Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 20 (September 2008)

 

INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert (Barock, Zweiter Teil). VON DER GEGENWART: Einigkeit und Recht und Freiheit. Vom deutschen Vaterland. Einfache Sprüche. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Die Anfänge in M. 1968 – 1972.



VON DER LITERATUR
Deutsche Lyrik, kommentiert

17.Jahrhundert (Barock) (1624 – 1720). 2. Teil

Die drei folgenden Stücke von Spee, Paul Gerhardt und Gryphius sind barocke Naturgedichte, formal und thematisch aber ganz unterschiedlicher Art.
Friedrich von Spee, Jesuit aus Kaiserswerth bei Düsseldorf, 1591-1635, ist einer der ersten, der sich gegen die Hexenprozesse wandte: Seine Sammlung „Trvtz-Nachtigal" (1649 gedruckt, schon in den dreißiger Jahren entstanden) versammelt geistliche Lieder, die z.T. einen sehr innigen Ton haben. Im 'Lobgesang der Vögel' wagt er es, zwei Reimsilben durch das ganze Lied hindurch zu gebrauchen, die auf die Zartheit und geringe Größe der Vögel deuten. Nur in zwei Strophen wird der Gottesname und die unendliche Wiederholung des Lobs zur Unterbrechung dieses Reimschemas eingesetzt. Die Vögel erscheinen in diesem Text als Sänger des Gotteslobs wie als fast impressionistisch erfahrene bewegte und tönende Lebewesen.


DIE GESPONß30 IESV ERWECKT DIE VÖGELEIN ZUM LOB GOTTES


I.
Wacht auff jhr schöne vögelein /
Jhr Nachtigalen kleine /
Die jhr auff grünen zweigelein /
Noch eh die Sonn recht scheine /
Stimmt an die lautbar schnäbelein /
Gedräht von helffenbeine.


II.
Her / her / gefedert Schwesterlein /
Euch samblet zur gemeine/
Blaßt an die beinen psälterlein31 /
Jhr sämbtlich keusch vnd reine.
Lobt GOTt / lobt GOTt / jhr vögelein /
Jhr / Jhr / vnd all die seine.


III.
Lobt GOTt / jhr süsse schwetzerlein /
Jhr Nachtigalen kleine /
Jhr lufft- vnd wolcken-Sängerlein /
Für jhn bestelt alleine /
Mit euch zun besten liedelein
Jch harpff vnd Laut vereine.


IV.
Ich euch zu lieb / jhr pfeifferlein /
An holer Eichen leine32 /
Vnd euch die wilde färbelein33
Mit worten klar bescheine34;
Laßt gahn die klinglend stimmelein /
Zum tieffen wald hineine.


V.
Da seind viel klarer brünnelein /
Gefaßt in marmersteine /
Dort netzet vor die züngelein /
Nach ordnung ein / vnd eine;
Da spület hälß- vnd gürgelein /
Drauff besser singt jhr kleine.


VI.
Den Tact gebt mit den flügelein /
So schickt sichs recht /jhr feine;
Auch frewdig schwingt die federlein /
Wegt ärmelein vnd beine /
Erstreckt zum klang das hälselein /
Ein jedes thu das seine.


VII.
Habt jhr kein sonders Liedelein /
So lernet nur das meine /
Jst gnug mit einem seufftzerlein /
Man darff der ander keine.
Singt nur allein: Gelobt sey GOTT /
GOTT Sabaoth35 alleine.


VIII.
Zu tausentmal gelobt sey GOTT /
GOTT Sabaoth alleine:
Zu tausent-tausent-tausent-mal /
GOTT Sabaoth alleine /
Vnd dan noch tausent-tausent-mal
GOTT Sabaoth alleine.

IX.
Singt nur diß eintzig liedelein /
Das stücklein das ich meine:
Singt / singt / vnd klingt / jhr vögelein;
Dan ich für frewden weine:
Bin wund von süssem Liedelein /
Was hilfft daß ichs verneine?


X.
Fliegt hinn durch alle wäldelein /
Bleibt tag vnd nacht beyn eine36 /
Singt jmmer nur diß liedelein /
Bey Sonn- vnd Mone-scheine /
Gelobt sey Gott / Gott Sabaoth /
Gott Sabaoth alleine.


XI.
Sonn / Mon / vnd lützel37 Sternelein /
Wie gäntzlich ich vermeine /
Mit sampt der Erden pfläntzelein
Laub / graß / busch / heck / vnd zäune /
Thun werden ein schöns täntzelein /
Daß höll vnd Teuffel greine.


XII.
Frewd bringen wirds den Engelein /
Den bösen bringt es peine;
Drumb singt jhr schöne vögelein /
Jhr Nachtigalen kleine /
Also will Gott gelobet sein /
Gott Sabaoth alleine.


XIII.
Gelobt sey Gott / Gott Sabaoth
Singt tausentmal alleine /
Gelobt sey Gott / Gott Sabaoth /
Noch tausentmal alleine;
Vnd dan noch tausent / tausentmal /
Gott Sabaoth alleine.

Bekannt ist Paul Gerhardts „Sommergesang" von 1653. Gerhardt (1607-1676) war Pastor an der Berliner Nicolaikirche und stellte sich aus theologischen Gründen gegen seinen Landesherrn, den Großen Kurfürsten. Er hat eine Fülle von Kirchenliedern geschrieben, die neben denen Luthers die bedeutendsten der evangelischen Kirchenliedgeschichte sind. Das Sommerlied bezieht sich im ersten Teil, den Strophen 1-6, ganz auf die schöne Phänomenalität des Wachsenden und Blühenden. In Strophe 7 findet ein Übergang statt zu den Strophen 8 – 15, in denen diese Phänomenalität aus der Sicht des „ich“ zur Metapher des geistlichen Wachsens und Blühens wird, das sich erst im ewigen Leben vollendet.


SOMMERGESANG

Mel. Den Herren meine seel erhebt.

