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Inhalt: VON DER SPRACHE: Herders Sprachdenken.
Mit Bemerkungen zu Hamann und zur Mediensprache (Zum 200.Todestag am 18.
Dezember 2003) - VON DER EPOCHE: Gräßliche alte und schöne neue Welt - VON
DEUTSCHLAND: Der Staat und sein Bürger - Warum sich in Deutschland nichts
ändern wird-Probleme des Landes, für die es keine nennenswerten
Lösungsvorschläge und -bemühungen gibt - Strukturreformen und
Alltagsbewußtsein - VOM SPORT: Und nun hat der Sport das Wort - Legenden /
Kleine Berlinreise / Ulrich Erckenbrecht, Einige Gedichte - Dem Anreger Ulrich
Erckenbrecht / VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1947
VON DER SPRACHE
Herders Sprachdenken
Mit Bemerkungen zu Hamann und zur Mediensprache
(Zum 200. Todestag am 18. Dezember 2003)
Mit den "Kreuzzügen des
Philologen" und darin mit der "Aesthetica in nuce" Hamanns
hatte alles angefangen. Der hatte sich vielfach mit der Aufklärung
auseinandergesetzt, hatte die Erweckung zu einem pietistisch tingierten
Christentum, mit dem er schon in seiner Jugend vertraut gemacht wurde, erlebt
und seit Ende der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß
Kants in Königsberg sich wieder der Aufklärung gestellt. Er begriff, daß ihm
ein reflexionsverdrängender Biblizismus so wenig half wie der gängige
Rationalismus der Epoche. In den "Sokratischen Denkwürdigkeiten"
von 1759 benennt er mit dem Namen Sokrates den Schriftstellertypus, in dessen
Art er schreiben will(ironisch genug jemanden, der nicht schrieb und nur
durch andere tradiert wurde): weder dem Mythos noch dem Begriff verpflichtet.
Er sagt, Sokrates rede "von Lesern, welche schwimmen
können", er spricht vom "Zusammenfluß von Ideen und
Empfindungen", der "desselben [Sokrates'] Sätze vielleicht zu einer
Menge kleiner Inseln [machte], zu deren Gemeinschaft Brücken und
Fähren der Methode fehlten"(Johann Georg Hamann, Sokratische
Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Ed. S.-A. Jørgensen. Stuttgart: Reclam 1968. S. 15). Das ist ein neuer Ton gegenüber der
literarischen Aufklärungsprosa und der Aufklärungsphilosophie, es ist auch
nicht der Ton der Empfindsamkeit. Aber das hat man oft schon gesagt. Wichtig
ist jetzt, daß in diesem Ton vom Philosophen und der Philosophie gesprochen
wird und daß darin die Ansätze eines neuen, ja eines ersten Sprachdenkens
erscheinen, das es bisher gar nicht gegeben hat. "Die Analogie
war die Seele seiner [Sokrates'] Schlüsse, und er gab ihnen die Ironie
zu ihrem Leibe." S. 13)
Der Philosoph, den Hamann Sokrates nennt, denkt nicht in jener traditionellen
Begrifflichkeit, die eine als Instrument verstandene Sprache zur Verfügung
stellt, sondern er denkt sprachlich, d.h. er denkt an dem entlang, was ihm
die Sprache an Darstellungsmöglichkeiten in Wort und Syntax zur Verfügung
stellt. Metaphorisch entwirft er sowohl die Vorstellung von Lesern, die sich
in der Sprache bewegen können, wie von dem, was diesen Lesern begegnet und
wie sie zu ihm gelangen bzw. zu ihm nicht gelangen können. Sie müssen
"schwimmen können", und zwar in einem "Zusammenfluß von Ideen
und Empfindungen", in dem es "Inseln" gebe, zu denen
"Brücken und Fähren der Methode fehlten". Nicht nur entsteht in
diesem metaphorischen Feld eine konsistente Vorstellung, sondern eine solche,
die dieses Denken als ein aus Sprache sich herschreibendes sichtbar macht.
Dem werde andererseits nichts an notwendiger Begrifflichkeit genommen, denn
es gehe um "Ideen und Empfindungen", Grundbegriffe des Denkens der
Zeit wie Prinzipien der Genese des Denkens überhaupt, es gehe um
"Methode", das Verfahren also, das Denken erst möglich macht, aber
nicht notwendig unter den Metaphern "Brücken und Fähren" vorzustellen
sei, sondern, da es denn um "Inseln" von Gedanken geht, das auch
‚schwimmend' geleistet werden könne, was an die Stelle des Vehikulären der
Schulmethode die Aktivität und Beweglichkeit selbständigen Denkens treten
läßt. Und dieses Denken sei seinem Kerne nach eines in Analogien, seiner
Erscheinung nach ein ironisches. Und wieder wird von zentralen Formen und
Weisen sprachlichen Denkens gesprochen.
Hamann, dem als erstem etwas aufgeht vom Denken als sprachabhängigem und
sprachförmigem, entwirft keine Sprachphilosophie, sondern gibt von Anfang an
Beispiele eines Denkens aus der Sprache, nicht irgendwelchen, sondern
solchen, die sich auf das Elementare und Prinzipielle der Sprache als
Denkpotenz beziehen.
Er sieht dieses Sprachdenken nicht in der Philosophie des Rationalismus, auch
nicht in der Kants am intensivsten verwirklicht, sondern in
"Poesie", die für ihn eine längst versunkene und gleichzeitig eine
zukünftige ist, denn "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen
Geschlechts"(S.81), heißt es in der "Aesthetica in
nuce"(1762). Von ihr aus sei Sprache zu verstehen, auf sie hin müsse
alle Sprache bezogen bleiben, wenn das "menschliche Geschlecht"
nicht redend sprachlos werden solle.
Was ist diese "Poesie"? Sie ist vor allem Kreativität in Sprache
und damit der "Schöpfung" verwandt, "die eine Rede an die
Kreatur durch die Kreatur ist" ( S.87). Was vermag diese schöpferische
Sprache? "Rede, daß ich Dich sehe"(S.87), nimmt Hamann ein altes
Dictum auf. Erscheinen könne nur, wer spreche und was als Sprechendes
vorgestellt werde. So führt Hamann thetisch, aber deutlich die Sprache als
zentrale menschliche Wirklichkeit ein, in der alles Phänomenale erscheinen
kann. Sie ist das eigentlich Menschliche: "Reden ist übersetzen - aus
einer Engelsprache in eine Menschensprache"(S. 87), denn das eigentlich
Menschliche sei der Transfer, der noch ein anderes voraussetzt als das
Menschliche, in die Weise des Menschlichen, in Sprache.
Zu Hamanns Zeit ist von Mediensprache noch nicht die Rede. Wo er
differenziert, spricht er außer von der Poesie von Wissenschaft und
Philosophie. Aber er stellt angesichts seiner Thesen über die Stellung der
Sprache implizit die Forderung nach einem Sprachgebrauch, der sich diesen
Thesen gewachsen zeigt. Das gilt sogar schon von der Alltagssprache, die mehr
sei als rasche Verständigung über das Gegenwärtige, die vielmehr den Sprecher
sichtbar mache, ihn erscheinen lasse, so daß die Menschen als Sprechende sich
realisieren oder gar nicht.
Herder orientiert sich an Hamann. Zuerst in der "Sammlung von
Fragmenten" "Über die neuere deutsche Literatur" von 1766/67,
die aus seiner Rigaer Zeit stammt. Er fragt eingangs danach, ob die Sprache
"Werkzeug"(Johann Gottfried Herder, Sprachphilosophische Schriften.
Ed. E. Heintel. Hamburg: Meiner 1960. S.91) sei für Literatur, Wissenschaft,
Philosophie, und postuliert alsbald, sie sei "mehr als Werkzeug: sie ist
gleichsam Behältnis und Inhalt der Literatur"(S.94). Und da er gleich
danach die Sprache als "unermeßliches Land von Begriffen" behauptet,
ist deutlich, daß die Metapher von "Behältnis und Inhalt" für viele
Felder der Sprache gelten soll, ja prinzipiell für alle, denn "der wahre
Sprachweise" würde sogar "eine Entzifferung der menschlichen Seele
aus ihrer Sprache" (S.95) leisten. Nicht nur erscheint der Mensch in der
Sprache, nicht nur ‚Sein und Bewußtsein' sind sprachlich, wie Hamann es
sagte, sondern auch die "Seele", das, was als Unbewußtes seit dem
Anfang des 20. Jahrhunderts uns erklärt werden sollte, sei nicht als
Sprachloses, sondern einzig als Sprechendes real. Herder bemerkt, daß
"der Gedanke am Ausdruck" "klebt"(S. 99) und daß dies
nicht nur für "Poesie und Rednerkunst", sondern auch für
"alle(n) sinnlichen Begriffe(n) in der ganzen Sprache des gemeinen
Lebens" gelte. Herder redet vor allem vom Sprachgebrauch, und zwar in
einer Art, daß die "Betrachtung der menschlichen Erkenntnis durch und
mittelst der Sprache eine negative Philosophie geben" müsse(S.99), was
schon ‚Vorklänge' von Wittgenstein hat. Die werden in der dritten Sammlung der
"Fragmente" noch einmal aufgenommen, wenn es heißt: "Begriffe
aus den gegebenen Worten entwickeln und deutlich machen, das ist
Philosophie"(S.157).
Aber erst in der durch die Preußische Akademie der Wissenschaften angeregte
"Abhandlung über den Ursprung der Sprache" von 1772 erweitert und
vertieft Herder sein Sprachdenken. Daß es keine systematische Abhandlung
geworden ist, hängt mit der Reflexionsweise Herders zusammen, aber ebensosehr
mit dem ‚Gegenstand' wie mit dem gedanklichen Neuland, das Herder betritt.
Die Frage nach dem Ursprung der Sprache verbindet er mit Entgegnungen auf
theologische Ursprungsthesen(etwa Süssmilchs), die auf einen göttlichen Plan
sich beziehen, wie auf die v.a. aus Frankreich stammenden sozialphilosophisch
-rationalistischen Thesen vom Ursprung der Sprache in einer vorsprachlichen
Gesellschaft. Daß Sprache ganz und gar ihre Geschichte, Prozeß also ist,
macht ihre ‚Gottgegebenheit' unsinnig, zumal die mit einer Vernunft
einhergehen müßte, die erst in und als Sprache entsteht. Aber interessanter
ist die Abweisung der rationalistisch-empiristischen Zeitgenossen, die hier
in der Gestalt Condillacs wie Rousseaus namhaft gemacht werden. Neben der
Nachahmung von Naturlauten soll die Entstehung der Sprache auf Kommunikation
zurückgeführt werden. Die aber ist ja nur unter den Bedingungen der Sprache
zu verstehen.
Nachahmung des naturhaften Tierlauts? "Schon als Tier hat der Mensch
Sprache"(S. 3), beginnt die Abhandlung. Aber ihre ‚Sinnlichkeit'
macht nicht die "Hauptfäden der menschlichen Sprache" aus(S.6).Herder
begreift alsbald: natürlich ist es ohne die ‚Sinne' unmöglich, von Sprache zu
reden, aber dies in der Weise zu tun, daß Instinkthaftes gleitend zu
Reflexion werde, ist absurd. Wir kennen natürlich das Erbe dieses Denkens in
der heutigen evolutionistisch programmierten Anthropologie: irgend ein
Homoïde richtet sich in der Savanne auf, das Gehirn vergrößert sich, er ißt
Fleisch etc etc, und schon entsteht aus den Naturlauten das System der
Sprache. Von diesen Trivialitäten ist das Sprachdenken Herders weit entfernt.
Es bleibt ihm zunächst ausgemacht, daß es bei aller Nähe einen gewichtigen
"Unterschied der Tiere und der Menschen" (S. 15) gibt. Negativ: der
Mensch steht dem Tier "an Stärke und Sicherheit des Instinktes
weit" nach (S.15). Zum Instinkt aber gehört ein Verständigungsmittel,
das Herder sich aktualisieren sieht als "dunkles sinnliches
Einverständnis einer Tiergattung untereinander über ihre Bestimmung im Kreise
ihrer Wirkung"(S.17). Der Mensch spricht aber "von Natur"
"gar nicht"(S.18), bei ihm ist "alles in dem größten
Mißverhältnis - Sinne und Bedürfnisse, seine Kräfte und der Kreis der
Wirksamkeit, der auf ihn wartet, seine Organe und seine Sprache"(S.19).
Was bringt dies alles in ein angemessenes Verhältnis zueinander, wenn es
offenbar die Instinkthaftigkeit nicht sein kann? Es ist nach Herder eine
"Disposition seiner Kräfte" , die man "Verstand, Vernunft,
Besinnung, Reflexion usw."(S.20)nennen und die man nicht von der
Instinkthaftigkeit ableiten könne. Vernunft müsse der Mensch schon "im
ersten Zustand haben"(22), er zeige sie als "Besonnenheit".
"Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen
ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat
Sprache erfunden".(S.23)
"Der ihm eigen ist": d.h., der Zustand, der ihm von Anfang an, von
dem Augenblick an, da er homo sapiens ist, wesentlich zugehört, und der
Zustand, der ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet. In diesem Zustand
gründet Sprache. Er macht es möglich, "in dem ganzen Ocean von Empfindungen"
"Merkmale" abzusondern. Dieses "erste Merkmal der Besinnung
war Wort der Seele ! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!"
