Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

 Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 7 ( April/ Mai  2004 )

 

 

 

 

INHALT: Zum 280. Geburtstag, zum 200. Todestag von Immanuel Kant(„Zum ewigen Frieden“ von Karl Kraus, Zitat aus einer Schrift von Kant) –  VON DER SPRACHE: Humboldts Sprachdenken - Linguistische Einsichten – 
VON DER EPOCHE:
Kurze Anfrage bei der Theologischen Fakultät und bei der Evolutionslehre – VON DEUTSCHLAND: Vom Bombenkrieg zum Wiederaufbau. Bei Gelegenheit von Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“ – Nach unten. Zur Genese unserer Lage – VON DER UNIVERSITÄT: Universitätsjournal - Wintersemester 71/72 (Auszüge)- Aus einem Brief an einen Freund nach dem Tod von Peter Szondi. Dezember 1971 – VON DEN MEDIEN: Achtundsechzig und die Medien (Auszüge aus einem Rundfunkfeature von 1974) – Vom Dschungelcamp zu Herrn Mohn -  Was aus einem Leserbrief werden kann – Bach für FernseherVOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1948

 

 

Zum 280. Geburtstag, zum 200. Todestag von Immanuel Kant

 

Zum ewigen Frieden

von Karl Kraus

 

„Bei dem traurigen Anblick  nicht  sowohl
der Übel, die das menschliche Geschlecht
aus Naturursachen drücken,  als vielmehr
derjenigen,  welche  die Menschen sich
untereinander selbst anthun, erheitert sich 
doch das Gemüth durch die Aussicht, es 
könne künftig besser werden;  u n d  z w a r
mit  uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir 
längst im Grabe sein und die Früchte, die
wir zum Teil  selbst gesät  haben, nicht
einernten  werden.“

 

 

      Nie las ein Blick, von Thränen übermannt,

      ein Wort wie dieses von Immanuel Kant.

 

      Bei Gott, kein Trost des Himmels übertrifft

      die heilige Hoffnung dieser Grabesschrift.

 

                              Dies Grab ist ein erhabener Verzicht:

                              „Mir wird es finster, und es werde Licht!“

      Für alles Werden, das am Menschsein krankt,

                              stirbt der Unsterbliche. Er glaubt und dankt.

 

                              Ihm hellt den Abschied von dem dunklen Tag,

                              daß dir noch einst die Sonne scheinen mag.

 

                              Durchs Höllentor des Heute und Hienieden

                              vertrauend träumt er hin zum ewigen Frieden.

 

                              Er sagt es, und die Welt ist wieder wahr,

                              und Gottes Herz erschließt sich mit „und zwar“.

 

                              Urkundlich wird es; nimmt der Glaube Teil,

                              so widerfährt euch das verheißne Heil.

 

                              O rettet aus dem Unheil euch zum Geist,

                              der euch aus euch die guten Wege weist!

 

                              Welch eine Menschheit! Welch ein hehrer Hirt!

                              Weh dem, den der Entsager nicht beirrt!

 

                              Weh, wenn im deutschen Wahn die Welt verschlief

                              das letzte deutsche Wunder, das sie rief!

 

                              Bis an die Sterne reichte einst ein Zwerg.

                              Sein irdisch Reich  war nur ein Königsberg.

 

                              Doch über jedes Königs Burg und Wahn

                              Schritt eines Weltalls treuer Untertan.

                             

      Sein Wort gebietet über Schwert und Macht

                              und seine Bürgschaft löst aus Schuld und Nacht.

 

                              Und seines Herzens heiliger Morgenröte

                              Blutschande weicht: daß Mensch den Menschen töte.

 

                              Im Weltbrand bleibt das Wort ihr eingebrannt:

                              Zum ewigen Frieden von Immanuel Kant!

                                                              

                                                       K.K., Die Fackel 474-483 (Mai 1918)

                                                                  S.159-160

 

 

Ob es zwar in der Natur des Menschen nach der gewöhnlichen Ordnung eben nicht liegt, von seiner Gewalt willkürlich nachzulassen, gleichwohl es aber in dringenden Umständen doch nicht unmöglich ist: so kann man es für einen den moralischen Wünschen und Hoffnungen der Menschen (beim Bewußtsein ihres Unvermögens) nicht unangemessenen Ausdruck halten, die dazu erforderlichen Umstände von der V o r s e h u n g zu erwarten: welche dem Zwecke der 
M e n s c h h e i t im Ganzen ihrer Gattung zu Erreichung ihrer endlichen Bestimmung durch freien Gebrauch ihrer Kräfte, so weit sie reichen, einen Ausgang verschaffen werde, welchem die Zwecke der M e n s c h e n, abgesondert betrachtet, gerade entgegen wirken. Denn eben die Entgegenwirkung der Neigungen, aus welchem das Böse entspringt, unter einander verschafft der Vernunft ein freies Spiel, sie insgesammt zu unterjochen und statt des Bösen, was sich selbst zerstört, das Gute, welches, wenn es einmal ist, sich fernerhin von selbst erhält, herrschend zu machen.

 

***

 

Die menschliche Natur erscheint nirgend weniger liebenswürdig, als im Verhältnisse ganzer Völker gegeneinander. Kein Staat ist gegen den andern wegen seiner Selbständigkeit oder seines Eigenthums einen Augenblick gesichert. Der Wille einander zu unterjochen oder an dem Seinen zu schmälern ist jederzeit da; und die Rüstung zur Vertheidigung, die den Frieden oft noch drückender und für die innere Wohlfahrt zerstörender macht, als selbst den Krieg, darf nie nachlassen. Nun ist hierwider kein anderes Mittel, als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich der Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen) möglich;  - denn ein daurender allgemeiner Friede durch die sogenannte B a l a n c e  d e r   M ä c h t e  i n E u r o p a ist, wie S w i f t s Haus, welches von einem Baumeister so vollkommen nach allen Gesetzen des Gleichgewichts erbauet war, daß, als sich ein Sperling drauf setzte, es sofort einfiel, ein bloßes Hirngespinst.– Aber solchen Zwangsgesetzen, wird man sagen, werden sich Staaten doch nie unterwerfen; und der Vorschlag zu einem allgemeinen Völkerstaat, unter dessen Gewalt sich alle einzelne Staaten freiwillig bequemen sollen, um seinen Gesetzen zu gehorchen, mag in der Theorie eines Abbé von St. P i e r r e oder eines R o u s s e a u  noch so artig klingen, so gilt es doch nicht für die Praxis; wie er denn auch von großen Staatsmännern, mehr aber noch von Staatsoberhäuptern als eine pedantisch-kindische aus der Schule hervorgetretene Idee jederzeit ist verlacht worden.