 


1. Geh aus / mein hertz / und suche freud Jn dieser lieben sommerzeit An deines Gottes gaben: Schau an der schönen gärten zier Vnd siehe / wie sie mir und dir Sich außgeschmücket haben.
2. Die bäume stehen voller laub / Das erdreich decket seinen staub Mit einem grünen kleide Narcissus und die Tulipan / Die ziehen sich viel schöner an / Als Salomonis seyde.
3. Die lerche schwingt sich in die luft / Das täublein fleugt aus seiner kluft / Vnd macht sich in die Wälder. Die hochbegabte nachtigal Ergötzt und füllt mit jhrem schall / Berg / hügel / thal und felder.
4. Die glucke führt jhr völcklein aus / Der storch baut und bewohnt sein haus / Das schwälblein speist die jungen / Der schnelle hirsch / das leichte reh Jst froh und kömmt aus seiner höh Jns tiefe graß gesprungen.
5. Die bächlein rauschen in dem sand Vnd mahlen sich in jhrem rand / Mit schattenreichen myrthen / Die wiesen ligen hart dabey / Vnd klingen gantz vom lustgeschrey Der schaf und jhrer hirten.
6. Die unverdroßne bienenschaar Fleucht hin und her / sucht hie und dar Jhr edle honigspeise. Des süssen weinstocks starcker saft Bringt täglich neue stärck und kraft / Jn seinem schwachen reise.
7. Der weitzen wächset mit gewalt / Darüber jauchzet jung und alt Vnd rühmt die grosse güte Des / der so überflüssig labt / Vnd mit so manchem gut begabt Das menschliche gemüthe.
8. Jch selbsten kan und mag nicht ruhn / Des grossen Gottes grosses thun Erweckt mir alle sinnen / Jch singe mit / wenn alles singt / Vnd lasse / was dem Höchsten klingt Aus meinem hertzen rinnen.
9. Ach denck ich / bist du hier so schön Vnd läßst dus uns so lieblich gehn / Auf dieser armen erden / Was wil doch wol nach dieser welt / Dort in dem vesten himmelszelt Vnd güldnem schlosse werden.
10. Welch hohe lust / welch heller schein / Wird wol in Christi garten seyn / Wie muß es da wol klingen / Da so viel tausent Seraphim38 / Mit unverdroßnem mund und stimm / Jhr Alleluja singen.
11. O wär ich da! o stünd ich schon / Ach süsser Gott / für deinem thron Vnd trüge meine palmen: So wolt ich nach der Engel weis / Erhöhen deines Namens preis Mit tausent schönen psalmen.
12. Doch gleichwol wil ich / weil ich noch Hier trage dieses leibes joch / Auch nicht gar stille schweigen / Mein hertze soll sich fort und fort / An diesem und an allem ort Zu deinem lobe neigen.
13. Hilf mir und segne meinen Geist Mit segen / der vom himmel fleußt / Daß ich dir stetig blühe / Gib / daß der sommer deiner gnad Jn meiner seelen früh und spat Viel glaubensfrücht erziehe.
14. Mach in mir deinem Geiste raum / Daß ich dir werd ein guter baum / Vnd laß mich wol bekleiben39 / Verleihe / daß zu deinem ruhm Jch deines gartens schöne blum Vnd pflantze möge bleiben.
15. Erwehle mich zum Paradeis Vnd laß mich bis zur letzten reis An leib und seele grünen / So wil ich dir und deiner ehr Allein / und sonsten keinem mehr / Hier und dort ewig dienen.


Der bedeutendste Lyriker des Barock, vielleicht der bedeutendste deutsche Barockdichter überhaupt, ist Andreas Gryphius, geboren 1616, gestorben 1664, in Schlesien lebend. Er machte Bildungs- und Studienreisen durch Europa und war dann Syndikus der Landstände in seiner Vaterstadt Glogau. In seiner Lyrik sind insbesondere die Sonette eindrucksvoll, die er in strenger Form zur Darstellung barocker Spannung und ihrer Aufhebung gebrauchte. Das folgende Gedicht „Einsambkeit", 1650 gedruckt, ist geradezu der Gegensatz zu Gerhardts „Sommergesang" und trifft sich doch mit diesem in der durchgehenden Metaphorizität alles Naturhaften.


EINSAMBKEIT


IN dieser Einsamkeit / der mehr denn öden wüsten /
          Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemößte See:
          Beschaw' ich jenes Thal vnd dieser Felsen höh'
Auff welchem Eulen nur vnd stille Vögel nisten.


Hier / fern von dem Pallast; weit von deß Pövels lüsten /
          Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh'
          Wie auff nicht festem grund' all vnser hoffen steh'
Wie die vor abend schmähn / die vor dem Tag vnß grüßten.

          Die Höell / der rawe wald / der Todtenkopff / der Stein /
          Den auch die zeit auffrist / die abgezehrten bein.
Entwerffen in dem Mut vnzehliche gedancken.
          Der Mauren alter grauß / diß vngebaw'te Land
          Ist schön vnd fruchtbar mir / der eigentlich erkant /
Das alles / ohn ein Geist / den GOt selbst hält / muß wancken.


Ich, Welt, Gott sind eine Dreiheit, die im Barock eine ständige Spannung bedeutet. Sie kann mystisch, sie kann in orthodoxer Gläubigkeit, sie kann als Verzweiflung, sie kann als Stoizismus erscheinen, immer wird sie in einem metaphorischen Sprechen vermittelt werden, das jedes Einzelne aus seiner Vereinzeltheit heraushebt.
Wir kommen zu Angelus Silesius, dem Übernamen Johann Schefflers, nach seiner berühmten Epigrammsammlung auch der „Cherubinische Wandersmann" (Erstausgabe Buch 1-5 1657; Ausgabe von 1675 ergänzt um Buch 6) genannt. Scheffler (1624-1677) war Arzt, er trat vom Protestantismus zum Katholizismus über. Er war ebenso Polemiker wie Mystiker und seine Epigramme, eine für das Barock wichtige Form, bezeugen die Eindringlichkeit dieser Mystik, die dank der Form des Epigramms aber nicht vage, sondern sehr pointiert erscheint.
 

CHERUBINISCHER WANDERSMANN


           Gott lebt nicht ohne mich.


Ich weiß daß ohne mich GOtt nicht ein Nun kan leben /
Werd' ich zu nicht Er muß von Noth den Geist auffgeben.


