einen Besuch machten, mußten wir ein Parkhaus aufsuchen und übersahen, daß dessen Eingang durch eine rote Warnlampe versperrt war. Dies war aber auch die einzige Sperre. Wir konnten, so schien es, ohne weiteres in das Parkhaus einfahren, merkten aber alsbald, daß es nicht nur in einer Windung alsbald ziemlich steil nach unten ging, sondern auch, daß unten ein Tor herabgelassen war.

Wir mußten also auf der Schräge halten und von diesem Punkt aus zurücksetzen. Das mißlang, weil  die elektronische Handbremse, eine Ingenieurerfindung von größter Überflüssigkeit, blockierte, so daß das Auto wie ein scheuendes Pferd in die Luft ging.

Nach etlichen Versuchen, über deren Wirkungen im einzelnen nicht gehandelt  werden soll, half uns ein junger LKW-Fahrer aus der Misere.

Diese Erfahrung schien mir wert, der Brühler Zentrale mitgeteilt zu werden.

Sie löste dort jedoch nur den Reflex aus, daß ein Herr Rolf Braun ein paar aus dem Vorrat an Beruhigungsphrasen gezogene  Sätze als Beauftragter der „Kundendirektion, Abteilung Kundenbetreuung“ unterschrieb. Dies blieb übrigens das einzige schriftliche Lebenszeichen, das ich als Kunde von der Firma Renault in  diesem Zusammenhang bekam.

Eine Woche nach diesem Vorfall bereiteten meine Frau und ich uns auf einen Flug nach England vor, zu welchem Zweck wir zu einem Flugfeld an den Niederrhein fahren mußten. Am Tag vor dem Flug, einem Sonntag, leuchtete als elektronische Anzeige rot und warnend die Mitteilung auf, daß der linke hintere Reifen defekt sei.

Wir erinnerten uns an die Versprechung  von Renault, daß man sich in jedem prekären Fall an die „Assistance“ wenden könne, was alsbald geschah. Der dortige  ‚junge Mann’ erwies sich als so hilflos wie ignorant, klärte uns aber darüber auf, daß zwischen der Firma Renault und der Renault Assistance ein weiter Unterschied sei, was bedeuten sollte, er fühle sich nicht verpflichtet, als „Assistance“ tätig zu werden. Gerade für den Sonntag eine schöne Kundendiensterfahrung. Wir suchten dann eine Tankstelle auf, um  den Luftdruck des defekten Reifens wieder auf Normalmaß zu bringen. Aber die rote Anzeige blieb.

Der wieder eingeschaltete  „Assistance“-Angehörige wies uns dann nach längerem Hin und Her zwei Reifenhändler im näheren Umkreis nach, die auch am Sonntag zur Verfügung stünden.

Wir hatten also so  gut wie nichts von der „Assistance“. Sie erwies sich  als PR-Gag.Inzwischen hatten wir auch  den hiesigen Service-Mann und den Händler im etwas entfernteren D. zu benachrichtigen versucht, was aber wegen des Sonntags nicht gelang. Doch meldete sich der Service-Mann im Laufe des Nachmittags.

Die drei Fachleute (empfohlene Reifendienste und Renault-Service) sagten übereinstimmend,  wir sollten die Elektronik gar nicht weiter beachten, die neige zu Überreaktionen. Als wir dann nach dessen Bitte die Werkstatt des Service-Manns aufsuchten, erklärte der die Anzeige mit einer  zu gering programmierten Ausdehnung  der Reifendruckgrenzen, die er abstellte, so daß in der Tat die Anzeigen auf dem Display verschwanden und wir zuversichtlich, allerdings früher als zuvor geplant,  zu einem Ort in der Nähe des niederrheinischen Flugplatzes fuhren.

Wir übernachteten dort, hatten auch bei der Anfahrt zum Flugplatz am nächsten Morgen keine Schwierigkeiten. 