(S.24) Herder sagt nichts über den ‚Ursprung' der "Besonnenheit",
aber er sagt, daß erst sie vom Menschen sprechen lasse und daß aus ihr
notwendig Sprache entspringe. Beides macht für ihn ein prinzipiell anderes
aus als instinkthaftes Verhalten und Kommunizieren der Tiere, auch wenn er
erkennt und anerkennt, daß es die ‚materiellen' Voraussetzungen habe, die in
der Tiergenese sich zeigen. Aber die Metamorphose vom Instinkt zu Reflexion
und Sprache erscheint ihm komplexer und erstaunlicher, als die
Evolutionslehre es annimmt. "...als ob je ein Orang-Utan mit eben den
Werkzeugen eine Sprache erfunden hätte?"(S.26)
Sprache entwickelt sich aus "Merkmal" und "Merkwort" als
Differenzierungsmoment und Differenzierungserkenntnis. Dies sind Prinzipien
der Vernunft, aber schon das Merkmal bedarf des Merkworts, Vernunft ist nur
sprachlich real.
Schon das Konzept bis hierher hat Konsequenzen. Wenn in Vernunft als
"Besonnenheit" sich die Menschheit konstituiert, wenn diese
"Besonnenheit" von Anfang an in sprachlicher Artikulation sich
manifestiert, dann fordert jeder Gebrauch sprachlicher Artikulation, daß er
seine Bewußtheit zeige und niemals zu einem Automatismus verkümmere.
Mediensprache ist in Sprache aufgehoben und kann nicht aus irgendwelchen
immanenten Regeln legitimiert werden. -
Herder verbindet mit dem für Sprache konstitutiven Moment der Reflexion
("Besonnenheit") ein sinnliches Moment: das des Gehörs. Das Ohr sei
der erste Lehrmeister der Sprache, die Merkmalworte würden zuerst Tönen
abgenommen. Ob das auch heute noch Evidenz hat, ob das Onomatopoetische zu
dieser These geführt hat, mag dahingestellt sein. Wichtig erscheint, daß
Herder das Reflexionsmoment der Sprache nicht von deren sinnlichen Momenten
löst, wobei die Zentralstellung des Gehörs auch etwas mit der Bedeutung, die
Sprache als Rede vor der Sprache als Schrift haben soll, zu tun hat. Aber im
gleichen Atemzug sagt er uns, daß "die ganze Bauart der Sprache"
"eine Entwicklungsweise seines [nämlich des menschlichen] Geistes, eine
Geschichte seiner Entdeckungen"(34) sei. So bewegt er sich hin und her
zwischen den Polen der Reflexion und der Sinnlichkeit. Die Repräsentantin
einer Synthese beider ist für Herder die Literatur und ihre Sprache. Hier
knüpft er an Hamanns Gedanken von der Poesie als Muttersprache der Menschheit
an. Die "erste Sprache" sei "eine Sammlung von
Elementen der Poesie" (S.35) gewesen. Die Literatur ist für Herder
(und für Hamann) keine Sondersprache, wie es in manchen Tendenzen moderner
Linguistik behauptet wird, sondern gerade umgekehrt das Modell eines
Sprachgebrauchs, in dem die beiden Elemente und ihre Synthese für die
Aktualisierung einer sich ganz entfaltenden Sprache sorgen, während alle
anderen Sprachgebräuche wegen der mangelnden Synthese jener Elemente auf ein
reduziertes Sprechen tendieren. Schon in den "Fragmenten" hatte
Herder betont: "Die Literatur wuchs in der Sprache und die Sprache in
der Literatur: unglücklich ist die Hand, die beide zerreißen, trüglich das
Auge, das eins ohne das andere sehen will..."(S.101).
Aber orientiert sich nicht auch Mediensprache immer wieder an der der
Literatur: am auffälligsten im sogenannten Feuilleton, doch auch in
politischer Essayistik, in der Reportage und einer Fülle von Zwischenformen ?
Das wird sie, folgt man Herder, eben nur dann tun, wenn sie wiederum
sprachlich denkt und darstellt. Doch geschieht das noch nicht, wenn sie mit
dem alten Instrumentarium der Rhetorik operiert, in der die Wirkungsabsichten
die Gedankenarbeit verdrängen.
Dennoch gehöre auch die Rhetorik zur Geschichte der Sprache, und Herder hebt
immer wieder ab auf den geschichtlichen Prozeß, in dem sich Sprache
herausbildet und erst als menschliche Bewußtseins-, ja Existenzform
erscheint.. Schon für die Grammatik gelte das, die erst
"Philosophie", sinnvolles System werde, wenn "die Geschichte
derselben durch Völker und Stufen hinab überdacht"(53) worden sei. Und
wieviel mehr für die Semantik, genauer für die Sprache als Einheit von Form
und Inhalt. Auch was an ihr ursprunghaft erscheine, sei ja bereits "Kind
ganzer Jahrhunderte und vieler Nationen","...an diesem großen
Gebäude haben Nationen und Weltteile und Zeitalter gebaut"(S.85).
Sprache ist Sprachgeschichte. Aber wie stehen die Sprecher in ihr? Für das
Kind ist "unsre Muttersprache[...]die erste Welt"(S.71), die es
sieht, die es fühlt, die es genießt. Wie aber steht es für den, der über
Sprache zu denken beginnt? Bemerkt er nicht gerade in der einfachsten
Sprachtradition einen "Quell der schädlichsten Irrnisse des menschlichen
Geschlechts, da nämlich durch die Tradition der Sprache Irrtümer nicht bloß
fortgepflanzt und verewigt, sondern auch gemacht und neuerzeigt werden und
also der menschliche Geist ewig unter einer Last derselben
keucht"?(S.71) Hat nicht Bacon schon gesehen, daß, "ehe wir denken
konnten,[...] man uns vor Begriffen der Sprache wie vor Statuen
niederfallen" ließ(S.72)?
Denken wir nicht deshalb bloß "nach der Analogie der Väter und nicht
nach der Natur" (S.72)? Das ist noch Mauthners Frage, es ist die Frage
nach der Unauslöschlichkeit der Vorurteile, nach dem, was wir qua Tradition
übernehmen und nicht mehr befragen, weil uns Sätze als ‚naturhaft'
erscheinen. Aber "wenn man alle diese Bilder und Vorurteile
(praejudicata) [also vor uns entstandene Urteile] als Vorurteile
(praejudicia) [also unreflektierte Urteile] und leere Idole zerstören will,
[...] behält [man] nichts als eine Wüste nach. Man hat sich eben damit selbst
von der Beihilfe aller Jahrhunderte der Väter entblößt und steht nackend
da..."(S.72 f).
So versteht Herder die Dialektik der Sprache und ihrer Geschichte. Wir werden
in die Sprache hineingeboren, wir übernehmen ihre Sätze, ohne sie zu
bedenken. Fangen wir an, eben das zu tun, bemerken wir in den Sätzen, die vor
uns gesprochen wurden, die Fülle der Vorurteile, aber auch, daß wir ohne das
vor uns Gedachte, Gesagte nicht auskommen können. "Es bleibt also, wenn
wir nicht dem warnenden Beispiel aller Systemmacher aus eignem Kopf folgen
wollen, in solchem Falle nichts übrig, als uns in den großen Ocean von
Wahrheiten und Irrtümern selbst hineinzustürzen und mit Hilfe aller, die vor
uns gelebt, zu sehen, wie weit denn wir in Beschauung und Betrachtung der Natur
und in Benennung derselben durch deutliche Ideen der Sprache kommen!"(S.
73)
Gerade als Sprachgeschöpfe können wir uns nicht so verhalten, als könnten wir
Instinkten folgen. Aller Sprachgebrauch setzt immer auch Reflexion voraus,
die wiederum in der Sprache sich vollzieht. Vorurteile wie (richtige) Urteile
sind sprachlich geformt und bedingt. Es gibt keine Position außerhalb der
Sprache.
Herder ist der erste, der das Konstitutive der Sprache für den Menschen
ebenso erkennt wie die Dialektik der Sprache. Beides gehört für ihn zusammen.
Für die Mediensprache gilt darum, daß sie begreifen muß, sie könne sich nicht
damit begnügen , die Sprache als ein Reservoir zu betrachten, aus dem sie das
entnehmen kann, was sie glaubt für den Transport von Nachricht und Meinung zu
benötigen. Sie liefert sich dann alsbald den sprachlichen praejudicia aus,
die als Phrasen figurieren. Es gibt keine Möglichkeit, auf eine Sammlung von
Sätzen zu rekurrieren, die für Medienzwecke bereitstehen, um das Geschehene
und Gemeinte ausdrücken zu können. Ehe die Journalisten nicht bemerken, daß
es nicht um eine ‚gute Schreibe' im Sinne des Verfügens über jenes Reservoir
geht, sondern darum, sich sprachlich mit dem auseinanderzusetzen, was sie
Information nennen, werden sie nur scheitern können, und zwar gleichermaßen
im Lokalteil der Provinzzeitung wie im Kulturteil der überregionalen
Zeitungen.
Die journalistische Bewußtlosigkeit darüber, daß Journalisten sprachlich
agieren, zerstört nicht nur ihre eigene Sprachreflexion, sondern auch die ihrer
Leser und Hörer. Herder kennt nur eine Alternative: "Zertrümmere oder
schaffe dir Sprache"(S.63).
(nach
oben)
VON DER EPOCHE
Gräßliche alte und schöne neue Welt
Was erzählen sie, die Intellektuellen des
Landes, von vergangenen Zeiten? Ausbeutung sei gewesen von Anfang an: bei den
ersten Chinesen-Kaisern, bei den Pharaonen, bei den Römern zumal. Und dann
sei der Feudalismus dahergekommen, der noch den Kohl, den die Armut angebaut
hatte, zertrampelt habe, wenn es ihm mal wieder um sein Jagdvergnügen ging.
Von wegen der Große Kurfürst und Friedrich der Große. Trübe Kerle, die ihr
Land in Kriege stürzten. Im 19. Jahrhundert aber ging es mit dem
Imperialismus schlimm los, und der Kolonialismus, vorbereitet seit dem
16.Jahrhundert, wurde groß und versklavte gute und friedliche Völker
allüberall. So taten vor allem die Engländer und Franzosen, aber am
schlimmsten waren die Deutschen, das militaristische Pack, dem schon der
spätere Faschismus abzumerken war.
Kunst und Kultur? Ach du liebe Güte. Nichts als das Dekor des blutigen
Schlachtens.
Unsere Intellektuellen holen aus und zeigen, wie kümmerlich die einen wie die
anderen waren. Ausnahmebescheinigungen werden nur für ganz wenige
ausgestellt: für Mozart z.B. oder für Heine. Viel mehr seien es ja nicht
gewesen. Dann sind sie schon wieder beim Faschismus, dem einzigen, was sie
historisch interessiert. Es heißt so, weil sie es so nennen, obwohl es nun
wirklich eine deutsche Angelegenheit ist. Aber ohne Faschismus kein
Antifaschismus, zu dem alles gehört, was dagegen war, auch wenn es Formen
hatte, die dem des Naziwesens vollkommen glichen. Aber aus dem Antifaschismus
entstand die neue Welt, von der sie auf die alten Welten blicken.
Und man muß sagen, daß diese neue Welt wirklich eine schöne neue Welt ist.
Stalin und sein System, in dem der Antifaschismus und die Friedenskämpfer
erfunden wurden, haben an ihr mitgebaut,. Die anderen Diktatoren aus der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben an ihr mitgebaut: in Asien, in
Afrika, in Südamerika. Dagegen sorgten wir für die Demokratie, die um so
stärker ihre Kraft beim Bau der schönen neuen Welt entfaltete, je mehr sie
sich der freien Wirtschaft anpaßte und dafür sorgte, daß die sich mit
Produktion und Konsum, mit Reklame und Unterhaltung, mit Horror und Spaß, mit
Chaos und Geschrei entfalten konnte. Und mit Drogen und mit Aids. Und mit der
Vernichtung all dessen, was Jahrhunderten wichtig gewesen war. Dabei halfen
die Theater und die Filme und vor allem die Medien mit. Dabei half das
Gekauder vor allem, das man anstelle der Sprache erfunden hatte.
Nein,noch nie hat es so viel Wasserspülung, Antibiotika, Verkehrsflugzeuge,
gegeben. Noch nie war eine Welt so schön, vor allem in Afrika, in Südamerika,
in China, Rußland und anderen Teilen Asiens. Aber auch in Europa,
Nordamerika, Japan haben wir alles sehr schön gemacht: die Straßen, die
Häuser, die Autos und die Menschen.
Die Intellektuellen sagen, wir müßten die UNO stärken und den Frieden und die
Demokratie. Auch die Rocker müßten gestärkt werden und die Palästinenser und
die Umwelt und das Klima und die Freiheit des Drogenkonsums. Wenn das alles
gelänge, würde die Welt noch neuer und schöner sein, und ihr Abstand von der
alten Welt würde allen, die von dieser etwas wüßten, geradezu in die Augen
springen, wenn er nicht schon vorher durch die Fernsehübertragung von
Fußballspielen, für die alle Intellektuellen mit aller Kraft eintreten, für
jedermann begreiflich geworden sei.