            Die Rose.

 

Die Rose / welche hier dein äußres Auge siht /

Die hat von Ewigkeit in GOtt also geblüht.


            Ohne warumb.


Die Ros' ist ohn warumb / sie blühet weil sie blühet /
Sie achtt nicht jhrer selbst / fragt nicht ob man sie sihet.


             Zufall und Wesen.


Mensch werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht /
So fällt der Zufall weg / das wesen das besteht.


             Das jnnere bedarf Nicht deß äuseren.


Wer seine Sinnen hat ins jnnere gebracht /
Der hört was man nicht redt / und siehet in der Nacht.

              Beschluß.


Freund es ist auch genug. Im fall du mehr wilt lesen/
So geh und werde selbst die Schrifft und selbst das Wesen.


„Wesen", „wesentlich" sind zentrale Kategorien dieser Epigramme. Wesen ist die eigentliche Bedeutung eines jeden (Gott, Rose, Mensch), die dann erscheint, wenn es als Schrift begriffen, gelesen wird.

Die nächsten drei Gedichte bezeugen die starke Selbstreflexion des lyrischen Ich in der barocken Lyrik. Hier geht es um nichts weniger denn um Geselligkeit und Öffentlichkeit.
Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694) ist eine der wenigen Lyrikerinnen des Barock. Ihr Sonett „Auf meinen bestürmeten Lebens=Lauff“ (1662) zeigt in der viel genutzten Metaphorik der Schiffahrt das Leben als ständig bedrohtes und nur religiös zu bewältigendes.

AUF MEINEN BESTÜRMETEN LEBENS=LAUFF


         Wie sehr der Wirbelstrom so vieler Angst und plagen
mich drähet um und um / so bistu doch mein Hort /
mein mittel punct / in dem mein Zirkel fort und fort
mein Geist halb hafften bleibt vom sturm unausgeschlagen.


         Mein Zünglein stehet stät / von Wellen fort getragen /
auf meinen Stern gericht. Mein Herz und Aug' ist dort /
es wartet schon auf mich am Ruhe=vollen Port40:
dieweil muß ich mich keck in weh und See hinwagen.


         offt will der Muht / der Mast / zu tausend trümmern springen.
Bald thun die Ruder=Knecht / die sinnen / keinen Zug.
Bald kan ich keinen Wind in glaubens=Segel bringen.

         jetz hab ich / meine Vhr zu richten / keinen fug.
Dann wollen mich die Wind auf andre zufahrt dringen,
bring' an den Hafen mich / mein GOtt / es ist genug!


Bei dem letzten Barocklyriker, bei Johann Christian Günther (1695-1723), ist in einem Gedicht aus 7 Großstrophen mit je 10 Zeilen von dieser Bewältigung die Rede kaum noch. Günther, noch im Vers des Alexandriners dem Barock zugewandt, ist gleichzeitig in der Haltung seiner Gedichte schon viel Späterem, etwa dem Sturm und Drang, nahe. Nirgendwo finden wir in der Zeit so drastisch den Ausdruck der Verzweiflung, der erst in der letzten Strophe sich in den ganz leiser Hoffnung verändert. Seine Gedichte erscheinen erst nach seinem Tode 1724 - 1735. Das vorliegende Gedicht entstand 1720.


ALS ER DURCH INNERLICHEN TROST BEY DER UNGEDULT GESTÄRCKET WURDE


GEDULT, Gelaßenheit, treu, fromm und redlich seyn,
Und wie ihr Tugenden euch sonst noch alle nennet,
Verzeiht es, doch nicht mir, nein, sondern meiner Pein,
Die unaufhörlich tobt und bis zum Marcke brennet,
Ich geb euch mit Vernunft und reifem Wohlbedacht,
Merckt dieses Wort nur wohl, von nun an gute Nacht;
Und daß ich euch gedient, das nenn ich eine Sünde,
Die ich mir selber kaum jemahls vergeben kan.
Steckt künftig, wen ihr wollt, mit euren Strahlen an,
Ich schwöre, daß ich mich von eurem Ruhm entbinde.

Ihr Lügner, die ihr noch dem Pöbel Nasen dreht,
Von vieler Vorsicht schwazt, des Höchsten Gnad erhebet,
Dem Armen Trost versprecht und, wenn ein Sünder fleht,
Ihm Rettung, Rath und Kraft, ja, mit dem Maule gebet,
Wo steckt denn nun der Gott, der helfen will und kan?
Er nimmt ja, wie ihr sprecht, die gröbsten Sünder an:
Ich will der gröbste seyn, ich warthe, schrey und leide;
Wo bleibt denn auch sein Sohn? Wo ist der Geist der Ruh?
Langt jenes Unschuldskleid und dieses Kraft nicht zu,
Daß beider Liebe mich vor Gottes Zorn bekleide?

Ha, blindes Fabelwerck, ich seh dein Larvenspiel.
Dies geb ich auch noch zu: es ist ein ewig Wesen,
Das seine gröste Macht an mir nur zeigen will
Und das mich obenhin zur Marter auserlesen;
Es führt, es leitet mich, doch stets auf meinen Fall,
Es giebt Gelegenheit, damit es überall
Mich rühmlich strafen kan und stets entschuldigt scheine.
Bisweilen zeigt es mir das Glücke, recht zu gehn,
Bald läst es mich in mir dem Guten widerstehn,
Damit die frömmste Welt das Ärgste von mir meine.


Aus dieser Quelle springt mein langes Ungemach:
Viel Arbeit und kein Lohn als Kranckheit, Haß und Schande.
Die Spötter pfeifen mir mit Neid und Lügen nach,
Die Armuth jagt den Fuß aus dem und jenem Lande,
Die Eltern treiben mich den Feinden vor die Thür
Und stoßen mich - o Gott, gieb Acht, sie folgen dir -
Ohn Ursach in den Staub und ewig aus dem Herzen.
Mein Wißen wird verlacht, mein ehrlich Herz erdrückt,
Die Fehler, die ich hab, als Laster vorgerückt,
Und alles schickt sich recht, die Freunde zu verscherzen.