Ich meinerseits vertraue dagegen doch auf die Theorie, die von dem Rechtsprincip ausgeht, wie das Verhältnis unter Menschen und Staaten s e i n s o l l , und die den Erdengöttern die Maxime anpreiset, in ihren Streitigkeiten jederzeit so zu verfahren, daß ein solcher allgemeiner Völkerstaat dadurch eingeleitet werde, und ihn also als möglich (in praxi), und daß er s e i n k a n n,  anzunehmen; - zugleich aber auch (in subsidium) auf die Natur der Dinge, welche dahin zwingt, wohin man nicht gerne will (fata volentem ducunt, nolentem trahunt). Bei dieser letzteren wird dann auch die menschliche Natur mit in Anschlag gebracht: welche, da in ihr immer noch Achtung für Recht und Pflicht  lebendig ist, ich nicht für so versunken im Bösen halten kann oder will, daß nicht die moralisch-praktische Vernunft nach vielen mißlungenen Versuchen endlich über dasselbe siegen und sie auch als liebenswürdig darstellen sollte. So bleibt es also auch in kosmopolitischer Rücksicht bei der Behauptung: Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis.

 

Aus: Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag  in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Kants Werke, Nachdruck der Akademie-Textausgabe von 1912/23. Band VIII: Abhandlungen nach 1781. Berlin: de Gruyter 1968. S. 312 f.

 

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VON DER SPRACHE

Humboldts Sprachdenken

 

In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts steht in Humboldts Denken die Ästhetik noch durchaus im Vordergrund, wobei für ihn Kants „Kritik der Urteilskraft“  darin einen wichtigen Platz eingenommen hat. Doch kommt er auch zu Formulierungen, die die Nähe zu Goethes ästhetischem und poetologischem Denken zeigen. So heißt es in den „Ästhetischen Versuchen“ von 1799: „Das Wirkliche in ein Bild zu verwandeln, ist die allgemeinste Aufgabe aller Kunst...“ (Wilhelm von Humboldt, Studienausgabe in drei Bänden. Hrsg. v. K.Müller-Vollmer. Band 1[= St 1 ]. Frankfurt/M.: Fischer 1970. S.46). Diese Vorstellung von der Kunst ist seit dem Idealismus gängig geworden. Sie bedeutet sowohl eine Hervorhebung der sogenannten „bildenden Künste“, also von Malerei und Bildhauerei gegenüber Dichtkunst und Musik, als auch  eine Metaphorisierung von „Bild“ im Sinne einer Bildlichkeit der Poesie, ja der Musik, wie sie z.T. freilich bis in die Ästhetik der Antike zurückgeht. Diese Vorstellung von der exponierten Position des „Bildes“ für die Kunst hat damit zu tun, daß die Sprache vor allem als ein Medium des Verstandes, also der Philosophie und der Wissenschaften betrachtet wurde, und nicht so sehr der Einbildungskraft als des Mediums der Kunst. Dementsprechend heißt es in dem schon zitierten Aufsatz, die Dichtkunst habe „einen andren Abweg zu fürchten, der nur ihr allein angehört. Da sie durch die Sprache, also durch ein Mittel wirkt, das ursprünglich nur für den Verstand gebildet, erst einer Umarbeitung bedarf, um auch bei der Phantasie Eingang zu finden; so schweift sie leicht in das Gebiet der Philosophie hinüber und interessiert unmittelbar den Geist und das Herz, statt bloß auf die Einbildungskraft einzuwirken.“ (St 1, S. 61). Was „Umarbeitung“ der Sprache bedeute, wird an dieser Stelle nicht gesagt, wohl aber als Gefahr die Neigung der Dichtkunst zur Reflexion bestimmt, die freilich, interessant genug, nicht nur auf den „Geist“, sondern auch auf das „Herz“ einwirke, was ja doch sowohl eine Fähigkeit der Poesie wie z.B. der Musik sein soll. Aber noch im selben Aufsatz konstatiert Humboldt so lakonisch, wie er zunächst „die allgemeinste Aufgabe aller Kunst“ als eine bildnerische sieht, nun, daß „Poesie“ „die Kunst durch Sprache“ sei und daß darin gerade „ihre ganze hohe und unbegreifliche Natur“ liege. Sie solle den Widerspruch zwischen der Kunst aus Einbildungskraft und der Sprache  als Begriffssprache „nicht etwa lösen...,sondern vereinigen, daß aus beidem ein Etwas werde, was mehr sey, als jedes einzelne für sich war“ (St 1,S.71). Humboldt nähert sich damit der Position, die vor ihm Hamann und Herder schon erreicht hatten, ohne daß die im späten 18.und im 19. Jahrhundert wirklich in die  Ästhetik im allgemeinen und in die Literaturtheorie aufgenommen worden wäre. Er sagt auch, „Sprache“ sei „das Organ des Menschen, die Kunst“ sei „am natürlichsten ein Spiegel der Welt um ihn her“ (St 1, S.72). Das aber kann nur bedeuten, Sprache sei nicht allein mehr das Medium der Verstandesreflexion, sondern sehr wohl auch das der Sensualität des Menschen, die freilich immer schon ein Moment von Reflexion an und in sich trägt. Jahrzehnte später, nämlich in dem Aufsatz „Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung“ , der 1830 erschien, redet er ausdrücklich von dieser Symbiose in der Sprache, wenn er beklagt, daß Schiller „auch nicht Einmal der Sprache erwähnt, in welcher sich doch gerade die zwiefache Natur des Menschen...ausprägt. Sie vereinigt im genauesten Verstande ein philosophisches und poetisches Wirken in sich...“(St 1, S.213) Damit blickt Humboldt nicht allein auf Schillers geistigen Entwicklungsgang zurück, sondern auch auf den eigenen, der ihn eben in Gegensatz zu jenem zu einem umfassenden Verständnis der Sprache geführt hatte, die „der Mensch ...lange, als ein todtes Werkzeug gebrauchen [kann], ohne von dem sie durchdringenden Leben ergriffen zu werden“(St 1, S.213).

Spätestens seit seiner Amtszeit in Rom um 1806 hatte Humboldt begriffen, wie das „Latium und Hellas“ genannte Fragment ausweist, daß neben den einzelnen Bereichen im „Leben einer Nation“ wie Wohnort, Klima, Religion, Sitten und Gebräuche  „der Odem, die Seele der Nation“ nicht von ihr zu trennen sei, vielmehr „in einem beständigen Kreise“ herumführe: eben die Sprache (Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Sprache [=Sp]. Hrsg. von M.Boehler. Stuttgart: Reclam 1973. S.6). Sie müsse „die doppelte Natur der Welt und des Menschen annehmen“, heißt es nun, nämlich die „äußeren Eindrücke und die noch dunkeln inneren Empfindungen zu deutlichen Begriffen“ erheben (Sp S.8). In der Sprache verbänden sich Objektivität und Subjektivität, sie gelten ihm nun als  Modi derselben Reflexion (Sp S.9). Und so kommt es zu der komplementären Einsicht: „So wenig das Wort ein Bild der Sache ist, die es bezeichnet, ebenso wenig ist es auch gleichsam eine bloße Andeutung, daß diese Sache mit dem Verstande gedacht, oder der Phantasie vorgestellt werden soll... Wer das Wort Wolke ausspricht, denkt sich weder die Definition, noch ein bestimmtes Bild dieser Naturerscheinung... das Wort, als ein Wesen einer durchaus eigenen Natur, das insofern mit einem Kunstwerk Ähnlichkeit hat, als es durch eine sinnliche, der Natur abgeborgte Form eine Idee möglich macht...“ (Sp S.9 f) Durch die Überwindung des alten Dilemmas von Sprache als Produkt des Verstandes und Poesie als Produkt der Phantasie, das einst durch die problematische Gestalt der Rhetorik bewältigt werden sollte, kommt Humboldt  zu einer Vorstellung von der doppelten Tendenz natürlicher Sprachen. Durch das Weiterdenken ästhetischer Positionen der Goethezeit und des Idealismus gelangt er zu den  Einsichten in die Sprachlichkeit von Mensch und Welt, die ihn zu einem modernen Denker machen, der vielen heutigen weit voraus ist.