Als wir nach etwa 10 Tagen wieder zurückkamen und  mit dem abgestellten Renault  den Heimweg antreten wollten, leuchtete die Warnung wieder rot und drohend  auf. Es war gegen 22 Uhr, der Niederrhein ist eine der stillsten Gegenden Deutschlands. Dennoch fanden wir eine Tankstelle und  - großes Wunder  - einen bereitwilligen Helfer, der alsbald den Reifen(zum ersten Mal) untersuchte. Er stellte fest, daß in diesem, mit dem wir 140 km gefahren waren, ein Nagel steckte, die ursprüngliche und neuerliche Waranzeige also zurecht erschienen war und die Fachleute  uns schlechte Ratschläge erteilt hatten. 

Trotz meiner ersten Erfahrung erschien es mir dringlich, die Renault-Zentrale in Brühl in Gestalt ihres Vorstands zu informieren. Darauf erhielt ich nicht einmal eine Eingangsbestätigung.

Als auch eine Antwortanmahnung bei dem Vorstandsvorsitzenden, Herrn Rivoal, keinerlei Reaktion bewirkte, rief ich in Brühl an. Mein Wunsch, mit dem Vorstandssekretatriat verbunden zu werden, führte bei der Vermittlungsdame zu der Frage, was ich dort wolle. Es ergab sich, daß ich über den Kundenservice, der keiner ist (ähnlich wie die sogenannte „Assistance“) nicht  hinauskommen würde  und daß dessen Mitarbeiter mir nur jenen Herrn Braun anbieten konnte, der sich meine erste Vorhaltung schon durch Phrasen vom Leib gehalten hatte. Auch die  Versicherung des Mitarbeiters, daß  sich Herr Braun bei mir melden werde, erwies sich als unwahr. 

Schließlich scheiterte auch der Versuch, die Angelegenheit über meinen Händler in D. an Renault heranzutragen. Der wurde wahrscheinlich angewiesen, durch Totschweigen den Casus  in der Weise  zu bewältigen, wie es die Zentrale schon vorgemacht hatte.

Es paßt vollkommen ins Bild, daß  die „ADAC-Motorwelt“ in Nummer 11/2006 zwölf Renault-Werkstätten aufführt, von denen eine einzige das Prädikat „gut“ erhalten hat. Sie stellen, schreibt die „Motorwelt“, „bei den Betrieben der Fahrzeughersteller das Schlußlicht“. Denn wie sollte es anders sein bei einem Unternehmen, dessen Spitze im Kundenservice vollkommen versagt.

Renault blockiert gegenüber seinen Kunden, von denen es doch einzig lebt, jeden Zugang. Das  ist bisher in unserer Erfahrung  der Gipfel in der Impertinenz von großen Firmen gegenüber ihren Kunden. Sie lassen sich bezahlen, faseln von Kundendienst und verabschieden sich in dem Augenblick notwendiger Hilfe von den einfachsten zivilisatorischen Verpflichtungen. 

   

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Wie die Postbank aus eigenen  Fehlern Vorteile zuungunsten ihrer Kunden zieht

   

In der Postbank  liest man einen Überweisungsbetrag zuungunsten des Kunden falsch.

Falls so etwas vorkommt, und es kann natürlich vorkommen, bedarf es einer zweiten Kontrolle. Die gibt es bei der Postbank nicht.

Der Kunde muß vielmehr den Fehler selbst herausfinden. Darauf räumt die Postbank zwar die Fehllesung ein, denkt aber nicht daran, die Differenz zwischen Überweiungsbetrag und falsch gelesenem Betrag stante pede zurückzuüberweisen. Es dauert vielmehr einen Monat, bis die Rücküberweisung stattfindet. Der Kunde wird derweil mit internen Auseinandersetzungen zwischen der Postbank und dem Geldinstitut, das die falsche Gutschrift erhalten hat, behelligt

   

   

Es handelt sich ganz offensichtlich um eine Art von Zwangskredit der  Postbank, der mit größter Wahrscheinlichkeit unzählige Male in einem Jahr praktiziert wird. Es ist ein offenkundig unseriöses Verhalten, das der Postbank auch als solches dargestellt wird   

Die entschuldigt sich zwar für die Fehllesung, repetiert aber nur mehrere Male eine Darstellung, die nichtssagend ist, da sie die einen Monat lang unterlassene Rücküberweisung nicht begründen kann.

Dafür aber blasen die Damen und Herren Faber und Akens  vom „Reklamationsmanagement“ die Backen auf und  weisen „Ihren erneuten Vorwurf der bewußten Erhebung eines Zwangskredits“ „entschieden“ zurück. Dafür fehlt ihnen natürlich jedes Argument.