Ist einer in der Welt, er sey mir noch so feind,
An dem ich in der Noth kein Liebeszeichen thäte,
Und bin ich jedem nicht ein solcher wahrer Freund,
Als ich mir selbst von Gott, erhört er andre, bethe,
Hat jemand auf mein Wort sein Unglück mehr gefühlt,
Hat boßheitsvoller Scherz mit fremder Noth gespielt
Und hab ich unrecht Gut mit Vorsaz angezogen,
So greife mich sogleich der bösen Geister Bund
Mit allen Martern an, wovon der Christen Mund
Schon über tausend Jahr den Leuten vorgelogen.


Was wird mir nun davor? Ein Leben voller Noth.
O daß doch nicht mein Zeug aus Rabenfleisch entsproßen,
O daß doch dort kein Fluch des Vaters Lust verboth,
O wär doch seine Kraft auf kaltes Tuch gefloßen!
O daß doch nicht das Ey, in dem mein Bildnüß hing,
Durch Fäulung oder Brand der Mutter Schoos entgieng,
Bevor mein armer Geist dies Angsthaus eingenommen!
Jezt läg ich in der Ruh bey denen, die nicht sind,
Ich dürft, ich ärmster Mensch und gröstes Elendskind,
Nicht stets bey jeder Noth vor größrer Furcht umkommen.


Verflucht sey Stell und Licht! - - Ach, ewige Gedult,
Was war das vor ein Ruck von deinem Liebesschlage!
Ach, fahre weiter fort, damit die große Schuld
Verzweiflungsvoller Angst mich nicht zu Boden schlage.
Ach Jesu, sage selbst, weil ich nicht fähig bin,
Die Beichte meiner Reu; ich weis nicht mehr wohin
Und sincke dir allein vor Ohnmacht in die Armen.
Von außen quälet mich des Unglücks starcke Fluth,
Von innen Schröcken, Furcht und aller Sünden Wut;
Die Rettung ist allein mein Tod und dein Erbarmen.


Stoisch dagegen ist der Grundton des 1641 gedruckten Sonetts von Paul Fleming (1609-1640), des wichtigsten Schülers von Opitz. Seine (deutschen) Gedichte wurden postum veröffentlicht.


AN SICH

 

          Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.
Weich keinem Glücke nicht. Steh' höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir/ und acht es für kein Leid/
hat sich gleich wider dich Glück’ / Ort / und Zeit verschworen.

          Was dich betrübt und labt/ halt alles für erkohren.
Nim dein Verhängnüß an. Laß' alles unbereut.
Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.
Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren.

          Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.
Diß alles ist in dir / Laß deinen eiteln Wahn /
          und eh' du förder gehst / so geh' in dich zu rücke.
Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kann /
dem ist die weite Welt und alles unterthan.

Wir sehen, wie auch im Barock zwei jung verstorbene Dichter völlig unterschiedlich eine Situation äußerster Belastung im Gedicht aufnehmen. -

Die beiden nächsten Texte sind in der Thematik sehr verwandt (beide sprechen von der vanitas, der Eitelkeit als Nichtigkeit), obwohl das erste (1679 gedruckt) ganz weltimmanent, das zweite (von 1637, hier in der Fassung von 1643) in der letzten Zeile welttranszendierend ist. Das erste Gedicht stellt die vanitas in Vorstellungen dar, die in sich kontrastieren, das zweite in Vorstellungen, die einen Umschlag darstellen. Das erste Gedicht schrieb Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1617-1679), der Lyriker des Hochbarock, das zweite Andreas Gryphius.


DIE WELT


WAs ist die Welt / und ihr berühmtes gläntzen?
Was ist die Welt und ihre gantze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurtzgefasten Gräntzen /
Ein schneller Blitz bey schwartzgewölckter Nacht.
Ein bundtes Feld / da Kummerdisteln grünen;
Ein schön Spital / so voller Kranckheit steckt.
Ein Sclavenhauß / da alle Menschen dienen/
Ein faules Grab / so Alabaster deckt.
Das ist der Grund / darauff wir Menschen bauen /
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm Seele / komm / und lerne weiter schauen /
Als sich erstreckt der Zirckel dieser Welt.
Streich ab von dir derselben kurtzes Prangen /
Halt ihre Lust vor eine schwere Last.
So wirstu leicht in diesen Port41 gelangen /
Da Ewigkeit und Schönheit sich umbfast.


ES IST ALLES EITELL


DU sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auff erden.
            Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein:
            Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.
Was itzund prächtig blüht sol bald zutretten werden42.
            Was itzt so pocht vndt trotzt ist morgen asch vnd bein.
            Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.
Itz lacht das gluck vns an / bald donnern die beschwerden.
            Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
Soll den das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.
Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten/
             Als schlechte nichtikeitt/als schaten staub und windt.
             Als eine wiesen blum/ die man nicht wiederfindt.
Noch will was ewig ist kein einig mensch betrachten.

Anmerkungen:
30 Die Gespons: die Braut, die Gemahlin, die Seele als Gottes Braut, die Kirche als Braut Christi
(Grimmsches Deutsches Wörterbuch).
31 beinen psälterlein: „Saiteninstrument von harfenähnlicher gestalt“ (Grimms Deutsches Wöterbuch),
das hier mit dem Vogelschnabel identifiziert wird.
32 holer Eichen leine: an hohler Eiche lehne.
33 die wilde färbelein: „Töne, welche die Färbung des nachfolgenden Gesangs angeben“ (Spee, HKA Bd. 1, S.474; 5, S.33).
34 Mit worten klar bescheine: klar zeige.
35 Sabaoth: hebr. talm. Zebaoth: „Heerscharen““ hier Gott der Heerscharen.
36 beyn eine: zusammen.
37 lützel: klein, gering.
38 tausent Seraphim: himmlische Wesen, Engel, die Jahwe umschweben, mit den Cherubim zusammen das Trishagion singen („Heilig, heilig, heilig…“).
39 bekleiben: bekleiden.
40 Port: lat.-frz. Hafen, Ziel, Ort der Geborgenheit, Sicherheit.
41 Port: s. Anm. 40: Auf meinen bestürmeten Lebens=Lauf.
42 sol bald zutretten werden: zertreten, vernichtet werden.