Der Sprachgebrauch der Medien müßte Humboldts sprachdenkerische Ansätze zu begreifen suchen, indem er zumindest annähernd  erkennbar machte, daß sich vom Kauderwelsch mißlingender Protokollsätze bis zum Jargon der Feuilletonironie nur Unsprachlichkeit breit machen kann. Nicht das Beherrschen der Sprache wäre ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, sondern die Einsicht in ihre Geschichte, ihre Struktur und ihre Reflexionsweise. Sie würde das öd  Repetitive des Faktischen und des Sensationellen zu unterbrechen beginnen.

Diese Einsicht führt Humboldt schon um 1810 zu Thesen („Einleitung in das gesamte Sprachstudium“), die alles positivistische Sprachdenken vorweg in Frage stellen. So wenn es heißt: „Denn die Sprache ist ein selbständiges, den Menschen ebensowohl leitendes, als durch ihn erzeugtes Wesen; und der Irrtum ist längst verschwunden, daß sie ein Inbegriff von Zeichen von, außer ihr, für sich bestehenden Dingen, oder auch nur Begriffen sei.“ (Sp S.13) Und in genauer Ergänzung dazu heißt es wenig später, „daß der Mensch von der Sprache immer in ihrem Kreise gefangen gehalten“ werde, der„keinen freien Standpunkt außer ihr gewinnen“ könne.“(Sp S.15) Damit ist jeder Versuch, die Sprachentstehung historisch zu fixieren, unmöglich gemacht, insofern die vollständige Objektivierung der Sprache unmöglich ist. Was immer ich vom Entstehen der Sprache behaupte, ist bereits relativ zur Sprache. Es gibt kein Prinzipielles hinsichtlich der Sprache, die Sprache ist vielmehr das Prinzipielle, aus dem ich nicht hinaustreten, mich nicht hinausdenken kann. „...die Vollendung ihres Baus schreibt den Sprachen das unabänderliche Gesetz vor“, sagt Humboldt in dem Vortrag „Über den Dualis“ von 1827, „daß alles, was in denselben hinübergezogen wird, seine ursprüngliche Form ablegend, die der Sprache annehme. Nur so gelingt die Verwandlung der Welt in Sprache...“(Sp S.27) Das aber ist für Humboldt offenbar das Ziel der menschlichen Geschichte. 

In der Einleitung zum sogenannten „Kawi-Werk“, das erst nach Humboldts Tod 1830 – 35 in drei Bänden erscheint, hat er nach Michael Böhler seine „sprachphilosophische ‚summa’“ gegeben (Sp S.213). In dem Kapitel über „die Form der Sprachen“ kommt es zu der gern zitierten Unterscheidung , die Sprache sei „kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)“ (Sp S.36), was ja nicht nur den Akzent der Sprachbetrachtung von der Seite des Produkts auf den des Produzierens legt, vielmehr dieses Produzieren ausdrücklich als „Tätigkeit“ postuliert, also den Gegensatz von „Wort“ und „Tat“, an dem noch Goethes Faust laborierte, aufhebt. Eine zweite zentrale Akzentuierung ist die auf die Sprache als „verbundene(n) Rede“. Sie sei „als das Wahre und Erste“ zu denken, während das „Zerschlagen in Wörter und Regeln ...nur ein totes Machwerk“ sei (Sp S.37). Sprache muß also nach Humboldt im Sprechen gesehen werden, Sprechen erscheint als Satz und Text. In diesem Sprechen koordinieren sich Individuelles und Allgemeines der Sprache: „Denn so wundervoll ist in der Sprache die Individualisierung  innerhalb der allgemeinen Übereinstimmung, daß man ebenso richtig sagen kann, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Sprache, als daß jeder Mensch eine besondere besitzt.“(Sp S.43) Dem rationalistischen Gedanken von einem Sprachcorpus, an dem der Sprecher nur partizipiere, wird ebenso widersprochen wie jedem dadaistischen Individualismus. Jeder Sprechakt erweitert die Sprache, aber alle gehören zur Gemeinschaft der Sprechenden. Dieses Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem in der Sprache wird Humboldt nicht müde, unter verschiedenen Perspektiven zu betonen. Der heute gängige Aspekt des Kommunikativen der Sprache, der ihr Zentrales sei, wird durch sein Gegenteil nachdrücklich modifiziert: „Ohne daher irgend auf die Mitteilung zwischen Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen eine notwendige Bedingung des Denkens des einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit.“(Sp S.48) Aber ebenso gilt, daß über die Sprache weder kollektiv noch individuell verfügt werden kann, weil sie kein „daliegender, in seinem Ganzen übersehbarer oder nach und nach mitteilbarer Stoff“ ist, „sondern“ „als ein sich ewig erzeugender angesehen werden muß...“ (Sp S.50)

Humboldts Sprachdenken läßt sich nicht ein auf den Objektivitätswahn des 19. Jahrhunderts, er  begreift vielmehr, wie sehr das Denken sich sprechend vollzieht, auch und gerade, wenn es von der Sprache handelt. Darum hilft es nicht, die Sprache als einen Gegenstand zu behandeln. „Die Sprache ist gerade insofern objektiv einwirkend und selbständig, als sie subjektiv gewirkt und abhängig ist. Denn sie hat nirgends, auch in der Schrift nicht, eine bleibende Stätte, ihr gleichsam toter Teil muß immer im Denken aufs neue erzeugt werden, lebendig in Rede oder Verständnis, und folglich ganz in das Subjekt übergehen...“ (Sp S.57)  Der subjektive Akt des Verstehens ist  für jeden Sprechakt so bedeutsam wie die Einsicht, daß Verstehen, Interpretation nie vollständig ist, ja um so unvollständiger, je sprachbewußter der Sprechakt ist. „Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.“ (Sp S.59) Denn „die Menschen verstehen einander nicht dadurch, daß sie sich Zeichen der Dinge wirklich hingeben, auch nicht dadurch, daß sie sich gegenseitig bestimmen, genau und vollständig denselben Begriff hervorzubringen, sondern dadurch, daß sie gegenseitig ineinander dasselbe Glied der Kette ihrer sinnlichen Vorstellungen und inneren Begriffserzeugungen berühren, dieselbe Taste ihres geistigen Instruments anschlagen, worauf alsdann in jedem entsprechende, nicht aber dieselben Begriffe hervorspringen.“ (Sp S.139) Daß hier in einem der Grund allen Mißverständnisses wie der aller denkerischen, ja handelnden Produktivität sichtbar gemacht wird, ist evident.