(nach
oben)
VON DEUTSCHLAND
Der Staat und sein Bürger
Im Augenblick drängt er sich sehr auf,
der Staat. Er hat nach jahrelangen Verdrängungen gemerkt, daß es so mit ihm
nicht weitergeht. Also muß er etwas mit sich tun, was natürlich heißt, daß
die Bürger sich etwas von ihm gefallen lassen müssen. Die Herren Rau,
Schröder, Fischer und Konsorten leben natürlich so weiter, wie sie bisher
gelebt haben, aber andere, viele andere werden etwas zu spüren bekommen, wenn
sich denn etwas ändert.
Viele haben schon lange geschimpft, viele werden inskünftig noch mehr
schimpfen. Aber von wem oder von was sprechen sie, wenn sie schimpfen?. Man
muß wohl wie immer bei sich anfangen, um das zu begreifen.
Die Gemeinde
Ganz real merkt man am meisten von ihr.
Sie liegt im Münsterland, war ein Dorf, das seit dem Anfang des 19.
Jahrhunderts und bis 1945 ca 2000 Einwohner hatte, Handwerker waren es vor
allem, während im Umland, in den Bauerschaften eben die Höfe lagen. Nicht so
ganz in der Mitte ist natürlich die katholische Kirche. Ihre Vorgängerin war
wahrscheinlich etwas beachtlich Gotisches, man hat sie im 19. Jahrhundert
abgerissen, um größer und, wie der Pfarrer damals dachte, schöner neu zu
bauen. Es ist ein Stück aus der Serie neugotischer Kirchen, wie sie im
Dutzend seit 1870 aufgebaut worden sind. Der Pfarrer wohnt in einem schönen
spätklassizistischen Pfarrhaus, von ihm ist außerhalb der Gemeinde nicht viel
zu hören. Mehr dagegen aus der evangelischen Gemeinde, die erst durch die
Flüchtlinge nach dem Krieg entstanden ist, jetzt schon den zweiten Kirchenbau
bekommen hat, eine etwas zu groß geratene Feuerwache. Pfarrwechsel finden
öfter statt, in evangelischen Gemeinden ist gern Streit. Jetzt amtiert ein
Mann mit wallendem Haar, der einem seit dem Siebzigsten Glückwünsche schickt,
aber nicht zu sehen ist. Er wird sich sagen, man solle zu ihm in die Kirche
kommen.
Es gibt viele Vereine in der Gemeinde, die vier üblichen Parteien sind
vertreten.
Die Gemeinde hat allerhand gärtnerische Anlagen eingerichtet, eine heißt z.B.
Bürgerpark, es gibt viele Rosenbeete, und es gibt grünen Rasen. Da hat sich
der Vorvorgänger des jetzigen Bürgermeisters - er hieß damals
Gemeindedirektor - viele Verdienste erworben. Aber er hat auch
architektonisch den Ort umkrempeln lassen, denn er fand, daß das Bestehende
zum großen Teil, österreichisch gesprochen, altes Graffelwerk gewesen sei.
Jetzt stehen an der Hauptstraße biedere Backsteinfassaden, ein scheußliches
und totes Flachdachkarree für Geschäfte ist in den sechziger Jahren
hingesetzt worden, und nachdem die Flüchtlinge noch vor dieser Zeit in einer
kleinen Siedlung untergebracht waren, hat der eifrige kleine Mann zum ersten
Erweiterungsschlag ausgeholt und in grauen Steinen und für englische
Militärfamilien besonders unschöne Wohnkisten bauen lassen. Sie stammen von einem
unbegabten Architekten, der später ein berühmter Innenarchitekt und Designer
wurde. Man stelle sich die Konstellation vor, die sich damals hier und in
hunderten anderer Orte ergeben hat: ein ahnungsloser Gemeinderat, der
architektonisch noch nie eine Vorstellung gehabt hatte, und ein mit den
nötigen städtebaulichen Phrasen und ein bißchen Rhetorik versehener
Architekt, der seinen Schund verkaufen wollte. So steht jetzt und für ewige
Zeiten eine Ansammlung von Klötzen am Eingang des Dorfes, das damit zur
Vorstadt gemodelt wurde.
Aber das alte Ideal der Eigenheimsiedlung wurde natürlich nicht
vernachlässigt, vom Architekten und Städtebauer freilich mit der Moderne
durch einen Hochkasten verbunden, um den sich heute verkommende, z.T. nicht
genutzte Geschäftsareale gruppieren. Nach diesem Mißerfolg kehrte man ganz zu
Einfamilienhaussiedlungen zurück, die keine Geschäfte, keine Einrichtungen
für die Siedlung, allenfalls einmal einen Kindergarten haben. ‚Man kehrte
zurück' bedeutete: man legte los. Seit zwanzig Jahren wird in der Gemeinde
ein neues Baugebiet nach dem anderen ‚ausgewiesen', das Ganze ist längst eine
Riesensiedlung geworden, die aber nur den kleinen Ortskern hat, den sie schon
im Jahr 1800 hatte. Jedermann muß, um sich auch nur ein Brötchen zu kaufen,
von den fernsten Enden neuer Baugebiete aus in die drei Straßen des
"Zentrums" fahren, das immer mit Autos überfüllt ist.
Was treibt die Dorfpolitiker dazu, die sinnlose Vergrößerung eines einst sehr
überschaubaren Ortes über Jahrzehnte hin zu betreiben ? Es muß einmal eine
Gier nach Größe geben, die der damalige Gemeindedirektor angefacht hatte.
Aber es gibt auch sehr persönliche Interessen. Noch über die in der gesamten
Bundesrepublik Deutschland verbreitete Sucht, vor allem zu verdienen, hinaus,
ist der bodenständige Westfale auf Geld aus. Und wenn die Gemeinde endlich
die Einwohnerzahl von 20 000 erreicht hat, werden die Gemeinderäte höhere
Diäten, der Bürgermeister und der Beigeordnete höhere Bezüge bekommen.
Der jetzige Bürgermeister ist ein braver Mann, der als Kompromißkandidat
einen autoritär regierenden Dorfcaesar ablöste, weil der offenbar auch der
bestimmenden CDU auf die Nerven gegangen war. Aber wie es Kompromißkandidaten
zu gehen pflegt: er ist eigentlich kein Handelnder mehr, sondern richtet sich
nach denen, die ihr Handeln als handeln verstehen. Daneben fällt die SPD
durch Stammtischtreue und Schrulligkeiten auf, die Grünen können ihre
Vorschläge nicht durchsetzen und die FDP hat gar keine.
Die soziale Kontrolle, wichtig für einen kleinen Ort, geht in der
hemmungslosen Ortserweiterung unter. Rußlanddeutsche und unbeschäftigte
Jugendliche randalieren ungestört, seit geraumer Zeit werden Hauswände und
Denkmale nach großen Stadtvorbildern beschmiert. Was an solchen und anderen
Unliebsamkeiten vorkommt, wird nach dem Vorbild des Staates abgeschoben: die
Polizei sagt, das Ordnungsamt habe sich einzuschalten, und das Ordnungsamt
tut das, was es seit Jahrzehnten tut: nichts.
Krach wird gern geduldet, wenn es dadurch einen Auftrieb gibt und nur einzelne
Bürger und Steuerzahler gestört werden. Alle zwei Jahre z.B. baut ein
Schützenverein, der in einer Bauerschaft zuständig ist, nahe dem Schloß, in
dessen Umgebung wir wiederum wohnen, ein Festzelt auf, macht dort das übliche
Remmidemmi, vermietet aber vor allem das Zelt an die Landjugend, die dann
eine Nacht lang einen außer Rand und Band geratenen Lärm veranstaltet, der
die Lebensfreude der Jugend signalisiert. Das geschieht nur, weil die
Schützen zu geizig sind, die Gemeindehalle zu mieten, wird aber natürlich
offiziell als Traditions- und Heimatpflege verkauft.
Ansonsten werden Kunst- und Kulturinitiativen gegründet, Atmen wird auf
chinesisch und indisch geübt, und alle fahren mit dem Fahrrad zu einem
prächtig gestalteten Hof , dessen Schulze einst Schweinemäster war, dann
Spargel anbaute und der nun über ein reich florierendes Unternehmen
gebietet,wo man gut essen und trinken und selbstgemachte Marmelade kaufen
kann. Weniger schön ist eine an der Bundesstraße errichtete Einkaufszeile, in
der für die notleidende Aldi-Kette etwas getan wurde. Hier sammelt sich nach
Geschäftsschluß lärmendes und saufendes Volk, das nur die nicht übersehen,
die ihm ausgesetzt sind.
So dehnt sich ein Dorf des Münsterlandes mehr und mehr zu einer suburb aus
mit allen Zivilisationserrungenschaften, also mit unzähligen Autos, für die
es keine Parkplätze mehr gibt, und mit Scheidungen und mit überlaufenen
Ärztewartezimmern und mit unablässig veranstalteten Festen, die völlig
sinnlos sind, aber den Leuten für ein paar Stunden ihre Langeweile und ihre
Angst vertreiben.
Der Landkreis
ist weit weg in einer kleinen Mittelstadt, die in den letzten Kriegstagen
noch zertrümmert wurde wie viele andere. Da gibt es einen Landrat und eine
Kreisverwaltung und einen Kreistag. Ob der etwas und wenn ja, was der tut,
weiß man nicht, aber der Landrat ist forsch und tritt entsprechend in der
Zeitung auf. Früher wäre er Reserveoberleutnant gewesen. Schreibt man ihm,
weil er, um rasche Einnahmen zu erzielen, kurz vor der Veränderung der
Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 auf 70 km/h, heimlich und gänzlich sinnlos
ein Kontrollinstrument aufgestellt hat, bekommt man von seinem Direktor die
übliche pampige Behördenantwort. Erst wenn man sich an den
Regierungspräsidenten wendet, wird es etwas freundlicher und wird
versprochen, daß man die Regelung überprüfen wolle. Für jenen Service des
Kreises und für den Landrat müssen wir Steuergelder bezahlen, die er u.a. für
eine Vorzimmeranlage ausgibt, wobei er die Ausgaben in seinem Haushalt
versteckt Das ist selbst dem braven Kreistag zu arg.
Der Kreis ist "ländlich geprägt", hat ein paar schöne
Wasserschlösser, u.a. das große barocke Bischofsschloß in N., in dessen
Orangerie ordentliche Konzerte vom Kreis veranstaltet werden. In B., einer
hübschen Kleinstadt, gibt es die Kolvenburg, eine ziemlich alte und massive
Architektur, in der manchmal recht gute Ausstellungen stattfinden, ebenfalls
vom Kreis finanziert. Ein paar Städte, die größte hat 40 000 Einwohner, sind
besuchenswert, manche Dörfer sind langweilige Straßendörfer, in denen die
gleiche CDU-Politik mit Unterstützung einer biederen SPD gemacht wird. Die
Bürger haben so viel, also so wenig zu sagen wie immer. Nur wenn er direkt
gewählt werden will, ist der Landrat für ein paar Wochen weniger forsch.
Ansonsten merkt man wenig vom Kreis. Und das ist das beste an ihm.
Der Regierungsbezirk
Die sogenannte Bezirksregierung, eine Bezeichnung noch aus
königlich-preußischer Zeit, die keine Regierung, sondern eine Verwaltung ist,
hat ihren Sitz in der nahen "Provinzialhauptstadt", die immer noch
so heißt, obwohl es gar keine Provinz mehr gibt. Von jener merkt man v.a. den
Regierungspräsidenten, der früher, nämlich in der Zeit der Teilung der
Stadtspitze in die Ämter des nur repräsentierenden Oberbürgermeisters und des
beamteten Oberstadtdirektors, Oberbürgermeister der
"Provinzialhauptstadt" war. Er ist ein moderner Katholik, der als
CDU-Mann von der rot-grünen Landesregierung abhängig ist, denn er ist zur
Loyalität verpflichteter Beamter. Hätte so etwas früher ein freier Mann
gemacht, zumal wenn er vorher die Selbstverwaltung der Kommune repräsentiert
hat? Wahrscheinlich nicht. Aber derlei Bedenken gibt es heute wohl nicht
mehr. Man ist sehr froh, auf einem sicheren Posten landen zu können und wird
sich dann schon arrangieren.
Der Regierungsbezirk umfaßt das ganze Umland und noch ein Stück vom
Ruhrgebiet. Er ist in seiner Existenz bedroht, weil die Landesregierung die
Verwaltung vereinfachen, d.h. weniger Regierungsbezirke haben will. Nun
richtet sich gewiß ein großer Teil der Aktivität der Beamten bis zum
Präsidenten auf die Bewahrung des Zustandes, wobei man von der Verwaltung der
"Provinzialhauptstadt" unterstützt wird, der man auch ans Zeug
will. Denn wenn Behörden abgezogen werden, die man seit langem bei sich
hatte, dann wird die Stadt natürlich erheblich in ihrer Finanzkraft und ihrer
Reputation geschädigt. Wenn derlei droht, hört der Alltagstrott auf, und
Stadt und Regierungsbezirk werden so eifrig, wie sie sonst niemals sind. Was
da an Verhandlungen geführt wird, weiß man nicht, will man wohl auch gar
nicht wissen, aber daß sie mit der äußersten Energie, deren ein Beamtenhirn
fähig ist, geführt werden, dessen kann man gewiß sein.