Aber da  sie der Überzeugung sind, Frechheit siege, fügen sie noch den Hohn hinzu und sagen, die Entscheidung, „welches Unternehmen den Kundenbedürfnissen  am besten gerecht wird, liegt letztendlich beim Verbraucher selbst.“ 

Da derlei Verhalten natürlich nicht der eigenen Erfindung entspringt, weiß man, wie  sich die gegenüber ihren Kunden verhalten, die wirklich Entscheidungen treffen. Hier heißt der höchste Entscheider Prof. von Schimmelmann.

   

P.S. Die „Kundenbedürfnisse“ werden von der Postbank u.a. so erfüllt: „die Postbank bietet Ihnen jetzt die ganzflächige Gestaltung Ihrer VISA Motiv Karte [welch eine eigenwillige Rechtschreibung] an“. Denn: „Mit der Postbank VISA Motiv Karte  gestalten Sie Ihre Karte ganz individuell nach Ihren Wünschen.“ Das ist weniger die Sprache von Faber und Akens, die mehr drohend ist. Ist es die liebenswürdige des Prof. von Schimmelmann? Nein es ist die von „Oliver Braun, Kundenbetreuung“.

   

   

Stromausfall und Wassernot

   

Weil ein Schiff über die Ems fahren wollte, wurde eine Stromleitung unterbrochen, was zur Folge hatte, daß es in weiten Teilen Deutschlands und im benachbarten Ausland im November für eine halbe Stunde keinen elektrischen Strom gab. So glänzend sind in Deutschland technische Einrichtungen.

Ein Sprecher des „Riesen“ RWE, der vor einem Jahr dadurch aufgefallen war, daß im Münsterland  seine Hochspannungsmasten wegknickten, und zwar nur bis zur holländischen Grenze, murmelte etwas von „Niederfrequenzen“. Und schon ist die Sache erledigt.

In Wahrheit zeigt sich wieder einmal, daß eine große Firma nicht in der Lage ist, das ordentlich zu leisten, wofür sie  bezahlt wird. Aber je unfähiger sie sich erweisen, desto unverschämter treten sie auf.

Ganz entsprechend geht es  bei den auf einen kleinen Bezirk beschränkten Ausfällen zu.

Die Firma Gelsenwasser muß vor Wochen einen Rohrbruch  in der Nähe reparieren. 

Macht sie ihre Kunden darauf aufmerksam und bittet sie die, sich an einem Wagen mit einem Wasservorrat zu versorgen? Natürlich nicht.

Und als sie neuerdings an derselben Stelle wieder einen Rohrschaden reparieren muß, läßt sie natürlich wieder, ich denke „aus Kostengründen“, jede zivilisatorische  Rücksicht fahren.

Manchmal ist es, als seien wir schon wieder im Krieg.

   

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VOM (EINSTIGEN) LEBEN

   

1956

   

Mein Vater habe gesagt, 25 Jahre sei schon ein Einschnitt. „Ich merke nichts.“

M.W. und ich hätten sich mit „Galgenironie“ ausgemalt, daß sie zwischen den Stühlen säßen. M.W. bereite sich aufs Examen vor und müsse bald predigen.

   

Musil (Roman, Tagebücher, Essays )  werde  weiter gelesen und exzerpiert. Der Roman sei eine „epische Enzyklopädie dieses Zeitalters“. Enzyklopädie sei nur noch so möglich. Jedes Werk fordere und bringe seine eigene Ästhetik hervor. Gespräche über das Verhältnis Ästhetik-Ethik.

   

Konzert im neuen Theater. Kinobesuche ( u.a der amerikanische Kriminalfilm „Der Richtige“ , Staudtes „Untertan“, „Rififi“), v.a. Ophüls’ „Lola Montez“. Das Kostüm sei hier ganz Mittel, weise das Reale als Illusion aus. Eine ständige Verschränkung  der Sphären von Zirkus und Realität. Die Musik Aurics sei ungemein wichtig.  Eine Picasso-Ausstellung in Köln. Der Germanistenball zum Karneval sei besucht worden.