Der Journalist begreift nicht, daß er der hier dargestellten Dialektik der Sprache selbst nicht ausweichen kann, sondern sich ihr stellen muß. Stellt er sich als Nachrichtenjournalist auf die Seite des ‚objektiven Ereignisses’, so vergißt er, daß er dies als Sprechender tut, was er glaubt, durch feste ‚Tatsachenformeln’ vergessen machen zu können, die sich stets als Phrasen herausstellen. Glaubt er als Meinungsjournalist seine Subjektivität ungehemmt betätigen zu können, vergißt er sich als Sprechenden abermals, nur von der anderen Seite. Er sieht nicht, daß er nur allzu leicht, weil unbedacht sich dadurch einer (scheinhaften) Sprachobjektivität ausliefert, die wiederum nur eine Sammlung von kommunen Sprachpetrefakten ist. Beide verfügen über Sprache, aber denken  nicht in ihr.

Die ständige Phraseologie des Journalismus hat sich längst auch auf die Alttagssprache, die Sprache des „Volkes“ ausgewirkt, die ein Gekauder aus unverstandenen Brocken der Mediensprache und reduzierten, zu Formeln erstarrten Resten der eigenen Alltagssprache geworden  ist. Humboldt forderte noch: „...immer aber muß, wenn die Sprache zugleich volkstümlich und gebildet bleiben soll, die Regelmäßigkeit ihrer Strömung von dem Volke zu den Schriftstellern und Grammatikern und von diesen zurück zu dem Volke ununterbrochen fortrollen.“ (Sp S.136) Die Schriftsteller sind aber oft nichts anderes mehr als Journalisten ‚mit besserer Schreibe’, die „Grammatiker“, lies Linguisten, registrieren nur: „ununterbrochen“ ‚rollt’ nun die „Strömung“ der Sprache zwischen den Medien und deren Rezipienten als Geschwätz ‚fort’. 

Doch Verständigung und Verständnis sind für Humboldt nicht die höchste Position innerhalb seines Sprachdenkens. „...die Sprache [ist] nicht bloß ein Austauschmittel zu gegenseitigem Verständnis, sondern eine wahre Welt..., welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Arbeit seiner Kraft setzen muß...“ (Sp S.146) Die Sprache wird statt als kommunikatives Medium als  „wahre Welt“ begriffen, in der sich Gegenstände überhaupt erst aufbauen  und gleichzeitig immer intensiver begriffen werden können.

Diese ‚wahre Welt’ zeigt sich gerade in den Modifikationen der einzelnen natürlichen Sprachen. Doch findet er in ihnen Gemeinsamkeiten, die er als  E n t w i c k l u n g s b a h n e  n  der I n t e l l e c t u a l i t ä t  selbst” (Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues...[=V] Berlin: Dümmler 1836 [Nachdruck]. S.241) bezeichnet. Er faßt sie unter den Begriffen „Poesie und Prosa“ und knüpft dadurch an alte Begriffe an. Doch gibt es für ihn kein hierarchisches Verhältnis beider mehr, sondern nur verschiedene Funktionen der einen und der anderen. In der „Poesie“ werde „die Wirklichkeit in ihrer s i n n l i c h e n  E r s c h e i n u n g, wie sie äußerlich und innerlich empfunden wird“, erfaßt. Die „sinnliche Erscheinung“ werde „sodann vor der E i n b i l d u n g s k r a f t“ „verknüpft“ und führe durch sie „zur Anschauung eines künstlerisch  i d e a l i s c h e n  G a n z e n.“ Die Prosa hingegen suche „in der Wirklichkeit gerade die Wurzeln, durch welche sie am Dasein haftet, und die Fäden ihrer Verbindungen mit demselben. Sie verknüpft alsdann auf intellectuellem Wege Thatsache mit Thatsache und Begriffe mit Begriffen, und strebt nach einem o b j e c t i v e n    Z u s a m m e n h a n g  in einer I d e e“ (V S.241 f). Hier ist wichtig, daß eine Beziehung zwischen „Thatsache“ und „Begriff“ hergestellt wird, insofern beider Verknüpfung „auf intellectuellem Wege“ geschehen muß. Denn die „P r o s a  kann ... auch bei bloßer Darstellung  des W i r k l i c h e n und bei ganz ä u ß e r l i c h e n   Z w e c k e n stehen bleiben, gewissermaßen nur Mittheilung von Sachen, nicht Anregung von Ideen oder Empfindungen sein“ (V S.243). Doch „wo sie den höheren Weg verfolgt,...verlangt [sie] das Umfassen ihres Gegenstandes mit allen vereinten Kräften des Gemüths, woraus zugleich eine Behandlung entsteht, welche denselben als nach allen Seiten Strahlen aussendend zeigt, auf die er Wirkung ausüben kann. Der sondernde Verstand ist nicht allein thätig, die übrigen Kräfte wirken mit, und bilden die Auffassung, die man mit höherem Ausdruck die geistvolle nennt.“ (V S.243). Humboldt entwirft ein Konzept moderner Prosa, das weit über das bisherige Prosaverständnis hinausgeht und ausdrücklich auch auf die Wissenschaft bezogen wird. „Die Resultate factisch wissenschaftlicher Untersuchungen sind vorzugsweise nicht allein einer ausgearbeiteten und sich aus tiefer und allgemeiner Ansicht des Ganzen der Natur von selbst hervorbildenden großartigen Prosa fähig, sondern eine solche befördert die wissenschaftliche Untersuchung selbst, indem sie den Geist entzündet, der allein in ihr zu großen Entdeckungen führen kann.“ (V S.251 f). Und er nennt als Beispiel die Arbeiten seines Bruders Alexander.

Damit ist ganz konkret Abschied genommen von einer medial verstandenen Prosasprache, die nur  dazu da ist,  angeblich sprachunabhängige wissenschaftliche Ergebnisse zu registrieren, die Wissenschaftsprosa kann und muß vielmehr eine produktive Position erreichen, ohne die es zu „großen Entdeckungen“ gar nicht kommen kann.

Dieses Prosakonzept verlockt natürlich dazu, auch auf  das populäre Derivat von Wissenschaftssprache, also die Mediensprache übertragen zu werden. Doch muß gesehen werden, daß die Mediensprache ursprünglich lediglich nicht faktische und geistige Entwicklungen selbst, sondern nur deren Ergebnisse, sogenannte Ereignisse protokollieren will, andererseits als Meinungsmedium subjektive Variationen zu ‚interessanten’ Themen entwirft. Die Aporien dieses ‚Objektiven’ und ‚Subjektiven’ machen freilich darauf aufmerksam, daß auch die Mediensprache in der Epoche sich emanzipierender Sprache und insbesondere ihrer Prosaizität nicht umhin kommen wird, sich gerade mit Humboldts Prosaauffassung, die ihre Grundlage in seinem Sprachdenken hat, auseinanderzusetzen.