Das Land
ist eine der Schöpfungen, die es nach dem Krieg gab: ein Bindestrichland,
bestehend aus einer und einer halben preußischen Provinz, die nach 1815 vor
allem aus geistlichen Herrschaften zusammengezimmert wurden. Dazwischen liegt
das Ruhrgebiet, das als Einheit erst durch die Industrie des 19. Jahrhunderts
entstanden ist und das neue Land nach dem Krieg wohlhabend machte,
wohlhabender als den Freistaat Bayern. Auch ist es das nach Einwohnern größte
Bundesland. Aber so ist es nie aufgetreten, es ist auch ganz und gar nicht
Nachfolger Preußens geworden, und heute schon gar nicht, denn mit seinem
Wohlstand ist es vorbei. Während Bayern sich mit neuen Industrien
ausgestattet hat und das repräsentativste Land Deutschlands geworden ist, hat
sich unser Land vom Rückgang der alten Industrie und des Steinkohlenbergbaus
nie erholt. Der langjährige Ministerpräsident hat v.a. Dönekens erzählt und
mit Bibelkenntnis aufgewartet, als seine Lebensleistung sah er die Schaffung
von Gesamthochschulen an, traurigen Betonburgen ohne wissenschaftliche
Reputation, die den alten Universitäten das Geld weggenommen haben, aber nun
selbst miserabel ausgestattet sind und z.T. zusammengelegt werden. In der
Zeit der Achtundsechziger ließ die Regierung in den Universitäten alles
dahinschluren und wenn nicht am Ort wie in Bonn und in Köln ein energischerer
Rektor mit einem entsprechenden Senat war, ging es abwärts, bis man es auch
an dem äußeren Zustand der Hohen Schulen merkte, daß man auf den Hund
gekommen war.
Nun hat es die Regierung fertig gebracht, daß das ganze Land auf diesem
Stande ist. Die riesige Landesbank unter einem Vorstandsvorsitzenden, den der
Ministerpräsident alles machen ließ, ist nun eine Art Abbruchunternehmen. Das
ist ein Symbol für die politische und wirtschaftliche Kunst in diesem Land.
Ein nervös-energischer neuer Ministerpräsident sollte alles ins Bessere
lenken. Bevor man aber deutlich merkte, daß er es auch nicht konnte,
verabschiedete er sich nach Berlin und sorgt dort für Besserung, die schon
darum nicht gelingen wird, weil der Minister, der früher Journalist war, sich
ständig syntaktisch verhaspelt, was immer auf das Denkvermögen des Sprechers
schließen läßt.
So will das Land nun alles mögliche reformieren, was aber vornehmlich heißt,
daß es an allen Ecken und Enden sparen muß: die Straßen sind schlecht, die
Schulen und die Städte kommen herunter, nur die Beamten arbeiten so
unzulänglich wie immer, sie sind nun keine präzisen Bürokraten mehr, sondern
Achtundsechziger, die dahinwursteln.
Bevor es ganz schlecht wurde, hat es aber noch gute Restaurierungen gegeben
an Schlössern und Kirchen, so z.B. in Brühl oder in Nordkirchen oder am
Erbdrostenhof in Münster. Das ist eine Leistung, die das Land mit anderen
Ländern teilt, aber es bleibt beachtlich, da es ja das Nennenswerteste ist,
was in der öffentlichen Architektur produziert wurde.
Auch hat das Land viele Theater, d.h. selbst hat es kein einziges, aber dank
der Stadtkultur, die seit dem 19. Jahrhundert für Stadttheater gesorgt hat,
kann es sich einer reichen Theaterlandschaft rühmen und da die Bürger der
Ruhr- und Rheingroßstädte sich zumeist nicht mit dem Firlefanz unbegabter,
aber präpotenter Regisseure abfinden, gibt es immer mal wieder eine
ordentliche Opernaufführung, ein sehenswertes Schauspiel da und dort. Nur
können die meisten Schauspieler kaum noch sprechen, so daß man nur ahnen
kann, was auf der Bühne verhandelt wird.
Die Landschaft des Landes ist im Sauerland, im Bergischen Land, im
Münsterland und am Rhein angesiedelt. Die rheinischen Städte sind meist aufs
schrecklichste zersiedelt, in den westfälischen ist es manchmal besser, und
die des Ruhrgebiets haben bis auf eine kleinere Stadt wie Recklinghausen
durch den Wiederaufbau nicht gewonnen.
Die Bundesrepublik Deutschland
ist das, was in den Nachrichten vorkommt. Man nennt sie, obwohl sie ja nun
große Teile des ehemaligen Deutschen Reiches umfaßt, gern und häufig
"Bundesrepublik", eine ganz formale, staatsrechtliche Bezeichnung,
die offenbar gebraucht wird, weil man sich des Wortes "Deutschland"
schämt, wohl der einzige Fall in der Nationalstaatsgeschichte. Aus dem
Hochmut ist nationaler Masochismus geworden, der Stolz ist ganz auf die
Nationalelf des Fußballs verlagert worden, der Trainer, ein Krauskopf, ist
der eigentliche Bundespräsident. Der führt als Prädikat das Namenskürzel
"Rudi", und so wie man kameraderiehaft mit ihm umgeht, so gehen
(fast) alle mit (fast) allen um, die lebens- und freiheitsfördernde,
zivilisatorische Distanz ist zum Teufel, nicht weil in diesem Staat alle
Menschen Brüder geworden wären, sondern weil eine Symbiose von Stammtisch und
Journalismus die bestimmende Kraft des Gesamtstaates geworden ist. Am
Stammtisch wird noch einmal simplifiziert, was an Simplizitäten sich zwischen
Bildzeitung und FAZ ausbreitet. Deutsch ist das, was diese beiden Zentren des
nationalen Lebens als deutsch bestimmen. Sind für die meisten anderen
Nationen Fahne, Nationalhymne, Feiertag, aber auch gewisse alltägliche
Verhaltensweisen identitätsfördernd, so gelten sie hierzulande nichts oder es
gibt sie gar nicht. Über das ganze Land wird nur in den Medien und am
Stammtisch verhandelt, wo das medial Vorgekaute noch einmal nachgekaut wird.
Das besteht hier wie dort aus grimmiger Verurteilung der Politiker, die sich
immer mehr hinter den Zaun der Parlamente und Ministerien zurückziehen. Diese
Politiker sind in der Tat von zumeist äußerster Mittelmäßigkeit, als
geschätztester gilt der ehemalige Streetfighter und Langzeitarbeitslose
Fischer, was wiederum zeigt, daß die Mittelmäßigkeit eigentlich gar nicht
stört. Man findet es vielmehr prima, daß einer durch Nichtstun nach oben
gekommen ist, und es stört nur, daß man nicht so gut bezahlt wird und so früh
pensioniert werden kann wie eben die Politiker. Als Politik gilt auch nicht
die Umsetzung einer vernünftigen Programmatik in Ausprägungen für den Alltag,
sondern gelten neben den Einkünften der Politiker die Bestimmungen, die einen
ganz unmittelbar betreffen und die man ungerecht findet, wenn sie
Einschränkungen bedeuten, und gerecht, wenn sie einem etwas einbringen. Die
Politiker sagen und der Journalismus verbreitet, daß das Volk klug und viel weiter
sei als die Politiker, aber man kann an den Politikern, die es auch sich
herausstellt, erkennen, wie klug es ist.
Neben dem gesamtdeutschen Stammtisch- und Mediengerede ist dann gleich gar
nichts mehr. Landschaft, Städte und Gemeinden sind eine Angelegenheit der
Regionen: München liegt allenfalls für Ausländer in Deutschland, für Deutsche
natürlich in Bayern, und Berlin liegt eigentlich nirgendwo, es ist ein
Abenteuerspielplatz für junge Leute, eine provisorisch wirkende Stadt für
Ältere, eine halb heruntergekommene, halb aufgebaute Zentrale, in der
Deutschland beredet, beschlossen, verwaltet wird, das selbst eine
Übergangsform ist, die am liebsten in Europa aufginge, woran es durch alle
anderen europäischen Staaten gehindert wird, und zugleich auf die Regionen,
deren Jargon statt des Hochdeutschen gesprochen wird, reduziert werden
möchte, so daß man im Abstrakten verschwinden und im Kuscheligen sich
einrollen könnte.
Es gibt also auf allen Ebenen die gleiche Ferne zwischen den Politikern und
dem Bürger, ganz gleich, ob es sich um Administration oder Legislative
handelt. Auf den unteren Ebenen wird irgendetwas gemacht, das weder erklärt
noch begründet wird, sondern sprachlos bleibt. In irgendwelchen Köpfen und
Gremien wird entschieden; meist hat es seine formale Richtigkeit, einsichtig
gemacht wird es nicht. Die Demokratie besteht hier aus ein bißchen mehr oder
ein bißchen weniger Klüngelei, bei der viele einfach mitmachen, ein paar die
Sache in der Hand haben, natürlich nicht die besten, natürlich nicht die
kundigsten, sondern die taktischsten.
Auf der Ebene des Landes tritt eigentlich nur der Ministerpräsident in
Erscheinung, dessen Ansehen sich nach seiner Volkstümlichkeit bemißt.
Ansonsten interessiert das Land nur als Zusammenhang von Regionen, die meist
konkurrieren und darum einander nur wenig leiden können. Die sogenannte
Bundesrepublik ist vor allem eine Folge von Fernsehauftritten und
-ereignissen, die als Interviews, Talkshows und Reden von ein paar Leuten
erscheinen, die von den Bürgern als von "Menschen" sprechen.
Außerdem sieht man diese Leute Hände schütteln und herzlich lachen. Um sie
herum sind meist Journalisten, die Nichtiges fragen und darauf nichtige
Antworten bekommen. Die Demokratie sei in Deutschland nun gefestigt, sagen die
Kenner. Sie können damit nur meinen, daß die Medien tagtäglich senden und
drucken.
Warum sich in Deutschland nichts ändern
wird
In einer der zahllosen
Fernsehdiskussionsrunden, die zur Zeit gern auf den Tenor gestimmt sind, es
solle nun nicht mehr diskutiert, sondern gehandelt werden, worauf natürlich
weiter diskutiert wird - in einer solchen Diskussionsrunde spricht zum ersten
Mal ein Teilnehmer die einfache Wahrheit aus, daß nicht nur die Politiker zu
Reformen nicht in der Lage sind, sondern daß die Bürger sie nicht wollen.
Zwar behaupteten sie abstrakt, es müsse Reformen geben, aber eine neue
Umfrage zeige sehr klar, daß in concreto kein Mensch Reformen wolle, denn die
träfen eben ihn selber.
Das heißt aber, daß nicht die Blockaden zwischen den Parteien das eigentliche
Problem sind, sondern die Blockaden zwischen Politikern und Wahlvolk. Jene
verschweigen, ja leugnen, daß die Bürger konkrete Reformen nicht akzeptieren
würden, und blockieren diese gerade dadurch, dieses bekennt sich zwar im
allgemeinen zu Reformen, aber lehnt jede Reform ab, die es selbst betrifft,
also jede.
Welche Gründe gibt es dafür ? Die Gründe der Politiker sind schon oft genannt
worden: aus Furcht davor, nicht wiedergewählt zu werden, stellen sie den
Bürgern gute Zeugnisse aus, was sie daran hindert, etwas zu tun, was den
Bürgern nicht gefällt, also irgendetwas zu tun. Die Gründe der Bürger werden
so gut wie gar nicht betrachtet, weil die Politiker ja leugnen, daß die
Bürger konkrete Reformen ablehnen.