VON DER GEGENWART:


Einigkeit und Recht und Freiheit
Vom deutschen Vaterland
Einfache Sprüche

Politik

In Deutschland gibt es Parteien.
Schweigen wir.
In Deutschland wird regiert.
Schweigen wir.
In Deutschland macht man Gesetze.
Schweigen wir.
In Deutschland reden sie.
Schweigen wir.

Verwaltung

Die Verwaltungen sagen,
wie es sein muß:
Stuß.
Sie sagen selten,
wie es ist:
Mist.

Industrie

Die Industrien produzieren,
was keiner braucht.
Damit es doch jemand braucht,
bestechen etliche etliche.
Denn es geht gar nicht um Produktion,
sondern um Korruption.

Banken

Die meisten Banken
wanken
im Westen und im Osten
auf unsere Kosten.

Aber die Vorstände grinsen
und gewähren sich hohe Gehälter
und den Kreditnehmern höhere Zinsen.
Das ist die Wahrheit der Binsen.

Verkehr

Wie der Verkehr aussieht,
kann man jeden Morgen
an den Meldungen
über verstopfte Autobahnen lernen ,
die v.a. aus Baustellen bestehen,
an denen nichts geschieht,
es sei denn,
eine Straßenbaufirma
hat etwas Holpriges
für unser Geld
hingelegt

Bundesbahn

Hinter jedem
verspäteten und verdreckten Zug
muß man Herrn Mehdorn sehen,
hinter all dem Durcheinander,
hinter all der Unfähigkeit:
Herrn Mehdorn,
gestützt von einem Manne namens Tiefensee.

Universitäten

Die Universitäten
zappelten an den Drähten
der Achtundsechziger.
Jetzt sind die Administrationen mächtiger
und tun, was sie immer schon taten:
sie beraten.

Schulen

In den Schulen
wird alles besprochen
und ausgesprochen
und berochen
und bestochen
und gestochen
und nichts gelernt.

 

Polizei

Die Polizei läßt sich alles melden.
Dann trinkt sie Kaffee.
Dann berät sie.
Dann steigt sie in den Streifenwagen:
schwierige Lagen.
Meist fängt sie keinen.
Manchmal erwischt sie einen,
aber selten.


Justiz

Die Richer richten,
meist auf Bewährung.
Dann gehen sie zur eigenen Ernährung
nach Hause.


Jugendkriminalität

Wenn ein Fünzehnjähriger 30 und ein Siebzehnjähriger 70 Rechtsbrüche begehen, wird man ernsthaft mit ihnen reden und auch mit den Eltern
und warten, bis sie 40 oder 80 Rechtsbrüche begangen haben.


Medien

Die Medien
predijen
und sensationieren
statt zu informieren.
Im übrigen machen sie fun:
na dann!

Fernsehen

Das Fernsehen sorgt für die Dümmsten.
Die einen benutzen dazu „unser gutes Recht“,
die anderen verdienen daran nicht schlecht.
Sie diskutieren stets:
Geht’s
noch blöder
oder noch öder -
die Braven.
In der Technik wird derweil geschlafen


Sport

Der Sport
hat immer das Wort
und das Geschrei.
Sonst ist nichts dabei.

Leute

Sie sind unterwegs.
Sie machen mit.
Sie sind dafür.
Sie klatschen.
Sie schunkeln.
Dann sind sie betrunken
Dann hauen sie sich.
Dann ziehn sie die Messer.
So wird alles besser.

Das deutsche Volk

in allen seinen Stämmen,
in allen seinen Landen,
in allen Städten und Dörfern,
in Berg und Tal.,
an Alpen und Meer

guckt zu.

Die Deutschen wollen

sich nicht anstrengen,
Spaß haben,
nett sein,
alles verstehen,
alles vergessen,
noch mit dem Teufel gut auskommen
(wie mit Hitler und Honecker)
und zugucken.

Vergangenheit


Viele haben einen Opa,
der dabei war
da und dort in Europa,
wohin sie heute reisen,
aber jedes Schießen vermeiden.
Sie müßten sonst vielleicht leiden
im Gegensatz zum Opa.
Sie sind tolerant
in jedem Land
von Europa bis China.

Im Ganzen

Sie brausen im Auto.
Sie ballen sich.
Sie rennen durcheinander.
Sie schlafen.