Denn wo „die Sprache im intellectuellen Sinken eines gebildeten Volkes von dem Geiste verlassen wird, dem sie allein ihre Kraft und ihr blühendes Leben verdanken kann, entsteht nie eine großartige Prosa, oder [sie] zerfällt...“
(V S.252) 

 

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Linguistische Einsichten

 

Nach einer Zeitungsmeldung (Westfälische Nachrichten vom 11. März 2004), die wie jede mit Vorsicht aufzunehmen ist, hat der Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Prof. Ludwig Eichinger, erklärt, „die Sprache lasse immer mehr Variationen  (richtiger wohl: Varianten) zu, die vom bisherigen Standard abwichen“; „die Bandbreite dessen, was in der Öffentlichkeit akzeptiert“ werde, wachse, ein Grund dafür sei „der Einfluß des Fernsehens“. Als „Beispiel für sprachliche Abweichungen“ (also Varianten) „nannte Eichinger den Satz: ‚Ich ess’ jetzt noch einen Kuchen, weil ich habe Hunger.’“ Schriftsprachlich werde ein derartiger Verstoß gegen die Grammatik zwar „noch nicht akzeptiert“, „in mündlicher Rede aber seien solche Konstruktionen immer weiter auf dem Vormarsch(!).“ „Für die meisten Sprachwissenschaftler sei die Aufweichung bisheriger Regeln kein grundsätzliches Problem.“ Sie bejammerten „’nicht den Untergang des Abendlandes, sondern wir nähern uns der europäischen Wirklichkeit.’“

Also der Reihe nach. Die Sprache lasse zu. Solche Rede cachiert natürlich nur, daß die  Neigung der Sprecher zunimmt, sich auch sprachlich lässig zu verhalten. Die Sprache läßt gar nichts zu, es sei denn, sie gewinnt eine Möglichkeit, das bisher gar nicht oder unzulänglich zu Formulierende nach ihrem Geist und Buchstaben sinnvoll und klar auszudrücken. 

Prof. Eichinger begründet alsbald auch das, was er zunächst „der Sprache“ zuschreibt, mit der Akzeptanz in der „Öffentlichkeit“ und mit dem „Einfluß des Fernsehens“, also mit zwei Größen, die doch wohl eher, wie das auch für andere Felder geschieht, die freilich alle von der Sprache und ihrem Zustand abhängen, jeweils kritisch bedacht denn als von vornherein kompetent betrachtet werden müssen. Prof. Eichinger, der im Gegensatz zu „Öffentlichkeit“ und „Fernsehen“, den Zustand der Sprache nicht nur registrieren und nachvollziehen, ja vielleicht gar deformieren, sondern ihn sozusagen von Amts wegen  bedenken sollte, führt dann gleich  ein Beispiel für eine „Variation“ an, die „die Sprache“ zwar im Gegensatz zu seiner Behauptung durchaus nicht zuläßt, die wir aber täglich mehrmals ertragen müssen, nämlich einen Konjuktionalsatz mit „weil“, der wie ein Hauptsatz gebaut ist. Er deutet die mündliche Lässigkeit des fiktiven Sprechers schon dadurch an, daß der „ich ess’“ sagt, also den Endvokal ausfallen läßt, und dessen Bewußtseinsstand dadurch , daß der sich als Wohlstandsfresser verrät, der zur Hungerbewältigung gleich einen ganzen Kuchen braucht, oder aber als jemanden, der das Ganze für einen Teil setzt, also sprachlich sich selbst als Vielfraß reflektiert. Doch wichtiger ist natürlich, daß die fehlende Inversion des Nebensatzes das Ganze formal zu einem Unsatz macht und sich dadurch eine semantische Veränderung ergibt, die sich aus der Gleichzeitigkeit des Nebeneinanders zweier Hauptsätze und der Abhängigkeit (weil) der Nebensatz-Konjunktion  vom Hauptsatz herschreibt.

Mit derlei Subtilitäten hält sich der Direktor des Instituts für Deutsche 
Sprache freilich nicht
auf,denn er ist sich einig mit den „meisten Sprachwissenschaftlern“, für die die„Aufweichung bisheriger Regeln“, also die Beliebigkeit sprachlicher Formen, „kein grundsätzliches Problem ist“. Sie kontrollieren derlei immer am „Untergang des Abendlandes“, mit welcher Floskel sie schon von vornherein die Irrelevanz aller Kritik an der gegenwärtigen Rede kennzeichnen wollen. Doch nichts würde einen registrierenden Linguisten weniger interessieren als jener. Überdies käme  man ja gerade im Untergang mit jederlei Gekauder aus. Die „europäische Wirklichkeit“ aber, der wir uns nach der Behauptung Prof. Eichingers annähern, ist immer noch so, daß englische, französische, italienische, spanische Rede sich im allgemeinen von der deutschen auf erfreulichste Weise abhebt, schon weil man dort ein Gefühl dafür hat, daß  sich jeder in seiner Rede repräsentiert und nicht bloß zum Behufe des Totschlagens der Zeit äußert wie in der besprochenen Erklärung „am Rande einer Jahrestagung seines Instituts“.

Aber interessant bleibt es doch, daß diejenigen, die mit der (deutschen) Sprache berufsmäßig umgehen, für deren Qualität nicht mehr das geringste Interesse haben, und zwar so wenig wie ein Historiker es hätte, der dem Lauf der Geschichte achselzuckend, wie ein Philosoph, der dem, was öffentlich gedacht wird, gleichgültig gegenüberstünde, weil sie  einzig von der Bemühung geprägt wären, ihr wissenschaftliches Ethos in der Haltung zu zeigen, jede Barbarei und jede Idiotie nur noch als „Variation“ zu registrieren. 

 

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VON DER EPOCHE

 

Kurze Anfrage bei der Theologischen Fakultät und bei der Evolutionslehre

 

Einig sind wir uns ja wohl über den Befund: Daß das zappelnde Geschlecht nur immer neue Bestätigungen für seine Unfähigkeit vorlegt, auch nur einigermaßen friedliche, humane, wohlständige Verhältnisse herzustellen. All das Gewese der Politik zeigt einzig, daß man allerhöchstens vermag, wenigstens für ein paar Jahre im Raum X zu jenen zu kommen, aber immer um den Preis, daß es im Raum Y um so elender wird. Und der technische Fortschritt trägt zum besseren Leben sich selbst nur als Illusion bei. Die Weltwirtschaft aber ist nichts anderes als ein nicht endendes Gejapse, das schon wegen seiner Hektik nicht einmal die Dinge, die sie produziert und vertreibt, als funktionstüchtige weitergibt, abgesehen davon, daß es sich durchweg um elektrische Eierkocher und verwandtes handelt, mit der noch die letzte Hütte zum Palast gemacht werden soll.

So ist  - und zwar korrekt nach buddhistischer wie christlicher wie auch islamischer Lehre - die einzige historische Konstante, auf die man sich verlassen kann, das Leiden der großen Mehrzahl der Menschen, der pursuit of happiness aber nichts als eine halbfromme Lüge der sogenannten Demokratie.

Warum aber dies? Was fangen wir an mit der jüdisch-christlichen These von der Vertreibung aus dem ursprünglichen Paradiese, die auf den Ungehorsam einer sogenannten Eva und ihres Mannes zurückgeführt werden soll, nämlich ausgerechnet vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen? Warum sollten sie gerade von diesem nicht essen ? Und warum für die Übertretung die horrende Strafe, das ganze menschliche Geschlecht ins Elend zu stürzen?

Aber auch die Rede der Evolutionstheorie gibt uns keine befriedigende Auskunft: Das survival of the fittest ist in Wahrheit nur die ewige Krankheit zum Tode, vor der doch weder Reichtum noch Wissenschaft noch irgendwelche anderen Überlebenstricks zu schützen vermögen, und zwar um so weniger, je mehr es sich um ein höheres Bewußtsein handelt, das doch als Ausweis sich vollendender Evolution gelten soll.