   

Ein Vortrag G.Sawatzkys über Kierkegaard, für den der rheinische Präses Held, Onkel von L., die Einleitung spreche. Emrich habe einen Kafka-Vortrag im Kölner Kreuz-Kolleg gehalten und einen anderen über Wertungsmaßstäbe in der modernen Dichtung vor Volksbibliothekaren. Weiterer Vortrag von W.Binder, späterem Ordinarius in Zürich, über die klassische Faustkonzeption.

   

Zu Texten aus Wielands „Abderiten“, Jean Pauls „Katzenberger“ und Immermanns „Münchhausen“seien für die Dissertation Analysen verfaßt worden. Später zu Thomas Manns „Buddenbrooks“. Für das historische Seminar von Schieder werde ein Referat geschrieben und vorgetragen. 

    

Mit Freunden seien Kölner Kirchen besichtigt worden: Antoniterkirche, Groß- St.Martin,  die Trümmermadonna.

    

Im Radio  hätte ich die Heine-Gedenksendung mit dem Vortrag Adornos gehört.

Gespräche über Psychoanalyse und ihre Pseudoreligiosität.

Emrich habe die Einleitung zur Dissertation mit Lob akzepiert.

   

Seit dem 10.2. und bis Ende des Monats sei es sehr kalt gewesen.

Ende Februar Fahrt mit Herrn E. nach Brüssel. Dort Rue neuve, Kaufhäuser, „der Welt größte Kuchenbäckerei“, Neonreklame, das Palais de Justice: es bestehe „nur aus Säulen und Allegorik“ und könne selbst  von Hollywood den Belgiern nicht so schnell nachgemacht werden, „das Märchen der Grande Place“, abends bei Existentialisten. Am nächsten Morgen die Fassade von St. Gudule,  dann der Flohmarkt: „eine Gemütsergetzung sonderlichster Art“, drumherum ein Basarviertel. Mehrere Museen.  Das Ganze sei „mit den stämmigsten und spießigsten Bürgern der Welt ausgefüllt, ganz und gar zum Anfassen, und mit Tausenden von Kneipen, die so scheußlich sind, wie Bierhäuser sein müssen“.

   

Arbeiten von K.M.Michel, I.Bachmann, Rasch, Kalow über Musil. Der werde weiter exzerpiert, die Exzerptenkartei werde geordnet.

Über die Strukturähnlichkeit von Musils „Grigia“ und Kafkas „Urteil“, vielleicht auch  Hofmannsthals „Reitergeschichte“.

Arbeiten zur Satire (Olles, Haecker), Lektüre von Robert Walser, Löwiths „Von Hegel zu Nietzsche“.

Hegel sei der letzte „katholische“ Philosoph, von dem die neuen Dogmatisierungen ausgingen: v.a. der Marxismus, aber auch der Protestant Kierkegaard.

   

Im Theater: „Tartuffe“ und Giraudoux.  „Don Carlos“ in der Inszenierung von Stroux mit Werner Krauß, Gerda Maurus, Lola Müthel, K.M.Schley. Im Konzert: Beethoven, Brahms, Sibelius. „Figaros Hochzeit“: „die Rechtfertigung der Oper“.

W.H. habe aus seiner Dissertation über den romantischen Physiker Johann Wilhelm Ritter in der KWV gelesen, in der sich  nun  auch  J.T. als Dr.phil. vorgestellt habe.

   

Historischer Abriß zur Satire für die Diss. Jean Paul, Vorschule zur Ästhetik, die Paragraphen über Humor, Ironie etc. Kierkegaard, Begriff der Ironie, 2.Teil. Vischer, Ästhetik, Paragraphen zur Ironie. 

Goethe, „Wahlverwandtschaften“, Nietzsche, Briefe.

   

Viele Gespräche mit Frau M., der ersten Bibliothekarin der Stadtbücherei, über Literatur, insbesondere Benn, über den ihr verstorbener Mann schon Anfang der dreißiger Jahre promoviert habe, außerdem  über den Beruf.