VOM (EINSTIGEN) LEBEN
Die Anfänge in M.:1968 - 1972

Am 7. Juli 1967 hielt Theodor Adorno an der Freien Universität Berlin einen Vortrag „Zum Klassizismus von Goethes ‚Iphigenie’“. Ich habe eingetragen „abds Adorno“, aber für 13 h taucht wohl zum ersten Mal der ominöse Begriff „Vollversammlung“ auf. Es war wenige Wochen nach den Unruhen um den Schah-Besuch, v.a.nach den tödlichen Schüssen auf den Studenten Benno Ohnesorg.
Inzwischen war es zu Anklagen gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel wegen Aufforderung zur Brandstiftung gekommen: ein Großbrand in einem Brüsseler Warenhaus war auf einem Flugblatt mit dem Protest gegen den Vietnam-Krieg verbunden worden.
So ernsthaft und aufregend die Vorgänge um den Besuch des Schahs waren, so fragwürdig war die Verbindung von Kaufhausbrand und Krieg, und zwar durch zwei Studenten, die nie durch irgendwelche ernst zu nehmenden Reflexionen aufgefallen waren, sondern allenfalls durch pubertäre Feixereien. Teufel hatte in einem Kleist-Seminar, das ich abhielt, nicht eine interessante, auch keine absurde Arbeit geschrieben, sondern eine der vielen ganz und gar durchschnittlichen. Dies charakterisiert ihn als einen der führenden Leute innerhalb der studentischen Aufstände. Er gehörte sicherlich zu einem der kleineren Zirkel, nämlich zu einem der Clowns, war aber selbst keineswegs ein besonders begabter, sondern sah einfach eine Chance aufzufallen darin, sich als Clown zu geben. Nicht von ungefähr überlieferte er sich in einem einzigen Zitat. Die Aufforderung, bei Erscheinen des Gerichts aufzustehen, beantwortete er mit der Bemerkung „Wenn es der Wahrheitsfindung dient“. Journalismus und Jugend fanden dieses Zitat hoch bemerkenswert.
Doch es ist ein Beispiel dafür, welcher Grad von Reflexion schon ganz zu Anfang der Achtundsechziger genügte, um den Eindruck einer kraftvollen und ins Ziel treffenden Opposition zu erzeugen.
Kein Wort, daß die Schwäche und vollkommene Einfallslosigkeit der juristischen und administrativen Dirigenten verteidigen soll, aber die Attacken der jungen Leute gingen von Anfang an nur selten über Pubertäres hinaus, von dem ja auch die heutigen Bildmontagen des Fernsehens am liebsten gespeist werden, selten waren es mehr - und damit kommen wir zum entscheidenden Punkt – als Verbalinfamien, die sich anfangs durch die Nähe, später durch den Zusammenhang mit Gewaltaktionen auszeichneten. So zitiert Friedemar Apel in einem Artikel der FAZ vom 8.Mai 2008, dem ich einige Erinnerungen verdanke,den Ton jener ganz frühen Achtundsechziger. Sie sprechen hinsichtlich des Vortrags Adornos vom „großen Zampano der Wissenschaft“, der „druckreife Sätze auskotzen“ werde, während sie „nur noch den Worten des großen Vorsitzenden Mao, den Parolen der Revolution“ „lauschen“. Das war die Art der Befreiung, die sie meinten und von denen noch heutige Erinnerungsbücher schwärmen.
Es muß jetzt schon gesagt werden, daß es sich nicht nur um aggressive, sondern um bösartig aggressive Leute handelte, die nie einen eigenen Gedanken gehabt hatten, aber gern bereit waren dreinzuschlagen, weil dies die einzige Weise war, wie sie Feixereien und Langeweile überwinden konnten. Daß hier die Tore aufgestoßen wurden zu einer neuen Ära, stimmt nur insofern, als diese Ära sich unter die Ägide einer sehr alten, eben nur handgreiflichen und mit unverstandenen Formeln hantierenden Barbarei stellte.


In der Provinz, in die ich nun gehen mußte, ging es bald nicht anders zu als in der Hauptstadt der Revolution. Mir fallen zunächst drei Namen ein, die in der Germanistik von M. den barbarischen Ton angaben und vor allem, uns, den Lehrenden, vor allem den Professoren die Zeit stahlen.
In der Fachbereichskonferenz, einem Gremium, das die Fakultät ablöste, führten sie stundenlang das große, das großsprechende Wort und sorgten für eine krakeelende Mannschaft, die jede sinnvolle Diskussion von allem Anfang an unmöglich machte.
Sie hießen Damann - ein Bürokratentyp, den ich den Molotow der Studentenrevolution nannte - Neumann, den ich einen Provinzpiraten hieß und dessen schlechtes Benehmen vorbildlich wurde - und der blonde Höhler, der seit Jahren als Rundfunk-Korrespondent auf dem Peloponnes sitzt, aber damals stärker den HJ-Gebietsführer vorstellte als Repräsentant einer an die Nazi-Studentenbewegung gemahnenden Truppe, an die Götz Aly erst wieder erinnerte.
Sie und ihre Leute hielten „Vollversammlungen“ ab und waren destruktiv.
Im Juni ’69 tagte die Philosophische Fakultät u.a., um den Vortrag von Wolfgang Harms innerhalb seines Habilitationsverfahrens anzuhören und zu bewerten. Diese für jedermann schwierige Situation hielt die Meute aber nicht davon ab, den geplanten Angriff auf die Fakultät auszuführen. Zunächst versammelten sich Studenten vor der Tür zum Fakultätsflur. Assistenten übernahmen die Verteidigung, die alsbald nötig wurde. Es kam zum Ringkampf. Nach dem Ende der Habilitation wurde um ca 21,40 h die Tür zum Fakultätsflur aufgebrochen, an die Tür zum Dekanat gehämmert, mit Zangen, Scheren, Schraubenziehern manipuliert. Einer der Einbrecher rannte gegen die Tür, um sie aufzubrechen. Die Polizei erschien und ging ziemlich hart gegen die Angreifer vor. Aber es gab dennoch Steinwürfe gegen das Fakultätszimmer vom Platz vor dem Fürstenberghaus aus, Fenster zerbrachen. Da die ganze Front des Sitzungszimmers aus Fenstern besteht, mußte man sich innerhalb des Sitzungsraums sichern. Gegen 24 h verließen die Fakultätsmitglieder über eine Seitentreppe das Füstenberghaus.