Doch orgelt trotzdem die Melodie von der allmählichen Verfertigung des Menschenglücks durch Politik und Wirtschaft weiter durch die Medien, die sich freilich mehr an den Sensationen schadlos halten, an deren Inszenierung sie hintergründlich mitwirken, während sie im Vordergrund mit der Leuchtschrift der Aufklärung ihr Publikum täuschen.

 

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VON DEUTSCHLAND

 

Vom Bombenkrieg zum Wiederaufbau

Bei Gelegenheit  von Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“

 

Die deutsche Historiographie hat sich nicht getraut, ein zentrales Geschehen der deutschen Geschichte im Zusammenhang zu bearbeiten: den Bombenkrieg. Sie hat gewartet, bis ein Außenseiter kam und das für sie tat, die doch an Betriebsamkeit ansonsten nicht zu überbieten ist. Der Außenseiter heißt Jörg Friedrich, ein sogenannter Privatgelehrter im Gegensatz zu den ordentlichen öffentlichen Professoren. Er hat vor eineinhalb Jahren das Buch „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 – 1945“( München: Propyläen 2002) vorgelegt, das alsbald ein großer Erfolg wurde, aber dem Verfasser auch viel Ärger eingebracht hat. Denn die Klugheit seiner öffentlichen Zunftgenossen wußte natürlich,  daß der ganze Schwarm derer, die für die Deutschen allein die Täterrolle vorbehalten haben, sich auf jeden stürzen würde, der sie als Opfer zeigen werde. Diese beharrliche Wut, mit der bei jeder sich bietenden Gelegenheit der Schwarm schreit: Wir sind nichts als Täter, d.h. nicht wir von der Antifa, sondern die Deutschen, läßt doch fragen, was hinter dieser Radikalität steckt. Und man erinnert sich an Musil, der von der Demut sagte, sie sei der Ehrgeiz, der erste sein zu wollen von hinten. Denn wer nicht an der tête und mit den Siegern marschieren kann, muß natürlich sehen, welche extraordinairen Positionen ihm sonst bleiben.

Es ist gesagt worden, in Friedrichs Buch gebe es Fehler. Das ist wahr, aber nicht ungewöhnlich, und zwar schon gar nicht in einem Zeitalter, in dem es kein Handbuch mehr gibt, das nicht zahlreiche Fehler aufweist. Auch seien von ihm keine neuen Erkenntnisse vorgetragen worden. Auch das ist zu einem Teil jedenfalls richtig, aber konnte gar nicht anders erwartet werden, da zunächst einmal die an verstreutesten  Stellen der Heimatforschung versammelten Fakten zusammengestellt werden mußten. Aber Friedrich hat sich damit nicht begnügt, sondern er fragt in seinem Buch immer wieder  danach, was dieser Bombenkrieg militärisch „geleistet“ und was er im Kontext der Kriegsgeschichte im allgemeinen und der Geschichte des zweiten Weltkriegs bedeutet hat. Friedrich  hat weder die deutschen Luftangriffe auf Polen, die Niederlande und England noch den Holocaust ausgespart, aber er hat sich mit Recht auf sein Thema konzentriert, das ein außerordentliches und in zweierlei Hinsicht ein Beitrag zu dem unendlichen Thema der vollkommenen Barbarisierung der Kriegsführung ist: einmal als beabsichtigte Tötung von Zivilisten, zum anderen als ebenfalls beabsichtigte Zerstörung von europäischer Kultur . 

Kein Holocaust, der auch bei den Alliierten in diesem Zusammenhang gar nicht in Rede stand, kein Wüten von SS und Wehrmacht in den eroberten Ländern, keine menschenverachtende Belagerung von Leningrad, keine Geiselnahme, nichts an deutsch-nazistischer Brutalität kann die Barbarei des Bombenkrieges gegen Deutsche und auch gegen Franzosen, Italiener und andere Völker begründen und rechtfertigen. Es ist endlich an der Zeit, wahrzunehmen, daß, so entsetzlich die Morde und Verwüstungen durch das Nazi-Regime waren, damit nicht die Möglichkeit eröffnet wurde, in analoger Weise Krieg zu führen und zur Legitimation dessen vom „moral bombing“ zu sprechen. Es ist eine moralische Verrücktheit, die Unvergleichlichkeit des Holocaust dadurch sichern zu wollen, daß man die Bombardierung deutscher Städte und ihrer Einwohner als ‚Bestrafung der Täter’ behauptet. Denn das Gutheißen Hitlers und seines Krieges schafft nicht die Erlaubnis, die Gutheißenden zu vernichten und mit ihnen die architektonischen und künstlerischen Zeugnisse einer europäischen Kultur, für deren Rettung man doch in den Krieg gezogen war. 

Aber das ist nur die erste Schicht von Friedrichs Buch. Denn die Darstellung, ja die Beschwörung der Tötungs- und Zerstörungsszenen läßt sofort fragen, wie wir Deutschen selbst mit dem Geschehen umgegangen sind. Die Antwort ist so verblüffend wie schrecklich: wir haben die Zerstörung unseres Landes weitgehend verdrängt, nachdem wir aus Kellern und Ruinen hervorgekrochen waren. Und diese Verdrängung wurde aktiviert als Energie des Wiederaufbaus.

Ich selber finde in meinen Aufzeichnungen als Vierzehn- bis Achtzehnjähriger nur sehr wenig über das Leben in Trümmern nach dem Krieg, gar nichts über die Toten des Bombenkriegs, obwohl ein naher Verwandter in Mannheim bei dem Versuch, in einen Bunker zu gelangen, erdrückt worden war. Auch erinnere ich mich, und zwar zum ersten Mal in diesem Zusammenhang, an das Dictum einer jungen Frau, die eine Touristengruppe vor Jahren durch Stralsund führte. Als ich sie fragte, wie sie denn den Alltag in einer so zerstörten Stadt erlebt habe, sagte sie: „Ich dachte, Städte sind so.“ Das ist eine wahrhaft denkwürdige Äußerung, in der das Geschlecht, das übrig geblieben war, mitteilt, die Ruine sei das Kennzeichen der Stadt. Und wegen dieser ‚Normalität’ der Zerstörung konnte man ohne jedes Unbehagen, ja ohne Gewissensbisse die Vielzahl der Städte, die ihren Kern verloren hatten, in der Weise wieder aufbauen, wie es geschehen ist: Rekonstruktion von diesem und jenem als museales Ausstellungsstück: vom einzelnen Gebäude bis hin zur topographisch exakten Wiederherstellung des Innenstadtraums, daneben und gleichzeitig die ‚moderne’ Stadt, wie sie die Bauhauserben und die Biederleute in den kommunalen Hochbauämtern verstanden. So haben wir prächtig rekonstruierte und manchmal auch restaurierte Kirchen, Schlösser, Rathäuser, Brücken usw. und jene Ansammlung von Schlichtem und Praktischem mit „Kunst am Bau“, wie das in den fünfziger und sechziger Jahren hieß, kaum etwas davon mehr als bemühte architektonische Mittelmäßigkeit, für die ein Name wie „Eiermann“ nicht von ungefähr das Paradigma abgegeben hat. Erst vor 15 bis 20 Jahren wurden diese Elemente der neuen deutschen Städte dadurch verbunden, daß man sie gleichermaßen verschmierte und das dann „Graffiti“ nannte, um so hervorzuheben, dies sei das Originellste an der wiederhergestellten, an der neugebauten Architektur.