Die Gründe der Bürger für ihre Reformunwilligkeit liegen in dem völlig
gebrochenen Verhältnis der Deutschen zu ihrem Staat. Nazitum und Kriegsfolgen
haben bewirkt, daß die Deutschen nur noch widerwillig Deutsche sind und in
ihrem Land, gar ihrem Vaterland keinen Wert sehen, wenn es nicht gerade um
jene Sportereignisse, insbesondere solche des Fußballs geht, die in der
letzten Zeit aber auch ganz mangelhafter Art sind. Die Leute sprechen daher
auch gern von der Bundesrepublik, und zwar absolut, so als sei sie nicht ein
Substantivattribut von Deutschland. Die Schmiererei "Deutschland halt's
Maul" hat sicher keine Analogie in irgendeinem anderen Land. Zeigt sich
darin nun die politische Wachheit eines Volkes, das sich immer wieder auf die
Schrecken besinnt, die seine Führer nicht nur, sondern Teile des Volkes
selbst angerichtet haben? Das ist eben darum unwahrscheinlich, weil ja die
Verächter Deutschlands dessen Fahne schwenken und es feiern, sobald - mehr
zufällig - ein sportlicher Sieg sich eingestellt hat. Wahrscheinlicher ist,
daß dieses Volk mit der Verdammung des Nazitums und seines Krieges sich
selbst freizusprechen meint, ohne aber zu merken, daß es damit auch alle
Werte seiner Geschichte, insbesondere seiner Kulturgeschichte verwirft, weil
ihm das Nazitum als Ausdruck der gesamten deutschen Geschichte gilt. Auch
findet es dieses Volk, dem durch Jahrzehnte gesagt worden ist, es sei dazu
da, Feierabend zu machen, Feste zu feiern und zu verreisen, viel zu
anstrengend, sich mit diesen Geschichtswerten zu beschäftigen und bleibt bei
dem Leichtesteingängigen der Gegenwart. So geht ihm, das doch unablässig
davon reden hört, daß es Verantwortung für die bösen Seiten seiner Geschichte
habe, gerade die Verantwortung für dessen ganze Geschichte ab, und darum ist
es völlig uninteressiert daran, etwas für dessen Zukunft zu tun. Sobald es
nicht mehr die Hand aufhalten kann, ist ihm der Staat so wurscht, wie der es
sich allerdings selbst in seinen Repräsentanten ist, deren Indolenz noch in
jeder öffentlichen Geste sichtbar wird. Hitler, der doch verkündete "Du bist
nichts, dein Volk ist alles", hat dafür gesorgt, daß das Gegenteil jener
Verkündung eingetreten ist: ‚Staat ist Scheiße, allein wichtig bin ich'.
Probleme des Landes, für die es keine
nennenswerten Lösungsvorschläge und -bemühungen gibt
Terrorismus
|
organisierte
Gewalttätigkeit
|
Rechtsextremismus
|
|
Linksextremismus
|
|
Islamischer
Fundamentalismus
|
|
Gewaltbereitschaft
|
|
|
|
Arbeitslosigkeit
|
‚klass.' A.,
Arbeitsunwilligkeit, Frühverrentung
|
Globalisierung
|
Dominanz d.
Wirtschaft, Nichtbeachtung regionaler Unterschiede
|
Situation der
Wirtschaft
|
Exportabhängigkeit,
Konkurse
|
Börsenirrationalität
|
Belanglosigkeit der
Analysen, falsche Prognosen
|
Rentensystem
|
zu hoher
Versicherungssatz, mangelnde individuelle Vorsorge, geringe
Versicherungsrendite
|
Gesundheitssystem
(Kosten und Leistungen)
|
zu hoher
Versicherungsbeitrag, mangelnde Eigenvorsorge, zu hohe Verwaltungskosten
der Krankenkassen; Überbeanspruchung, sinnlose Verordnungen (Apparatemed.,
Medikamente), unzulängl. Diagnose u.Therapie
|
Bildungssystem
|
Mangelnde
Leistungsfähigkeit, mangelhafte Ergebnisse, mäßiger Leistungswille,
Wissensstand, zu geringe Anforderungen; zu viel Lehrermittelmaß, Disziplin-
Schwierigkeiten, burn-out-Syndrom b.d.Lehrern
|
Ausstattung von
Universi-täten und Schulen
|
in fast jeder Hinsicht
unzulänglich
|
Verkehrsverhalten
|
kein Verhältnis zu
Verkehrsregeln, Ellenbogen-Verhalten
|
Autoverkehr
|
Geschwindigkeitswahn,
hektische Fahrweise, Gefährdung durch übergroße LKW
|
Autobahnen und Straßen
|
ständige Überlastung,
zu viele Baustellen, schlechter Straßenzustand
|
Deutsche Bahn
|
Unpünktlichkeit, Ungepflegtheit
der Züge, ständige Managementfehler, zu hohes Preisniveau, häufige
Unglücksfälle
|
Flugverkehr
|
Unpünktlichkeit,
Unbequemlichkeit, unzulängl. Infrastruktur der Flughäfen
|
Überfischung von Nord-
und Ostsee
|
|
|
Jugendkriminalität
|
Straffälligkeit immer
Jüngerer, mangelndes Rechtsbewußtsein, Neigung zu Schwerkriminalität,
Verachtung der Gesellschaftsordnung
|
Drogenkonsum
|
Tendenz zu schwer
schädigenden Drogen
|
Verrohung
Pöbelhaftigkeit
Egomaner Hedonismus
|
barbarisches Verhalten
im Alltag
unzivilisiertes Verhalten im Alltag
|
Sexualisierung
|
Massenprostitution,
pornographische Barbarei, Kinderprostitution, Kinderpornographie
|
Sittenwidriges
Verhalten
|
Übervorteilung von Kunden,
Beschwindlung als Geschäftsform
|
Besitz- und Geldgier
Überalterung
|
sinnlose
Lebensverlängerung
|
Verschmierung und
Verwahrlosung der Städte
|
Indolenz von Publikum
und Behörden
|
Zersiedlung
|
Zerstörung der
Landschaft
|
Politikverdrossenheit
|
Abwendung von
politischen Themen und Strukturen
|
Parteienherrschaft
|
Lediglich 3,8 %
Parteimitglieder in Relation zur Einwohnerzahl
|
Unfähigkeit von
Politikern und Managern
|
|
Herrschaft des
Mittelmaßes Korruption
|
|
Öffentliche
Artikulation
|
ständige Tendenz zu
Jargons
|
Sprachlosigkeit und
Phrasenhaftigkeit
|
Reduzierung der
Sprachfähigkeit bei gleichzeitiger Ausbildung von Geschwätz
|
|
|
Theaterzustand
|
Unfähigkeit der Schauspieler
zum Umgang mit der Sprache; Regie als bloßer Sensationismus, Dilettantismus
|
Medien
|
Sensationismus,
Sprachverwahrlosung
|
Fernsehprogramme
|
Verblödungstendenzen
|
Reklame
|
Sinnlosigkeit
|
|
|
Kirchen
|
Zeitgeistfixierung
|
Theologie
|
Substanzlosigkeit
|
|
|
Sport, insbes. Fußball
|
Leistungsmangel bei
gleichzeitiger Geldgier
|
|
|
Massentourismus
|
Landschaftszerstörung
|
|
|
Ausländerintegration
|
Ghettotendenz
|
Integration der
Rußlanddeutschen
|
|
Fremdenfeindlichkeit
|
|
Antiamerikanismus
|
bösartige
Geringschätzung der USA
|
|
|
Empathiemangel
|
Verweigerung von
Mitgefühl
|
Rücksichtslosigkeit
|
Egoistische Durchsetzung
bis zur Brachialität
|
Gleichgültigkeit
|
soziale Verhärtung
|
Strukturreformen und Alltagsbewußsein
Es liege an der fehlenden Rentenreform,
der Arbeitsmarktreform, der Steuerreform, der Gesundheitsreform, der Bildungsreform
und vielen anderen mehr. Und natürlich daran, daß die alle Strukturreformen
zu sein haben, nicht hastige Änderungen á jour.
Sie beschwören das Große und Ganze, die Politiker, die Journalisten, die
Theoretiker. Sie tun das seit praeter propter sechs, sieben Jahren. Aber sie
begreifen nichts von der Unverrückbarkeit des Alltäglichen, das natürlich
auch einmal entstanden ist: vor hundert Jahren, vor fünfzig, vor allem vor
fünfunddreißig, als das Land den Achtundsechzigern überantwortet wurde, worunter
man früher die Zugehörigkeit zu einem Truppenteil verstand; aber was waren
sie anderes?
Man fahre z.B. eines sonntags in die Provinz, in ein Bad, das nicht zu den
alten gehört, aber hübsch liegt und im Kern eine alte Stadt mit viel Fachwerk
hat. Das erinnert an jene gute alte Zeit, die es nie gegeben hat, und das
Fachwerk ist an vielen Stellen besser konserviert, als es wahrscheinlich
irgendwann war. An anderen allerdings nicht, da sieht es dann gleich so
trostlos aus, wie es überall in der früheren DDR einmal aussah. Verläßt man
das Bad später auf der Bundesstraße, so fällt einem wieder renoviertes
Fachwerk auf, aber viel mehr hingehauene Zweckarchitektur von kleinen
Industrie- oder Handelsunternehmen, heruntergekommene Altbauten und die
Kisten und Kasten der Neubauten aus den sechziger und siebziger Jahren.
Alles Zeugnisse für die jahrzehntelange Immunisierung gegenüber der
Häßlichkeit, die es bis zum Kriegsende so ausgebreitet nicht gegeben hat.
Heute kümmert sie keinen, man hat sich so an sie gewöhnt wie an die
Schmierereien in allen größeren, ja auch kleineren Städten.
Im Bad gehen wir in das "Haus des Gastes", das aus den siebziger
Jahren stammt, moderne Architektur natürlich, und genauso häßlich wie die
vielen Bauten an den Bundesstraßen. Eine hohe, wahrhaft leere Eingangshalle,
in der sich nichts abspielen kann, kein Gespräch, kein Ausruhen. Es könnte
auch die Eingangshalle einer der gräßlichen neuen Schulen sein oder eines
Rathauses. Irgendwo stehen ein paar Sesselensembles herum, grau und nicht
einladend, irgendwo die tristen Grünpflanzen, um die sich niemand kümmert.
Alles ist häßlich und überflüssig dazu. Aber niemand beschwert sich darüber,
Im Gegenteil, als das Haus gebaut wurde, war die ganze Herde der
Kleinstadtpolitiker sicher dafür. Nun steht es da, ungastlich wie hunderte
andere und für die Ewigkeit. Was sollen einem Volk, das sich auf die
durchgehende Häßlichkeit seines Alltags eingestellt hat, Reformen nützen?
In einer Skizze zur Geschichte von Stadt und Bad steht, es sei "ein
Kurort moderner Prägung" und der Stadt sei die "Artbezeichnung
‚Staatlich anerkanntes Kneipp-Heilbad'" verliehen worden. So
reflektieren die, die für die Häßlichkeit in Deutschland verantwortlich sind:
ihr Standardbegriff ist "modern", der Häßliches und Überflüssiges
und alles andere Defekte legitimieren soll. Oder sie sprechen, als lebten sie
im Linné, von der "Artbezeichnung", wenn es um einen Titel geht,
mit dem man Geld verdienen will.
Immer noch zerschneidet die Bundesstraße die alte Stadt und das
"moderne" Bad, so daß beide nichts miteinander zu tun haben, obwohl
dies natürlich in allen Publikationen über Stadt und Bad geleugnet wird.
Geht man ein bißchen in die Landschaft hinaus, dann sieht man, daß die zum
"Kurpark" erklärt wurde, obwohl sie nichts damit zu tun hat und man
das nur eben braucht, weil man ein "Bad" ist. Man hat ein paar
Laternen aufgestellt, aber schon das erste Tretbecken, das wie alle anderen
in deutschen Bädern und Kurorten nicht benutzt wird, ist vergammelt. Der
Kurdirektor macht PR und wahrscheinlich sonst gar nichts wie die anderen
seiner Zunft. Hat das etwas mit der Häßlichkeit zu tun? Genausoviel wie das
Bewußtsein der Verantwortlichen und der Rezipienten etwas damit zu tun hat.
Und wozu wird das Schöne der Stadt gebraucht: das gut konservierte Fachwerk,
dessen Ornamentik an die der Weser-Renaissance erinnert? Wenn es keine
Führung gibt, können die Leute damit nichts anfangen. Natürlich ist auch die
sehr alte und evangelische Kirche abgeschlossen, obwohl es doch Sonntag ist.
Man muß sich eben schützen vor den jugendlichen Rabauken, die nur kommen, um
den Zustand der Häßlichkeit durch Zerstörung zu vermehren.
Die Leute können nur etwas mit den Stationen der Völlerei anfangen, von denen
es viele, aber auch wieder nicht genug gibt. Manche werden zum Verkauf
angeboten, andere sind wie die Kirche am Sonntag geschlossen, obwohl das Land
doch in einem so miserablen wirtschaftlichen Zustand ist. In den geöffneten
Lokalen bekommt das Volk schwere Gerichte an einem warmen Mittag . Nur ein
Dreijähriger läßt seinen raffinierten Trunk stehen und schreit, bis er vom
Vater mit einem Schnuller ruhiggestellt wird, als sei er noch im
Säuglingsalter. Das Geschrei hört sich natürlich häßlich an, aber eine
tolerante Gesellschaft weiß das leicht zu ertragen. Und die
Schnullerpädagogik macht den Grad von Reformintensität merklich, mit der die
Bürger sich den neuen Zielen widmen, die ihnen die Politik setzt. Wo es
einfach ist und nichts kostet wie beim Schnuller, wird selbst eine
stumpfgewordene Zeitgenossenschaft irgendwelche Reformen, die ihm als die von
Strukturen angeboten werden, hinnehmen, wenn es nur eine seiner
Grundhaltungen bewahren darf: z.B. die, dem Häßlichen zugetan zu sein.
(nach
oben)
VOM SPORT
Und nun hat der Sport das Wort
Montags berichtet unsere Zeitung in
ausführlicher Weise über den Sport, insbesondere über den nationalen und den
lokalen. So werden uns z.B. 18 Seiten mit Informationen aus der Politik, der
Wirtschaft, der Kultur und allen anderen Lebensbereichen geboten, und zwar
einschließlich der Anzeigen, aber 14 Seiten über den Sport. Das entspricht
wahrscheinlich dem Bedürfnis des zeitunglesenden Publikums, das in seiner
Mehrheit das größte Interesse am Sport hat, wie es ja auch u.a. deutlich wird
im Zuspruch junger Menschen, die unter dem Namen Fans bekannt sind, zu
Fußballspielen, an denen sie mit großer Lautstärke und bemerkenswertem
Alkoholkonsum teilnehmen.