   

Mit W.H. zum Studententag nach Hamburg. Wir hätten aber vor allem Hamburg sehen wollen. „Reiche“ Architektonik grüße dort überall: z.B. Universität, Universitätsbibliothek, eine Schönheit jage die andere.  An der Binnenalster, über den Jungfernstieg, die Mönckebergstr., den Ballindamm. Gäste in der Musikhalle, wo der NDR einen „Bunten Abend“ gegeben habe, der „höchst lustig“ gewesen sei.  Die Eröffnung  am zweiten Tag wird als „armselig“ bezeichnet. Abends im Schauspielhaus, wo Lindtberg  Shakespeares „Heinrich IV.“ inszeniert habe mit Schomberg, Quadflieg, Münch, Solveig Thomas und Offenbach. Das sei eine „runde und köstliche Sache“ gewesen.  Natürlich Hafenrundfahrt und Elbtunnel und Planten und Blomen. Am dritten Abend in der Staatsoper mit Rennerts Inszenierung des „Barbier von Bagdad“ von Cornelius. Anschließend Reeperbahn, die „wie ein sehr abgespielter Film“ gewirkt habe. Besuch der Kunsthalle  mit Meister Bertram und Meister Francke  und einem Goya: Portrait eines spanischen Granden „mit einem vor Selbstbewußtheit zum Rechteck gepreßten Gesicht“. Der abendliche Schlußball sei eine „Impertinenz“ gewesen, die Begegnung mit A.Sk., der einen Pressedienst für Schülerzeitungen herausgebe, „wenig überzeugend“. Am Sonntag noch bei herrlichem  Wetter im Hagenbeck-Zoo.

   

„Eine Hörfolge über deutsche jüdische Emigranten in Paris, „die Vergessenen“, machte stumm. Das ist ganz unausdenkbar und fürchterlich. Und was wir durch dieses Nichttun uns aufladen, ist persönliche Schuld jedes  einzelnen, die wir nicht loswerden können.“

   

Der zweite Abschnitt der Diss. Übersetzung des Parzival-Prologs.Kant, „Kritik der reinen Vernunft“. Filme: „Mr Arkady“ mit Orson Welles, „Carmen Jones“, „Enfants du paradis“, „Heinrich V.“ mit Laurence Olivier.

   

Wieder in Köln.  „Durch den noch sehr zerstörten Teil zwischen Heumarkt und Ubierring“, St. Pantaleon. Kraus, „Die letzten Tage der Menschheit“. Gespräche über das West-Ost-Problem. Den Gesamtaufbau der Diss. fixiert. 

   

In D. Hofmannsthals „Schwierigen“ mit A. Wohlbrück, der „mit einem gräßlichen Gehampele und Getue den 3. Akt und damit alles Vorherige, das ihm z.T. glücklich gelungen war“, zerstört habe.

   

„Sich nicht so viel auf die Gedanken des Dichters zu seinem Werk einlassen; der Interpret ist mit dem Werk allein und hat so zu interpretieren, als gäbe es nichts außer dem Werk.“

   

 Dritter Abschnitt der Diss. Musils „Schwärmer“ im Radio. Benjamins Karl-Kraus-Aufsatz. In Essen-Hügel die Ausstellung „Werdendes Abendland“.

   

Tod Gottfried Benns. O. sage am nächsten Morgen mehrmals, was uns denn jetzt noch bleibe. Daß etwas ausgestrichen sei, dem man sich zuordnete, darüber sei kaum Klarheit zu gewinnen. Daß er starb, sei eine „überflüssige Mitteilung“. „Wem er starb, darin wird der Verlust ermessen oder bleibt unermessen.“

   

Tod Brechts. „In diesem Hintereinander des Todes Manns, Benns, Brechts innerhalb eines Jahres liegt eine schauerliche Zufälligkeit:’…und nach uns wird kommen nichts Nennenswertes’, ist der Tenor der Abgesänge.“

Dazu in Hamburg der Tod Werner Riegels, der „Zwischen den Kriegen“ herausgab. „Einer der ganz wenigen Tapferen, der hoffen ließ, wir möchten nicht allein auf die Epigonen angewiesen sein.“

   

Bei O. in der Eifel. Im Kloster Steinfeld Jedermannspiel von Jaspar von Gennep, in dem A.N. mitwirkt. In Köln bei Emrich über die Arbeit. In der Sprechstunde bei  Th. Schieder wegen des Rigorosums. Ende des letzten Semesters in den späten Julitagen. Verabschiedung bei den Zimmervermietern in Frechen. 