Nicht nur in der städtischen Realität, auch im Bewußtsein der Deutschen ist ihre ungeheuer große Architektur vom späten Mittelalter bis zum Klassizismus und einigem zwischen 1910 und 1935 Entstandenem verschwunden. Das Wiederhergestellte sehen sie als hübsche Arabeske ihrer unsagbar langweilig gewordenen Städte.  Sie interessiert aber  im wesentlichen nur die bequeme Platte oder das als schick empfundene Reihenhaus, in deren Käfigen sie sich wohl fühlen und die Gedanken produzieren, die sie in Stadien, Schwimmbädern, Wirtshäusern und Schützenfesten zum Ausdruck bringen.

Doch entschieden wichtiger als diese Behausungen sind ihnen ihre Autos und die dazugehörigen Straßen. Jene sind interessanterweise nicht verschmiert, eben weil sie ihnen viel  beträchtlicher sind   als die Architektur. Kein Mitteleuropäer, allenfalls bestimmte Gruppen der Nordamerikaner sind nomadenhafter als der heutige Deutsche, der als Fahrender lebt; sitzt er aber einmal, tut er dies nur für die Zeit des Grillens oder der Fußballübertragung , um dann rasch wieder auf die Autobahn zu kommen, am liebsten auf dem Motorrad, für das die Vokabel  „Freiheit“ vor allem  eingeplant ist. Es ist ein Volk in ständiger Bewegung, das dadurch die Verbindung schafft zu jenem politisch-ideologischen Verein, der von seinem Führer stets „die Bewegung“ genannt wurde.

Die Deutschen leiden nicht unter dem Verlust Dresdens, Würzburgs, Nürnbergs, Potsdams, sie finden das Chaotische Berlins „toll“ oder „cool“ oder „geil“ und nutzen das, was die Stadtwerbungen als jeweilige „Altstadt“ anpreisen, dazu, möglichst rasch in irgendeinen Keller einzutauchen, wo sie viel essen und trinken. 

Die Achtundsechziger, von denen doch die Sage geht, sie hätten trotz mancher Fehler Deutschland in der richtigen Weise verändert, konnten und können mit Architektur gar nichts anfangen. Sie zieht es in vergammelte Mietshäuser, zu deren Weitergammeln sie beitragen, sie sind allem aufgeschlossen, was heruntergekommen ist, nicht als eine neue fin de siècle-Generation mit der Lust am soignierten Verfall, sondern als Genießer eines Ambiente, auf das man keine Rücksicht zu nehmen braucht und das in den  noch nicht zivilisierten Hinterhof als Ort des Suhlens zurückweist. Das Antibürgerliche reduziert sich aufs frisierte Elendsquartier, in dem man nicht mehr darum vom Boden essen kann, weil der so sauber, sondern weil dies das Bequemste ist.

Wie wird dieses Geschlecht aber mit der Repräsentationsarchitektur fertig? Am liebsten mietet es sich bei Stehengebliebenem ein, in das es glatte Interieurs einbaut. Muß es architektonisch selbst heran, kommen üppige Hotels heraus, in deren Gold- und  Marmorkitsch  die Gäste so wirken, als seien sie für einen Tag aus sozialen Gründen zugelassen, obgleich ihr Freizeitlook von ersten Designeradressen entworfen  worden ist.

Oder die gläsernen Hochhaustürme  werden nebeneinandergestellt, die zum
-zigsten Male das wiederholen, was New York vorgemacht hat. Wo kann man besser erkennen, daß diese Revolution keinerlei eigene Ideen hatte außer der einen, auf bequemste Weise an die Schreibtische zu gelangen, die immer aufgeräumt waren.

Friedrich spricht von alledem natürlich nicht. Aber er sorgt dafür, daß die von den Alliierten hergestellten und von den Deutschen nichtbedachten Trümmer sich als ein Teil des deutschen Landes bemerkbar machen, das noch als untergegangenes „von dem großen Abendland“ zeugt.  

 

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Zur Genese unserer Lage

 

Der Augenblick der verkündeten Reformen ist der Augenblick des sich unübersehbar herausstellenden Mißlingens. Nichts im ganzen Lande, das noch als erfolgreich behauptet werden kann: nicht in der Politik, der Produktion, dem Handel, dem Verkehr, nicht in der Kultur, den Schulen, der Wissenschaft, nicht im Bund, in den Ländern, in den Städten und Gemeinden. Die Umkehrung des Wirtschaftswunders ist nur durch den immensen privaten Reichtum noch nicht alltäglich fühlbar, obwohl auch im Alltag das Versagen von Institutionen und Unternehmen nun ständig wahrgenommen werden kann.

Die Devise vom Wirtschaftswunder, welche die fünfziger und sechziger Jahre so beherrschte, daß ein Verwandter von mir kopfschüttelnd ein Buch mit kritischen Bemerkungen zu jenen Jahren aus der Hand legte, weil er nicht sah, was an jenen zu kritisieren gewesen wäre, diese Devise verschwand seit den siebziger Jahren. Zwar waren die Regenten und die Bosse noch von Optimismus geschwellt und alles schien noch wie am Schnürchen zu laufen, aber die jungen Barbaren, die seit Ende der Sechziger sich laut und drohend gebärdeten, waren doch wirksamer, als es die Chefs sich und den Bürgern zugeben wollten. 