Wie aus dem Sportteil unserer Zeitung zu entnehmen ist, hat es die deutsche
Equipe bei den Weltmeisterschaften der Leichtathletik nun geschafft, den 28.
Platz bei der Nationenwertung einzunehmen, was um so beachtlicher ist, als
diesem 28. Platz noch eine ganze Reihe weiterer folgen. Deutschland ist es
dank seiner sportlich begeisterten Jugend gelungen, einen Rang zu erreichen,
der nur wenig hinter St. Kitts and Nevis liegt, einem Staat, der nicht ganz
die Größe der Gemarkung der Stadt Münster hat und mit 42 000 Einwohnern der
Stadt Dülmen in Westfalen gleichkommt.
Dennoch ist man mit dem Ergebnis nicht zufrieden, wie der Präsident des
Deutschen Leichtathletikverbandes ausführte. Wahrscheinlich wird schon jetzt
in Kommissionen daran gearbeitet, bei der nächsten Weltmeisterschaft St.
Kitts and Nevis hinter sich zu lassen und vielleicht in die Nähe Litauens zu
kommen. Es bedarf dazu großer Anstrengungen, die u.a. die Fans und natürlich
die Sportteile der deutschen Zeitungen wie der Rundfunk- und Fernsehsender zu
leisten haben. Auch die jungen deutschen Menschen des Leistungssports werden
sicher bereit sein, etwa an einem Samstag mehrfach um einen Platz zu laufen
oder auch in eine Sandkuhle zu springen. Natürlich muß gewährleistet sein,
daß dafür auch anständig bezahlt wird, was, wie der Fußball beweist, die
schönsten Früchtchen trägt.
Legenden
Gestorben sind die Fußball-Legenden Rahn
und Emmerich. Das ist die durchgehende Sprachregelung in den deutschen
Medien.
"Legende" ist nach dem Deutschen Wörterbuch "die erzählung aus
dem leben der heiligen" oder die "aufschrift auf münzen",
später analog dazu die ‚erklärende Unterschrift unter einem Bild oder einer
Abbildung'.
Falls die Herren Rahn und Emmerich als Heilige betrachtet werden, was schon
ein Blödsinn wäre, könnte es allenfalls Legenden von ihnen oder über sie
geben.
Die Aussage, sie seien selbst Legenden, bedeutet überhaupt nichts.
Es ist dies nicht einfach der Fall eines falschen Sprachgebrauchs.
Es ist der Fall eines ‚irgendwie', der Erzeugung einer Stimmung.
Verzichtet wird damit auf die Wortbedeutung und die damit verbundene
Vorstellung, Voraussetzung jedes Sprachgebrauchs, der darauf aus ist, etwas
zu sagen und nicht vielmehr nichts..
Wir erfahren den Einbruch der semantischen Beliebigkeit.
Mediensprache besteht zu großen Teilen aus semantischer Beliebigkeit.
Auf dieser Grundlage soll die öffentliche Verständigung entstehen.
Kann sie denn mehr sein als der Austausch von Verrückten?
____________
Kleine Berlinreise
Erinnerung an die ersten Berlineindrücke
vor 45 Jahren. Ich kannte ja nichts jenseits der Ostgrenze. Es kostete eben auch
einige Mühen, auf die "Insel" zu kommen, die sich als Mischung aus
Welt und Dorf präsentierte, auf der man aber, wie die Jahre dann zeigten, gut
leben konnte. Man war zwar unter einer Glasglocke, die jederzeit zerklirren
konnte, was z.B. 1961 fast geschah, aber der Alltag war geordnet, in den
Vorstädten versickerte die passable Hektik des Zentrums. Man war schnell im
Grünen, aber hatte auch Theater und Konzerte in der Nähe. Die
Kleinbürgerlichkeit des Publikums war nicht aufdringlich. Die dünne intellektuelle
Schicht tauschte sich aus. Es gab nicht allzu viele Intrigen. Damit war es
1967 vorbei, aber diese Änderung bekam man nur im Weggehen mit.
Dann wurde es nach allen Berichten an den dortigen Universitäten (aber nicht
nur an denen) scheußlich. Davon merkte man aber als gelegentlicher Besucher
wenig. 20 Jahre später kam die Öffnung der Mauer. Kurze Euphorie. Und nun?
Berlin ist schlampiger und schmutziger
als die anderen großen deutschen Städte, die auch nicht gut aussehen.
Gleiches oder ähnliches Elend schaffte der Wiederaufbau, der nirgendwo
gelungen ist. Gleiches und ähnliches Elend bedeutet die Schmiererei
allüberall, wenn auch von Stadt zu Stadt mit erheblichen Unterschieden. Aber
den Sieg trägt Berlin davon. Es ist die verschmierteste Stadt des Landes, ja
des Kontinents. Im Osten ist es noch etwas schlimmer als im Westen, aber
überall tendiert es aufs Ganze. Kein unten, kein oben bleibt verschont. Am
schrecklichsten ist es, wenn etwas gerade, oft mit Delikatesse restauriert
ist. Aber das Publikum verdrängt das Schmierelend seit mindestens 15 Jahren,
als gäbe es das alles gar nicht. Und dem folgen bereitwillig Regierungen und
Verwaltungen, die keinerlei Gefühl für ihre Verantwortung mehr aufbringen. So
wird die "Hauptstadt" Berlin, die ja noch sehr im Entstehen ist,
von vornherein wieder demoliert. Denn die Zerstörung des Ästhetischen oder
dessen einfachster Grundlagen ist natürlich eine Demolierung wie die der
Luftangriffe, wie die der Abrisse in den fünfziger Jahren. Eine abgestumpfte
Bewohner- und Touristenschaft hastet von Freßstelle zu Freßstelle und ist
froh, wenn es irgendwo Betrieb gibt. Der Senat teilt sich in diejenigen, die
immer noch vom Kreativen der Graffiti schwafeln (am Kurfürstendamm gibt es
sogar eine Eisdiele mit dem ominösen Namen) und diejenigen, die mit dem
Grinsen des Regierenden Bürgermeisters dabeistehen.
Der Wiederaufbau kam in Berlin(-West)
später als im Westen Deutschlands. Und in der Oststadt fand man es
beachtlich, wenn wieder einmal ein Haus gebaut wurde. So wurde erst nach 1990
in Ostberlin, v.a. in "Mitte" aufgebaut: auf Brachflächen, die es
ja noch reichlich gab, und als Restaurierung der heruntergekommenen großen
Häuser in den Straßen rechts und links der "Linden". So ist der
neue Potsdamer Platz entstanden, der aber gar kein Platz mehr ist, sondern
eine Ansammlung von beziehungslos gereihten Großbauten, zu denen immer noch
mehr kommen. Dazwischen gibt es manchmal schmale Durchgänge, die auch noch
"Gasse" heißen, ich glaube u.a. "Eichendorffgasse". Es
ist absurd, aber kein Stadtplaner merkt es.
An der Leipziger Straße ist das Herrenhaus, eines der massiven
spätklassizistischen Gebäude, für den Bundesrat hergerichtet worden, der
dadurch wenigstens äußerlich Glück gehabt hat. Daran anschließend das
ehemalige Luftfahrtministerium, dann DDR-Haus der Ministerien mit sorgfältig
restaurierten sozialistischen Kachelbildern, jetzt das
Bundesfinanzministerium. Auf der anderen Straßenseite aber der Zustand von
`45: chaotisches Wachstum, Durcheinander, in die Wilhelmstraße hinein eine
wacklige, beschmierte Mauer. So wird es wohl noch lange bleiben.
Den Wilhelmplatz kann man gar nicht mehr erkennen. Ecke Voßstraße, wo die
alte Reichskanzlei stand, hat die untergehende DDR noch Funktionärswohnblocks
aufgebaut. Die ziehen sich auch in die Voßstraße hinein, wo Speers Neue
Reichskanzlei für ein paar Jahre stand, wo man die aufgewölbte Decke des
Hitler-Bunkers noch 1958 begucken konnte. Ein Berliner aus
"Prenzelberg" taucht auf, der bei der letzten Sprengung des Bunkers
1987 dabei war. Vom letzten Telefon in der Telefonzentrale weiß er zu
berichten, von den vier Meter dicken Betondecken, vom Grundwasser im tiefsten
Bunker, in dem Hitler am Ende saß.
Ganz in der Nähe haben sich die meisten Ländervertretungen beim Bund
eingerichtet: nichtssagende Kästen, von denen die hessische Vertretung nur
darum auffällt, weil sie als Bügeleisen gestaltet ist. Aus der Kantine riecht
es nach Sauerkraut.
In ganz Berlin riecht es übrigens, nein, es stinkt. Ich höre , es werde nicht
genügend Abwasser eingesetzt, um die Fäkalien zu transportieren. Es ist eine
drastische Symbolik.
Am Tiergarten entlang, rechts der Ebertstraße wird das Holocaust-Mahnmal auf
einem großen Gelände gebaut. Etliche Stelen sind schon aufgestellt. Und wenn
alle stehen, wird es die ständige Sorge geben, wann eine oder viele von ihnen
beschmiert werden. Dann gibt es wieder eine der sinnlosen deutschen
Diskussionen. Und dann wird die nächste Schmiererei folgen. (Inzwischen
suchte man dem durch einen Überzug vorweg zu begegnen, aber nun war es wieder
eine Firma mit Vergangenheit, die das Unternehmen vorläufig still legte.)
Die "Linden" sind immer noch
provisorisch. Die Verantwortlichen wissen nichts mit ihnen anzufangen. Weder
Bund noch Berlin spüren, daß es um die wichtigsten Stellen einer Hauptstadt
geht. Sie würden am liebsten bei Laubenpiepers regieren. Zwischen der
Nurrepräsentation sind mal leere, mal armselige Geschäfte. Rauchs
"Friedrich" ist von einer Farbflasche verunstaltet. Man liest, daß
intakte Linden für irgend etwas gefällt werden sollen. Der Schloßplatz, der
Hauptplatz der Republik, sieht so aus wie vor acht oder zehn Jahren. Der
"Palast der Republik", natürlich verschmiert, gammelt vor sich hin,
auf dem Platz selbst ist Vorstädtisches aufgebaut. Alles wirkt armselig.
Aber links ist der Versuch gemacht worden, Schinkels Lustgartenentwurf zu
realisieren. Vor dessen Altem Museum steht die ungeheure Granitschale, rechts
daneben und nach hinten versetzt die Alte Nationalgalerie, die mit großem
Fleiß und großer Kompetenz restauriert worden ist: mit dem Marmor Schadows,
Rauchs, Tiecks und anderer auf der Parterrefläche, mit den schönen
Menzel-Kabinetten, mit erheblichen Sachen des deutschen und französischen 19.
Jahrhunderts. Das alles ist hocherfreulich.
Ausstieg am Hackeschen Markt, der schon wieder Form hat. Der Bahnhof ist gut
wiederhergestellt . Gegenüber liegen die Hackeschen Höfe, in denen sich
Schulklassen breit und laut machen. Weiß der Teufel, wann die irgendetwas
lernen. Der erste Hof mit den farbigen Fliesenwänden des Jugendstils, dann
viele weitere unterschiedlichen Wertes, ein sehr intimer mit einem kleinen
Backsteinbau in der Mitte, ein Rosenhof, ganz apart, und von dort aus eine
schön geschwungene Treppe. Hoffentlich kann sich das intakt erhalten. Die
Straßen draußen, u. a. die Oranienburger sind aufgerissen, als sei man in den
Nachkriegsjahren. Es gibt einen weiteren restaurierten Hof, den
Heckmannschen, der kleiner ist, aber auch nichtrestaurierte, die die DDR
verewigen. Die Synagoge mit dem prächtigen Goldturm ist von Polizei und
Gattern umstellt. Geht man hinein, muß man durch Sicherheitsschleusen
hindurch und sich heftig kontrollieren lassen. Aber die Synagoge ist gar
keine mehr. Der eigentliche Raum ist nicht wiederaufgebaut worden, nur in den
Vorräumen gibt es ein kleines Museum, in dem vor allem Fotosammlungen
auffallen. So sieht man vieles über das Leben in der jüdischen Gemeinde nach
1933: Schulen, Heime, Krankenhaus, Speiselokale. Und alles wirkt so normal
wie nur denkbar. Was mag die Intention sein, dies so ordentlich zu
präsentieren? Man müßte etwas von den Gefühlen der Menschen wissen, die man
auf den Fotografien sieht. Denn man sieht z.B. Serviererinnen mit weißen
Häubchen.
Draußen ist es bis zur Friedrichstraße einigermaßen tumultuös. Aber dann gibt
es wieder eine Reihe von Lokalen, mit denen Berlin zu hunderten und tausenden
allüberall aufwartet. Immer wird, das ist die ganze Kultur der Deutschen,
gefressen. Bis zur Ecke Friedrichstraße auf der anderen Straßenseite eine
erhaltene lange und pompöse Geschäftsfassade, von der man nicht weiß, was
sich dahinter verbirgt. Ein altes Kino ist darin untergebracht.