Der vierte Abschnitt der Diss. Lektüre von B.Allemanns „Ironie und Dichtung“.

In der KWV zeigt J.T. Fotos von seiner Jugoslawien-Reise.  Im Kino: Käutners „Der Hauptmann von Köpenick“. Benjamins „Einbahnstraße“.  Die Eltern haben eine neue Funk-, Fernseh- und Plattentruhe. 

   

Ferien mit L. in Waldbreitbach im Westerwald, wo die Eltern schon Anfang der zwanziger Jahre waren.  Kafkas Amerika-Roman. Schlechtes Wetter. Im Wiedtal. Nach Bad Hönningen: das sei ein trauriger, verkommener Ort. Besser erschiene  Niederbreisig. Später angenehmer. Ruine Neuerburg, Mahl-Berg mit Kratersee. Nach Maria Laach: Autobusse und Gregorianik. Mitteilung an die Eltern über unsere Verlobung.

   

Korrekturen  und – Ende September – Abschluß der Arbeit. Arbeitsplan für die nächsten Monate. Bei Emrich das Manuskript der Diss. abgeliefert. Er wünsche, daß ich im Doktorandencolloquium eine Sitzung mache. 

  

Reden von W. Bergengruen und Reinhold Schneider bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Im Fernsehen  Diskussion über Wehrfragen (u.a. mit Helmut Schmidt und Erich Mende). 

Über den Fall eines SS-Manns und KZ-Aufsehers, der heute eine Entschädigung verlange. Eine  polemische, aber dennoch nüchterne Dokumentation über die neue Wehrmacht, in der die „Verblasenheit der Redereien von Offizieren und Unteroffizieren“ aufgefallen sei.

Eine eigentümliche Häufung von Ereignissen wird konstatiert: die Entwicklungen in Polen und Ungarn, Krieg zwischen Ägypten und Israel auf der Sinaihalbinsel.

   

Ausschnitt aus dem Ausschnittprogramm des Pekinger Theaters im Fernsehen. Es sei ein Gesamtkunstwerk mit Artistik, Gesang (der uns unangenehm sei), Tanz. Assimilation von Drôlerie und zarter Trauer in einer Szene. 

Lektüre von Wolframs „Parzival“,Heinses „Ardinghello“. Eichendorff, „Ahnung und Gegenwart“, Novalis, „Lehrlinge zu Sais“, Arnim, „Gräfin Dolores“, Arnim, „Die Kronenwächter“, Friedrich, „Strukturen der Lyrik“.

   

A.N.: Bühnenreifeprüfung. Die Diss. sei Ende November eingereicht worden.

Im Doktorandencolloquium Vortrag über meine Arbeit. Emrich akzeptiere die Diss.

   

„Ein Bild auf dem Fernsehschirm: zum triumphierenden Finale von Beethovens c-moll-Sinfonie sieht man die langsam sinkende ‚Andrea Doria’. Ein zufälliges Zusammentreffen innerhalb eines Bilder-Potpourris: die ganze Wirklichkeit für einen Augenblick.“

   

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Nummer 14 (Sept./Okt. 2006) s. Archiv

   

INHALT: VOM MENSCHLICHEN UMGANG: Acht Tage nach dem 11.September 2001 - Der Universalismus von Schmeichelei und Heuchelei oder Political Correctness und ihr Ende  – Lamentoso . VON DER SPRACHE: Zum Verhältnis von Tatsache und Sprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts .VON DER DEUTSCHEN GEGENWART: Aus der deutschen Service-Wüste     Fahren mit Herrn Mehdorns Bahn     Kleiner Stadtbummel  – Von den Deutschen.  VON DER DEUTSCHEN VERGANGENHEIT: Zerstörung und Wiederaufbau deutscher Städte . VON DEN MEDIEN: Deutschland und die Welt in der FAZ. – Dr.h.c. Enderlein und sein Kontrollanhängsel. VON DER HOCHSCHULE: Schwindel als Basis . VOM SPORT: Die Welt als Fußball . VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1955 .

   

   

Die Nummern 1 – 14 s. Archiv 

   

s. Register der Nummern 1 – 15 von „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen.

   

   

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