So unschön solche Vorfälle waren, man wird heute sagen, daß im Laufe der Zeit viel Schlimmeres sich zeigte, man wird auch einräumen, daß in anderen Bereichen der Universität alles ruhig blieb. Aber man wird auch merken müssen, daß die hier sich äußernde Gewaltbereitschaft, einmal erschienen, nicht wieder schwand, sondern zur Alltagsnormalität wurde. Die heutige Interpretation, vor allem in Zeitungen und Zeitschriften, redet gern von Befreiungen, Auflösung von Verkrustungen u.ä., aber stellt sich nie der Frage, wie es denn mit der Bereitschaft und der Exekution von Gewalt war, die verbal begann, sich handfest bis zu den Taten der RAF steigerte und an die Jahre seit 1932 erinnerte.
Vor allem veränderte sie den Zustand einer ruhigen wissenschaftlichen Arbeit, wie sie in den fünfziger Jahren sich wieder konsolidiert hatte, sicher unter Verdrängung einer nazistisch dirigierten Universität.
Das Leben des einzelnen Wissenschaftlers, der Professor wird, ist ja durch die Etablierung in Haus, Institut und Gesamtuniversität genügend belastet. Natürlich klappte wie üblich schon auf dieser Ebene das meiste nicht. So fehlte die Einrichtung des Dienstzimmers, in der Verwaltung übernahm niemand dafür die Verantwortung. Alsdann mußten irgendwo erste Gespräche mit den neuen Mitarbeitern geführt werden, eine Vorlesung über das 18. Jahrhundert war vorzubereiten, mit den (wesentlich älteren) Kollegen waren Gespräche über das Institut zu führen, die Vorstellung im Senat und beim Kurator stand an. Dazu kamen private Sorgen wie die schwere Krankheit des Vaters. Zu einer Taufe wurde man als Pate gebeten.
Alles übliche, aber kraftfordernde Tätigkeiten, zu denen alsbald Fakultäts- und Konventssitzungen kamen, erste Habilitationen und vieles andere mehr. Aber damit war es nun nicht mehr getan. Einer der Assistenten hatte vom Berliner Germanistentag und seinem Chaos berichtet, und dies war das neue Stichwort. Schon gründete man einen Arbeitskreis Studienreform, das Ministerium hatte unserem Massenfach Stellen für Studienräte im Hochschuldienst zugesprochen, die ganz schnell besetzt werden mußten. Und während noch Korreferate für Dissertationen zu verfassen waren, mußte eine neue Assistentin, eine neue Sekretärin eingestellt werden, bildete sich und tagte eine Lehrkörperkonferenz, organisierte man die Universität um, mußte auf Briefe der (studentischen) Fachschaft geantwortet werden, lud der Rektor zu Gesprächen über die neue Universitätsverfassung ein, kam der Leiter der Hochschulabteilung des Ministeriums zu uns.
Die neue Verfassung wurde an verschwiegenem Ort angenommen. Man fand sie in manchem so bedenklich , daß man Einspruch erhob.
Was immer man aber tat, es hatte schon das Zeichen der Vergeblichkeit an sich, denn daß es bei allem um eine große und sehr verletzliche Institution, eben die Universität ging, interessierte eigentlich keinen. Während ein kleinerer Teil der Studentenschaft gern ihr Studium fortgesetzt hätte, aber zu schwach war, diesen Wunsch durchzusetzen, hatten sich die Vollversammlungsideologen etabliert, deren Chefs u.a. die oben Genannten waren, die nach unveränderlichen autoritären Mustern Anhänger brauchten und schufen und mit ihnen ‚revolutionäre Akte’ unternahmen. Die begannen in der Entzivilisierung und Unverschämtheit, zeigten sich alsbald in der sogenannten „Gewalt gegen Sachen“, die v.a. in Schmierereien sich bewährte und ging dann in „Gewalt gegen Personen“ über. Kurz, man benahm sich bengelhaft und feierte dies als Tat. Die, garniert mit der Ödnis von gestanzter Phraseologie, war schon das Ganze. Aber es genügte natürlich, um ein Gebilde, das vornehmlich argumentativ auftrat, zu zerstören und an seine Stelle einen Massenbetrieb zu setzen, in dem alles akzeptiert wurde, wenn es auch nur den Schein des Artikulierten hatte.
Das war natürlich nur möglich, wenn die Verfasser des Unsinns auf Kollegen stießen, die ihnen derlei als intellektuelle Leistung abnahmen. Im Dezember 1970 erzählte mir ein publizistischer Privatdozent, der mit studentischer Unterstützung Prorektor geworden war, von den Forderungen eines Promovenden: sein Gutachten müsse bis zu einem bestimmten Tag fertig sein, er, der Promovend müsse es einsehen können, die Arbeit sei mit „summa cum laude“ zu bewerten. Die Forderungen des akademischen Jungmannes waren sicher interessant, interessanter aber war die Reaktion des Hochschullehrers, der die Terminforderung akzeptierte, die Einsicht in das Gutachten tapfer ablehnte und sehr stolz darauf war, daß er dem Studenten ins Gesicht gesagt hatte, er werde kein s.c.l. bekommen. Noch kurze Zeit zuvor hätte man den Burschen vor die Tür gesetzt. Etwa zur gleichen Zeit forderte der Studentenfunktionär Neumann bei einer Habilitation, man müsse dem Zusammenhang von Sexual- und Prüfungsneurosen nachspüren. Es waren aber die Vertreter der Roten Zelle, zu denen er gehörte, die wie undisziplinierte Untersekundaner den Ablauf der Habilitation gestört hatten.

Was in keiner auch der kritischen Darstellungen verzeichnet ist, ist das sich nun täglich ereignende Hickhack zwischen den und innerhalb der Gruppen. Dinge, die in friedlichen Zeiten einigermaßen friedlich abgelaufen wären, wurden nun zum Anlaß für mehr oder minder Drastisches. Unter den Professoren waren wenige eine Zeitlang einigermaßen stabil und widerstanden dem planen Unsinn, andere, oft ältere, zogen sich, soweit das ging, zurück. Die kaum mit ihren Aktivitäten beginnenden sogenannten ‚Mittelbauern’, also die Studienräte im Hochschuldienst oder Akademischen Räte, waren mehrheitlich und zunehmend der Ansicht, daß ihnen die Funktionen der Professoren gebührten und wehrten ansonsten Tätigkeiten, die ihnen nicht gefielen, entschieden ab, wollten aber von den Professoren möglichst rasch habilitiert werden. Die Studentenfunktionäre schalteten sich in alles ein, von dem sie nichts verstanden, was sich segensreich vor allem bei Berufungen auswirkte, während derer sich ein Teil der Bewerber Liebkind bei den Studentenvertretern machte, die ihrerseits entschieden der Auffassung waren, daß es vor allem auf sie und ihre Meinungen ankomme. So hatte sich ein im Umgang sanfter junger Kollege aus Berlin gemeldet, der bis dato durch keinerlei marxistische Literaturauffassung sich bemerkbar gemacht hatte, aber nun Lessings Fabeln als Darstellung des Herr-Knecht-Verhältnisses aus dem ff verstand. Die studiosi jubelten. Daß der junge Gelehrte jeweils den Jargon wählte, der gerade en vogue war, wurde von den Kollegen aufmerksam zur Kenntnis genommen, aber nur, um es für einen Kuhhandel zu benutzen, der weit über diesen Casus hinausging. So kam es zu einer von allen möglichen Interessen dirigierten Liste.
Dem Kollegen M. wurde bei den Verhandlungen von den Studenten Faschismus vorgeworfen. Sie bereiteten ein Sondervotum vor. Der Berliner Jungmann gab ihnen sein Manuskript, das nur für das Protokoll verwendet werden sollte.In der Fachbereichskonferenz, die die Liste billigen mußte, kam es zu erheblichen Störungen. Die Rote Zelle aktivierte ihre Anhänger, die in den Verhandlungssal einmarschierten. Dieser Regelverstoß wurde von den Studentenfunktionären dazu mißbraucht, zum Verwaltungsgericht zu gehen und die Abweisung der Liste zu beantragen, da sie ja in öffentlicher Sitzung, für die sie gesorgt hatten, beschlossen worden sei…
So ging es wochen-, monate-, ja jahrelang. Die Fachbereichskonferenzen verliefen in einer „Atmosphäre der Feindseligkeit und Pression. Die Studenten sind auch emotionell programmiert; sie schalten von einer Sekunde auf die andere von Zurückhaltung auf Weißglut um“. Soll man aufhören?