Um die Ecke zu einer
Straßenbahnhaltestelle. Derlei gibt es nur noch im Osten. Rumpelnd fährt man
alte Namen entlang, kreuzt die Linienstraße, kommt zum Oranienburger Tor, wo
an der Ecke Aufgefrischtes aus der Speerära steht. Über die Chausseestraße
zur Invalidenstraße. Schinkels griechische Elisabethkirche. Einbiegen in die
Brunnenstraße, Häuser mit kleinen Geschäften und durchaus verschmiert. Zum
Bahnhof Gesundbrunnen und am Humboldthain vorbei. Irgendwo die Zionskirche,
die man doch aus der Bürgerrechtsbewegung kennt. Weiter nach Pankow und nach
Französisch Buchholz, einer früheren Hugenottensiedlung, an die eigentlich
nur noch die Dorfkirche erinnert. Guyotstraße ist die Endhaltestelle. Da
stehen neue größere Wohnblöcke, aber dahinter sind noch Kleingartenanlagen,
die natürlich "Frohsinn" heißen.
Unser Hotel liegt oben in der Nähe des
Kurfürstendamms, wo die Straßen Xantener und Paderborner und Duisburger heißen
und schön ruhig sind. In diesen Wilmersdorfer und Charlottenburger Wohnblocks
aus den späten zwanziger und den dreißiger Jahren, die sich oft als
Flügelanlagen zeigen oder um einen Innenhof gruppieren, kann man noch heute
Wohnkultur besehen, den Versuch, etwas Großzügiges zu machen und dennoch
allem Feudalen Abschied zu geben. Nie ist dergleichen nach dem letzten Krieg
wieder gelungen.
An den Straßenecken dann und wann gute Eßlokale. Als wir eines Abends eines
betreten wollen, sehen wir in der Straße davor, etwa 75 m von uns entfernt,
Polizei- und Krankenwagen mit dem entsprechenden Blaulicht. Drinnen hören wir
dann auch hin und wieder Gehup. Aber viel mehr geht es dort um eines der
bewegenden National-Fußballspiele, bei denen die Deutschen die übliche schlechte
Figur machen. Obwohl es ein richtiges Restaurant ist, das z.B. einen
schmackhaften Saibling serviert, gibt es vom Tresen her manchmal Hallo und
Gedröhn wegen des Spiels. Keinen kümmert das Geschehen vor der Tür, das wir
lange für einen der großstädtischen Notfälle halten. Als wir uns aber
schließlich beim Kellner erkundigen, sagt der, es habe die Explosion einer
Bombe in einer Kunststofftüte gegeben. Am nächsten Tag heißt es im Blatt:
Rohrbombe, Attentat auf einen Tierarzt, der schwer verletzt wurde, überdies
sei ein Unbeteiligter betroffen.
Der Weg über die Kantstraße zwischen
Wilmersdorfer und Savignyplatz am Abend ist so wie vor vierzig Jahren. Die
alte, leicht ärmliche Biederkeit. Um den Platz und an seinen Seitenstraßen
allerhand Gastronomie mit deutlicher Dominanz italienischer Etablissements.
Ein kleines betont ausdrücklich, es habe deutsche Küche. Bis zum
Kurfürstendamm ist es hinterher ein gutes Stück. Aber von dort ist man
schnell mit dem Bus wieder in der Nähe des Hotels.
An einem stillen Vormittag nach Dahlem:
zum Henry- Ford-Bau, in dem 1967 nach dem Tod von Benno Ohnesorg eine erste
Versammlung stattfand. Es war so etwas wie die Gründungsversammlung der
achtundsechziger Bewegung. Erinnerungen an Peter Szondi und Knut Nevermann
als Redner. Ich versuchte mich auch, obwohl dazu gar nicht geeignet. Ein paar
Jahre vorher hatte auf dem Platz vor dem Bau Kennedy die "distinguished
faculty" angesprochen. Gegenüber an der Boltzmannstraße das alte Gebäude
der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, das das erste der Freien Universität wurde.
Ihm wieder gegenüber war in einer kleinen Villa das Rektorat untergebracht,
aus dem Fritz Teufel den Rektortalar sich besorgt hatte, mit dem er
herumtanzte. Das war der Beginn der großen Epoche, deren Erfolge wir heute dankbar
genießen mit den Heroen Schröder und Fischer an der tète. Sie sind die
Repäsentanten des neuen Berlin.
_______________
Aus: Ulrich Erckenbrecht, Elefant Kette
Fuß bunne. Ausgewählte Gedichtsel.
Kassel: Muriverlag 2003.#
Weltreise
London: Banden.
New York:
Quork.
Honolulu: Tohuwabohu.
Hongkong: King Kong.
Burundi: anus mundi.
Rio:
Chaos con brio.
Paris,
Pigalle: Touristenfalle.
Roma:
Koma.
Bari : Larifari.
Napoli: Hochstapoli.
Interlaken: Kakerlaken.
Barcelona: macht euren Dreck alona.
Gespräch zweier Flöhe in Wilhelmshöhe
"Es sieht so aus, als gebe es
gar keinen Reim auf Celebes".
"Doch Borneo hingegen
hat einen Reim auf Regen".
"Und Sumatra, ach Gottchen
verreimt sich schon auf Lottchen".
"Selbst Java - ja was soll es? -,
das ist als Reim nichts Dolles".
"Nur Celebes, , wie schon gesagt,
das reimt sich nicht, Gott sei's geklagt".
Liedergalgen
Morgenstern ist Konstrukteur
obskurriler Phantomaten,
manchmal aber - bon malheur -
frißt er sie samt Implikaten
und hört nachts, in seltnen Fällen,
wirklich den Polarfuchs bellen,
weil, so träumt er messerscharf,
alles sein kann, was sein darf.
Qual...ifikation
Wie wird man ein Rezensent?
Indem man beim Lesen pennt.
Vorlesung
Der Professer
weiß es besser.
Dem Anreger Ulrich Erckenbrecht
Philosophenreise
Horkheimer, Adorno und Benjamin
wollten in philosophische Fernen ziehn.
Sie bestiegen ein metaphorisches Schiff,
das ward zum Begriff
und lief auf ein Riff. -
Da waren sie wieder im alten Berlin.
Meisenreise in Ringelnatz
In Hamburg lebten zwei Kohlmeisen,
die wollten nach Australien reisen.
Sie dachten: in Canberra auf der Chaussee
da tun uns vermutlich die Flügel weh.
Und da verzichteten sie weise
auf die ganze Reise.
Reisefragen
Was willst du denn in Kanada?
Na einfach: Ich war auch ma da.
Was willst du denn in Australien?
Das wird sich sicher auszahlien.
Was willst du denn in Timbuktu?
Da sinn du, da denk du, da guck du.
Was willst du in Saudi Arabien?
Ich will mit dem Audi durchtrabien.
Alles Käse !
Auch diese These.
(nach
oben)
VOM (EINSTIGEN) LEBEN
1947
Am 16. Januar seien in Frankreich
Präsidentschaftswahlen. De Gaulle habe seine Kandidatur mit der Begründung
abgelehnt, die Verfassung sei zu demokratisch.
Die neuen Lebensmittelkarten der 97. Periode werden ausgegeben, die Periode
dauert vier Wochen. Eine Untersuchung ergibt, daß ich unterernährt und stark
untergewichtig bin. Es ist wieder sehr kalt. Ein heißes Bad wird ausdrücklich
verzeichnet. Von irgendwoher gibt es Mitte Januar zehn Zentner Nußkohle.
Im Rundfunk diskutiert man am runden Tisch über das Thema: Gibt es noch eine
Dame? Max Frischs "Versuch eines Requiems" "Nun singen sie
wieder" wird zum ersten Mal gesendet. Lektüre von Kleppers "Der
Vater", des biographischen Romans über Friedrich Wilhelm I., eines
"von äußeren und inneren Nöten gequälten und zerquälten Menschen".
Nach dem "Untertan" von Heinrich Mann gibt es ein Hörspiel
"Die herrlichen Zeiten". "Sein ‚Held', der Fabrikbesitzer Dr.
Heßling, in allem das genaue Abbild seines Kaisers, ahmt nun kritiklos alles,
auch alle Fehler dieses Kaisers nach als ein Beispiel für den größten Teil
des deutschen Volkes, das nie fragt, warum, sondern nur sein ‚Jawoll' kennt
und mit ‚Jawoll' unter Wilhelm ‚III' in sein Elend ging."
Wieder eine Kältewelle. Die Schulen werden deswegen geschlossen. Der NWDR
schreibt ein Preisausschreiben aus: "Was erlebten Sie am 29. Januar
47?".Ich beteilige mich mit einem "trockenen" Bericht. Anfang
Februar muß ein Aufsatz über die Kälte geschrieben werden.
"Die Lebensmittelversorgung wird von Tag zu Tag schlechter." In
Berlin gebe es bereits 100 Erfrorene. Meine Schwester in Heidelberg zieht
Geburtstagseinladungen zurück, da sie kein Stückchen Holz mehr habe. Die
Familie wärme sich tagsüber bei Bekannten.
Lektüre von "Der Untergang Berlins" des dänischen Journalisten J.
Kronika. Luxemburg hat seine Ansprüche an Deutschland formuliert.
Wolfgang Borcherts Hörspiel "Draußen vor der Tür" wird im Radio
uraufgeführt. Sendung einer Reportage über den Hürtgenwald in der Eifel unter
dem Titel "Das vergessene Land" : "das Bild einer zerfetzten
Landschaft".
Wieder wird der Unterricht eingestellt. Es ist nun Mitte Februar. Am
Rosenmontag gibt es Maskenbälle und karnevalistische Sitzungen. Ein Gedeck
mit Getränken koste 750 Mark.
Von einer neuen Jugendzeitschrift "Benjamin" wird kurz berichtet.
Englische und amerikanische Militärpolizei gehen gegen
Nazi-Geheimorganisationen vor.
Die Nacht zum 25. Februar soll die kälteste des Winters werden. Im
"Kleinen Theater" wird Léhars "Land des Lächelns"
besucht. Und im Kino gibt es den Farbfilm "Das Bad auf der Tenne".
Anfang März beginnt Tauwetter. Gleichzeitig wird ein
"Ernährungstiefstand" erreicht. Aber von Verwandten im Hessischen
kommt ein "Freßpaket".
Im Nordwestdeutschen Rundfunk gibt es ein Hörspiel von Axel Eggebrecht :
"Was wäre wenn...", "eine Rückschau vom Jahre 2047 auf unsere
nahe Zukunft." "...eine Bewegung ...aus den Einsichtigen aller
Völker [müsse] entstehen", damit man zum "gerechten, wirklichen
Frieden der ganzen Welt" komme.
Im Radio wird "über unsachliche Kritik am Engländer gesprochen".
Die Engländer hätten sich "als Sieger" "hochanständig
benommen". Wir müßten anerkennen, daß wir wieder "freie
Meinungsäußerung" haben. Wir hätten nicht nur den Krieg verloren,
sondern seien "seit 1933 mit Hitler in den Krieg marschiert".
Ein Freund besucht mich und berichtet von einer Reise nach Holland, das den
"Eindruck eines neu aufblühenden Landes" mache. Das Schuljahr ist
beendet. Mit dem Zeugnis bin ich zufrieden, aber mit 16 Jahren komme ich
wegen der Kriegs- und Nachkriegsausfälle erst in die Obertertia.
Besuch der Generalprobe der Matthäus-Passion . Anschließend Teilnahme an
einer "Bibelfreizeit" in München-Gladbach[!]. Die geistlichen und
die Laienbetreuer heißen Kuschmi, Kako und Benni, und es wird u.a. über die
Frage diskutiert, ob Laienspiel nicht vielleicht Götzendienst sei. Benni hält
ein Referat über die katholische Kirche.
In einer Kirche in Düsseldorf spricht der Vorsitzende des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland Landesbischof Wurm: "ein
hochgebildeter Mann".
Im Radio höre ich "Parthenope" von Händel: "ein wunderbares
Werk". Im Theater gibt es ein Konzert mit Händel, Beethovens
"Eroica" und einem Klavierkonzert von Julius Weismann, dessen
Klavierpart er selbst spielt: das Werk habe mich "gepackt".
Das neue Schuljahr beginnt Mitte April. Ein neuer Lehrer wird "ein
feiner, ehrlicher Mann" genannt, "'Humanist' in des Wortes
wörtlichster Bedeutung"."Leider behielten wir H. und J."
Auf einer Pfarrerkonferenz, erzählt uns Pastor Immer, der spätere Präses der
Rheinischen Kirche, habe Bischof Wurm sich gegen die Gefahr des Nationalismus
gewendet.
In der britischen Zone finden Landtagswahlen statt. Meist Siege der SPD. Aber
in NRW ein Vorsprung für die CDU. Profitiert hätten v.a. KPD und Zentrum.
Mit zwei Altersgenossen werden Arbeitspläne für die Gemeindejugend
ausgearbeitet. Ich halte dort einen Vortrag über Dürer.