Im November ’71 kommt die Nachricht aus Berlin, Peter Szondis Leiche sei aus dem Halensee geborgen worden. Unser letztes sehr langes Gespräch war mit Berliner Fragen angefüllt. Er hatte sich, nachdem er anfangs viel zögernder war als ich, mit den Argumenten der Studenten identifiziert. Ich hielt ihm entgegen, es sei zu befürchten, daß aus deren Behauptungen und Forderungen nur mehr Barbarei hervorgehe als schon da sei, wir konnten uns darüber nicht einigen, sprachen von anderem, gingen freundlich auseinander.
Im Musil-Seminar hatte ich den Eindruck tiefer Literaturfremdheit, ja –feindschaft auch bei den intelligenten Teilnehmern.-

Im August 1970 geht es zum Internationalen Germanistenkongreß nach Princeton. Ich lerne dort etliche Auslandsgermanisten kennen; Herrn Rosenthal aus Sao Paulo, Herrn Zagari aus Neapel, Herrn Ziolkowski u.a. Die Großzügigkeit der Amerikaner nimmt einen gefangen.Es gibt allerlei Referate, als lebten wir in ausgeglichenen Zeiten. Ich rede über „Literatur und öffentliche Meinung“. Diskussionen, Empfänge, Ausflüge, so nach New York, eine Schiffs-Rundfahrt um Manhattan auf Einladung des Generalkonsuls. Ein Stein wird von einer Brücke auf das Schiff geworfen, jemand ist verletzt. Wieder in Princeton: die großartige Library, die Häuser von Thomas Mann, Einstein, Broch,das Schlußessen, der Gartenempfang, die Schlußversammlung. Herr Lindberg aus Las Vegas nimmt Freund W. und mich nach New York mit, wo wir im Adams, ich glaube in der 86. Straße, wohnen und in den nächsten Tagen vielerlei sehen und hören: in Theatern und Museen, beim Besuch der deutschen Lyrikerin, Frau Scharpenberg, bei Herrn Kahn von Columbia, wo Herr Urzidil von der Prager Literatur erzählt, auch von Thomas und Heinrich Mann.

Zu Hause wird ein Buch vorbereitet, Vorträge werden gehalten, Staatsarbeiten beurteilt, sonstige Gutachten geschrieben, verwaltet, wegen Hilfskraftstellen gefeilscht, neue Berufungskommissionen werden betrieben, den Genossen etwas ins Stammbuch geschrieben: Ihr nehmt ‚bürgerliche’ Argumentation in Anspruch, haltet euch selbst aber an keine Spielregel.
In Dortmund ist PEN-Versammlung, zu der ich, im vorigen Jahr in den Club gewählt, zum ersten Mal fahre. Böll ist als Verhandlungsführer sehr angenehm, aber auch hier geht es um die junge rote Garde. Die Redner heißen: Chotjewitz, Astel und Karsunke. Es gibt eine Diskussion um Klaus Manns „Mephisto“, danach ein naives Arbeiterkrippenspiel, das von allen linken Snobs gefeiert wird. Schlimm ist der Auftritt eines Arbeitgeberjünglings, dicklich und schneidig, aber ebenso schlimm ist, wie er von den Herren Dichtern behandelt wird. Nur Böll ist fair.

Wir verhalten im Mai 1972. Rainer Barzel hat versucht, Kanzler zu werden. Das gelingt nicht, aber die Lage ist schwierig wegen gleicher Stärke von Regierung und Opposition. Die Verträge mit dem Osten, um die es ja ging, können nicht abgelehnt werden, schon insofern gibt es keine freie Entscheidung. Die Tendenz zum links- oder rechtsautoritären Staat ist stärker geworden.
Für den Professor, wenn er sich nicht selbst betrügt, ist die Situation hoffnungslos: die Wirkungsmöglichkeiten und der Wirkungswille sind reduziert, die Entfernung der Studenten, ja der ganzen Gesellschaft von der Literatur als bedeutungsvoller wächst täglich. Die Studenten wissen oft gar nicht, wovon man redet.
Dennoch soll man nicht der Tendenz zum Selbstmord des Bewußtseins folgen. Zwar ändert man als einzelner nichts, selbst die Lehre kann weitgehend unmöglich werden, aber man kann sich als Energie erhalten wollen, was ein bißchen mystisch klingt, aber nicht sprachlos ist und darum nicht sinnlos. Die Universitätssituation aber ist völlig aussichtslos, die Barbarei erscheint in jeder Beiläufigkeit. Der große Terror der Nazis war nur der Anfang.


Nummer 19 (April 2008) s. Archiv

INHALT: VON DER LITERATUR: Deutsche Lyrik, kommentiert (Barock, Erster Teil). VON DER KUNST: Alle Guten, alle Bösen. VON DER GESCHICHTE: Der deutsche Sonderweg – Ein soziologischer Leserbrief zur „Linken“. VOM JOURNALISMUS: Immer daneben - Der alltägliche Sinn des Schreckens – Zeitungssätze. VON DEN MEDIEN: Dr. Günter Struve – Ein Fernsehjournalist kritisiert das öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehwesen in Deutschland – Deutsches Fernsehen. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: Die wilden Berliner Jahre 1967 – 68.

Die Nummern 1 – 19 s. Archiv

s. Register der Nummern 1 – 19 von „Zur Lage der Nation“, hrsg. von Helmut Arntzen

 

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