Die Gewerkschaften wenden sich in großen Protestkundgebungen gegen die
Hungerrationen.
Meine Mutter verliert Marken für ein viertel Pfund Butter, aber am selben Tag
kommt eine Kiste mit Kartoffeln an.
Im Mai ist es schon ausgesprochen heiß. Mitte des Monats wird das Hörspiel
mit den Einsendungen zum 29. Januar gesendet, das Ernst Schnabel geschrieben
hat. Peter von Zahn spricht vorher über das Preisausschreiben.
Es gibt Kriegsgerüchte. Der erst gewählte Landtag von NRW tritt zusammen.
"Man streitet über Geschäftsordnungsfragen." In München findet eine
Konferenz aller deutschen Ministerpräsidenten statt. Die Vertreter aus der
sowjetischen Zone gehen aber alsbald wieder, "da ihre Wünsche betreffs
Behandlung politischer Fragen nicht berücksichtigt wurden".
Im Juni bekommt der Vater in seiner Firma "Liebesgaben aus
Schweden". In unserem Garten ernten wir Salat, Melde, Rhabarber und
schon ein paar Stachelbeeren.
Der Ernährungsminister von NRW Lübke legt einen Plan "zur endgültigen
Sicherung der deutschen Ernährung" vor. Ein neuer Ministerpräsident wird
gewählt: Karl Arnold.
Ich lese "Der Herr Kortüm" von Kurt Kluge. Es sei ein Roman
weit"über dem Durchschnittsniveau". Kortüm schaue "lächelnd
und traurig, erhaben und mitfühlend auf die Welt".
Der erste neue Spielfilm in der britischen Zone soll noch im Juni
uraufgeführt werden: Käutners "In jenen Tagen". Eine Ausgabe des
Blattes der FDJ "Neues Leben" wird kopfschüttelnd und mit Gelächter
gelesen.
Der NWDR sendet eine Inszenierung des Frankfurter Senders von Karl Kraus'
"Die letzten Tage der Menschheit" an zwei Tagen. Es habe eine
"eindringliche Sprache" und sei "noch immer
wirkungsvoll". Aber es laufe auf "völligen Nihilismus" hinaus
und ende in "gemeiner Ironie". Des 125. Todestags von E.T.A.
Hoffmann wird gedacht und ein Konzert mit seiner Musik kurz referiert.
In Paris findet wieder eine Außenministerkonferenz statt, die Vorschläge für
die amerikanische Europahilfe (Marshallplan) machen soll. Sie platzt schon
bald, da Rußland Bedenken hat.
In Frankreich wird eine Untergrundbewegung aufgedeckt, die eine
"diktaturähnliche Herrschaft" habe errichten wollen.
Unsere Jugendgruppe lernt eine katholische Jugendgruppe kennen, die uns
beeindruckt.
Als meistgenannter deutscher Politiker gelte gegenwärtig Alfred Loritz, der
die "Wirtschaftliche Aufbauvereinigung" gegründet habe, in Bayern
erfolgreich und dort Minister geworden sei. Er habe Internierungslager
eingerichtet, sei inzwischen aber seines Amtes enthoben worden. Ein paar Tage
später heißt es, L. sei geflohen.
In Berlin sei der SPD-Oberbürgermeister Ostrowski von seiner eigenen Fraktion
fallengelassen worden. Zum neuen Oberbürgermeister sei Prof. Reuter gewählt
worden, der aber von den Russen nicht bestätigt werde.
Vom Geschichtsunterricht in der Schule wird berichtet: Friedrich II. bleibe
Friedrich der Große, Preußen stehe im Mittelpunkt der deutschen Geschichte.
Man müsse aber gerade den jungen Menschen die Augen öffnen und ihnen von den
"guten, großen Taten friedlicher Arbeit" erzählen.
Die englische Thronfolgerin Prinzessin Elizabeth verlobt sich mit dem
Leutnant der Marine Philip Mountbatten.
Im Theaterfoyer findet eine Schülervorstellung von "Kabale und
Liebe" statt: "sehr gute, lebendige Darstellung". In der
Gemeindejugend veranstalte ich einen Rezitationsabend mit Texten zum Sommer.
G.L., ein längst verstorbener Jugendfreund, spielt dazu Mozart.
Zu Anfang der Sommerferien fahre ich zu Verwandten in einem Dorf bei Gießen.
Es ist sehr heiß. Im Radio höre ich eine Reportage vom Sportfest der
sowjetischen Marine in Moskau. Ein Vetter geht mit mir ins Kino. Wir sehen
einen amerikanischen Film über einen englischen Offizier, der im Krieg sein
Gedächtnis verloren hat: "Gefundene Jahre". Die Stadt Gießen wird
"eine tote Stadt" genannt, die Buchhandlungen böten nichts.
Im Dorf wird Kirmes gefeiert. Ich bereite mich auf die Heimreise vor und muß
für die Eisenbahn eine Zulassungskarte haben. Über die Industrie- und
Handelskammer in Gießen bekomme ich eine Dienstreise- Bescheinigung und
darauf wiederum die Zulassung für den Zug.
In sieben Stunden fahre ich von Gießen nach D.
Holland führt Krieg gegen seine ehemalige Kolonie Indonesien. Der
Weltsicherheitsrat setzt die Einstellung der Feindseligkeiten durch.
Ich bitte den Regierungschef von Liechtenstein um Literatur über das Land,
die mir auch alsbald zugeschickt wird.
In den Zeitungen gebe es fast nur schlechte Nachrichten. Ein Minister sei
Nazi, ein Bischof müsse vor die Spruchkammer, P. Niemöller werde als
Judenfeind bezeichnet. Reaktionen des Publikums auf Wochenschauberichte: es
lache, wenn z.B. große Fettimporte für das Ruhrgebiet gezeigt werden. Eine
Außenministerkonferenz setzt die Erhöhung der Industriekapazitäten der drei
Westzonen fest.
Die Schule beginnt wieder. Wir bekommen eine bessere Schulspeisung.
Eine Ordnung für die Gemeindejugend wird entworfen. Der Jugend gehe das
Vermögen zu selbständigem Denken völlig ab. Sie spreche nur aufgefangene
Schlagworte nach.
Am 1. September wird an den Beginn des Krieges vor acht Jahren erinnert.
"Es scheine immer noch einige Leute zu geben (leider meist Leute von
Einfluß), die auf einen dritten ‚lustigen' Weltkrieg spekulieren."
Ich sehe den Käutner-Film "In jenen Tagen", die Geschichten eines
Autos. Eine Rahmenhandlung und sieben Episoden. Das Auto erzähle die
"Geschichte seines Lebens, in dem ihm wirkliche Menschen begegnet
sind". Er sei ein wahrer Film und darin liege "seine Größe".
In der Gemeindejugend gibt es nach einigen Streitigkeiten Neuwahlen des
Arbeitskreises. Nun sei ein "wunderbares Trio" zusammen. Sofort
habe es auch Auseinandersetzungen über rechtliche Fragen gegeben. Gehe das so
weiter, wolle ich zurücktreten.
Vom Schwarzen Markt am Hauptbahnhof wird geschrieben, dann von den
Unsinnigkeiten der Bürokratie.
Zum dritten Mal gebe es eine UNO-Vollversammlung. Die USA wollen das
Vetorecht abschaffen, die Sowjetunion besteht auf der Beibehaltung.
P.Niemöller habe in der Marienkirche gesprochen, und zwar über die Lage der
Kirchen in den USA. Er wollte zeigen, was wir von den Amerikanern lernen
können und "was unsere Gebetsaufgabe für die Amerikaner" sei. Die
amerikanischen Kirchen seien jung, doch die dortigen Predigten seien
"keine Erweckungspredigten, sondern Vorträge über das Thema ‚Wie werde
ich glücklich und fromm?'" Hinterher sei gesagt worden, der Vortrag sei
reine Propaganda für Amerika. Das sei das typische Urteil eines Durchschnittsdeutschen.
Aus der Ostzone flüchteten sowohl Prominente wie hunderttausende von
"Normalverbrauchern" in die amerikanische Zone.
An Thomas Mann wird kritisiert, daß er Luther als "Vorbereiter des
Preußentums, ja sogar des Nazismus" bezeichne. Auch verabscheue er
Luther wegen dessen Musikliebe. Musik sei der "Urgrund des
Dämonischen". Dies sei eine Meldung aus der Kirchenkanzlei von
Schleswig-Holstein.
Die Reden von Marshall und Wyschinski vor der UNO-Vollversammlung. Nach den
Reden habe man "ein sehr scharfes ‚Knacken' gehört. Es war etwas
entzweigegangen... Ein Riß war entstanden im Gebäude der Einigkeit."
Der Führer der bulgarischen Opposition Nikola Pettkoff sei wegen Hochverrats
hingerichtet worden. Er habe seine Tapferkeit im Kampf gegen die pronazistische
Königsregierung gezeigt. Die jetzige unter dem Ministerpräsidenten Dimitroff,
dem Angeklagten im Scheinprozeß wegen des Reichstagsbrandes, verhalte sich
nun nicht anders.
Einiges über ein Bändchen mit Flüsterwitzen aus der Nazizeit .
Der bayrische Landtag habe ein Gesetz beschlossen, daß jeden bayrischen
Bürger berechtige, Kriegsdienst zu verweigern.
In Zeitungen lese man Anzeigen ausländischer Lebensmittelexporteure, in denen
die Deutschen aufgefordert würden, ihre ausländischen Verwandten um Lebensmittelpakete
zu bitten. Dann heiße es oft, Bettelbriefe aus Deutschland seien zwecklos.
Das große Problem unserer Ernährungswirtschaft sei die Versorgung mit
Kartoffeln. Alle Berechnungen seien durch die magere Kartoffelernte über den
Haufen geworfen.
Die Jugendkonzerte des Winters haben begonnen. Ich lese Faust I und gehe in
die Volkshochschule mit einem Kurs über große europäische Staatsmänner, der
mit Richelieu beginnt.
Der NWDR gibt die Namen der Mitarbeiter bekannt, die wegen Fälschung von
Fragebogen vor Gericht gestellt wurden,unter ihnen der Kommentator der
Nürnberger Prozesse.
Der "Pinguin", eine von Kästner herausgegebene Jugendzeitschrift,
hat seinen Lesern 17 Fragen über eine Weltregierung gestellt. Ich beteiligte
mich und fand etliche Antworten von mir abgedruckt.
Die britische Militärregierung veröffentlicht im Oktober die neue und
endgültige Demontageliste.
Über die eigenen Gedichtversuche heißt es, sie sollten nicht Kunst sein,
sondern v.a. "Anklage gegen den Krieg". Über viele Konzertbesuche
wird berichtet. Auf einer sogenannten Arbeitskreistagung der evangelischen
Gemeindejugend der ganzen Stadt sei es um "brennende Fragen"
gegangen: Schwarzer Markt, Verhältnis zu Mädchen, Kohlenklau, Verhältnis zu
den Eltern. Ab November wird unter meiner "Regie" ein Krippenspiel
einstudiert. Der Herausgeber der von Kästner geförderten Münchener
Schülerzeitschrift "Das Steckenpferd" fordert mich auf,
"Berichte und Aufsätze über das Jugendleben unserer Zone zu
verfassen".
Ein "junger, heimatloser Schlesier", im August aus sowjetischer
Kriegsgefangenschaft entlassen, wird zum Essen eingeladen. Er erzählt, daß er
vier Jahre in Kasachstan Gefangener war, wo es täglich 600 Gramm "zähes,
schweres Russenbrot" und zweimal einen Liter Wassersuppe gab.
Da die Heizung nicht in Ordnung ist, wird der Unterricht auf drei Kurzstunden
zu je 30 Minuten reduziert. Begeistert wird von einer Volkshochschulvorlesung
"Wege zum vertieften Verständnis der deutschen Sprache" berichtet.
Der englische Außenminister Bevin habe nach einer Konferenz der vier Mächte
erklärt, der einzige Punkt, über den vollständige Einigkeit erzielt worden
sei, sei der der Uneinigkeit.
Als Sonderzuteilung für Weihnachten erhalten wir je ein Pfund Zucker. In der
Schule gibt es am Nikolaustag eine halbe Büchse Erdnüsse und 12 Kekse.
Die Spielgemeinschaft unserer Schule und des Mädchengymnasiums führt
Schillers "Fiesco" auf : "eine recht beachtliche
Leistung".
Die Teilung Palästinas sei von der UNO beschlossen worden. Aber die Araber
rüsteten zum Krieg ; sie "schwören allen Juden blutige Rache". In
Berlin tage ein Volkskongreß, der von der SED beherrscht werde. Die habe ihn
zur "gesamtdeutschen Repräsentation" proklamiert.
Lektüre von Frank Thieß' "Der Leibhaftige", "ein Sittengemälde
der Weimarer Zeit".
Als Weihnachtsgaben werden "ein Oberhemd, Strümpfe und Unterwäsche"
verzeichnet. Das Krippenspiel wird mehrmals aufgeführt. Die Fettration
beträgt 150 Gramm im Monat.
Wir wollen, so am 31. Dezember, "auf ein Jahr des wirklichen Friedens
wieder hoffen".
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