Ihr Erfolgsrezept war, von einer politischen Erneuerung zu reden, aber von Anfang an nichts als den langen Marsch durch die Institutionen im Auge zu haben, der identisch war nicht mit der politischen Veränderung, sondern mit der Organisation ihrer Karrieren. Ihre Gewalttätigkeit  wie ihre Parolen galten vor allem der Abkürzung des Marsches zu ihren persönlichen Gunsten. Und wenn etwas symbolisch in diesen Zeiten ist, dann dies, daß zwei Repräsentanten des Marschs  bis an die Spitze der Republik gedrungen sind, auf die kurioseste Weise nach anfänglichem bänglichen Zögern unterstützt von jenen Anekdotenerzählern, die seit den Siebzigern als Politiker aufgetreten waren, und nun der Jugend, der Jugend ihren Lauf ließen. Was die politisch, kulturell, wissenschaftlich zu bieten hatte, ist in seiner Ärmlichkeit (mit Ausnahme der Nazis) ohne Vergleich in der deutschen Geschichte. Sie kannten nichts, wußten nichts, hatten  als einziges eine Suada, rasch angeeignet aus den Leitbüchern und –artikeln der Zeit, und waren auf drastische Weise bis zur Gewaltanwendung unverschämt. Sie bestimmten immer nachdrücklicher die Standards für die nächsten dreißig Jahre, die sich reduzieren lassen auf die Bemühung, sich zunächst in den Besitz der Staatsknete und dann  des Staates selbst zu setzen. Seitdem sind sie in ihrer Soigniertheit äußerlich nicht mehr von der alten Regentenklasse zu unterscheiden, wohl aber darin, daß ihre Unkenntnis und lebensbestimmende Faulheit ihre Unfähigkeit zu dem, was sie taten, offenbarte. Die ließen sich in der öffentlichen Meinung  immerhin so lange cachieren, wie sie sich noch mit der sekundären Ebene der Lehrer, Richter, Journalisten, Kulturfunktionäre begnügten, wobei die Verwahrlosung dieser Bereiche jedem Aufmerksamen längst auffallen mußte. Erst als das Eindringen in die Wirtschaft und das Scheitern in ihr unter dem Namen der New Economy sich bemerkbar machten und die Behauptung geleisteter Reformen sich als offenkundiger Schwindel herausstellte, konnte man nicht mehr einfach weitermachen. Natürlich verschweigt man bis heute, daß dieses Land nicht allein wegen der globalen Probleme absinkt, sondern wegen der geradezu horriblen Unfähigkeit einer Elite, die es ja nach der Vorstellung der Achtundsechziger nicht mehr geben sollte und als Leistung auch seit jener Zeit nicht mehr gibt, aber nun von denen, die sie zerstört haben, angefordert wird, weil sie immerhin merken, daß sie selbst nicht mehr aus noch ein wissen. Denn in der Tat konnte die erfolgreiche Propagierung und Organisierung einer Gesellschaft, die als einzige Motivation nur noch fun kannte, kaum zu anderem führen als zum Abgrund, an dem sie in der Haltung von Hereingefallenen selbst nicht stehen wollen, aber die biederen anderen, die ihnen mit immer lauterer Fidelität gefolgt waren, sich nun ernüchtert wiederfinden.

Nun machen sie Reformen, die von der Reflexions- und Ziellosigkeit bestimmt sind, die ihr Wirken auf allen Feldern immer ausgezeichnet hat, ihre persönliche Lebensplanung freilich ausgenommen. Sie wußten stets nur, daß sie „hier“ hineinwollten, sonst wußten sie nie irgendetwas. Daß das meiste den Namen von Reformen nicht verdient, sieht man an denen, die sie schon vor Jahren in die Wege geleitet  haben:Bahn, Dosenpfand,Telekom, Maut, Arbeitsvermittlung, Gesundheitsbereich als Beispiele.

Sie hatten ein rhetorisches Vokabular entwickelt, das nichts sagte, aber den Eindruck machte, es sage etwas. Dann zeigte sich, was dahinter war, nämlich ebenfalls nichts. Weder planerisch noch technisch noch organisatorisch waren sie in der Lage, auch nur einigermaßen das zu realisieren, was erwartet wurde. Nur die Abwehrformeln, hinter denen sie sich versteckten, hatten sie zur Hand. Nun ist das Land einer Rotte von dummen Kerlen ausgeliefert. Dies, nicht die Bitterkeit der Reformen, wird, da es nun nicht mehr zu übersehen ist, die Qual der kommenden Jahre und Jahrzehnte ausmachen, hinter denen die Dumpfheit der erfolgreichen Macher zwischen 1950 und 1990 sich wie erleuchtetes Bewußtsein ausnehmen wird.

 

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VON DER UNIVERSITÄT

 

Universitätsjournal  – Wintersemester 71/72 (Auszüge)

                                              

                                               In Erinnerung an die jungen Barbaren, die heute 

                                                         das Land mit weiser Hand regieren, und an die 

                                                         Opportunisten, die jene möglich machten. 

 

Vorbereitung aufs Seminar von unterschiedlicher Intensität. Im Seminar Gefühl des Widerstandes. – Morgens Vorgespräch mit Frau H. und Herrn G. über das neue Forschungssem. Die Vorschläge erscheinen mir konfus. Bedrückender Eindruck, alles selbst tun zu müssen. Dazu gegen Ende heftige Widerstände beider gegen meine Kritik am Neopositivismus. Auf dem Heimweg: Daß so viele sich heute opportunistisch verhalten, auch psychologischer Schutz gegen Vereinsamung. Nachmittags wird die Fachbereichskonferenz gestört. Danach langwierige Rumpfsitzung ohne Studenten. - Überlegungen zu Büchern, die man schreiben könnte, wäre man frei . – Sitzung. Sprechstunde. Besprechung bis ½ 5. Erschöpft. E. ruft abends an, P.Sz. sei seit Tagen verschwunden. Allmähliche Ausbreitung eines Gefühls der Verlassenheit. – Am späten Vormittag noch ärgerliches Telefongespräch mit P. vom A.-Verlag wegen des Buchs [„Literatur im Zeitalter der Information“]. – Nachmittags den Vortrag für den nächsten Tag durchgegangen[„Sprache und Sprechen in Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften’“]. – Frau W. mit dem Register für das Buch. Den ganzen Vormittag. Dann noch einmal den Vortrag. Nach A.  Gespräch mit dem Vorsitzenden des Volkshochschulvereins: dem Finanzamtsdirektor. 30 Leute beim Vortrag. Hinterher mit zwei Schulmännern, die nur der tägliche Kram interessiert, in einer Sauerlandbaude. – Sprechstunde. Sitzung. Sitzung mit Studenten. Sitzung mit Kollegen. Unklarheiten über verschiedenes Vorgehen S’s werden nicht völlig ausgeräumt. Hinterher mit W. und G. über S’s Amtsführung. – Mit dem neuberufenen Sprachwissenschaftler St. Große Runde: Mittelbau, ein Student. – Lebhafte Aussprache mit S.: über die schlechte Information, Versuch zur Hierarchie etc. Gegen Ende in dem Anlaß ein Kompromißvorschlag von mir. – Im Zeitungsseminar einiger Aufschwung: verschiedene neue Gesichtspunkte. – Sprechstunde. Gespräch mit Dr. R., dem Vertreter von M., M.-S.-Schüler: ruhig, freundlich. Sitzung einer Besetzungskommission. Ein Assistent völlig illoyal: P. aus B. zugunsten eines anderen Mannes völlig abqualifiziert. Abends erzählt mir M. am Telefon, dieser (sein) Assistent habe P. noch ein paar Tage vorher als Kandidaten gelobt. Gestern war Besprechung des Mittelbaus... – Zeitungsmeldung, daß P.Sz. aus dem ...see geborgen sei. Wieder Einbruch. Versuch zu arbeiten. Im Seminar den Eindruck von tiefer Literaturfremdheit, ja von -feindschaft bei gerade intelligenten Teilnehmern. – Hochschullehrerbesprechung. Dann Konvent mit den Unverschämtheiten von Möchtegern-Tribunen. Ich komme ziemlich spät nach Hause: Herr R. ist schon eine Weile da. Er fühlt sich in M. wohl recht behaglich. – Klausuren. Nachmittags zähe und überflüssige Fachbereichskonferenz. Die pubertären Albernheiten der Studentenfunktionäre. – Den Vormittag lang Staatsexamen, keines besonders beeindruckend, eines miserabel. – Gespräch über H 3-Stellen nach dem unglückseligen Referat von Herrn G. Kaum eine Lösung. Gespräch mit Herrn W., der sich habilitieren möchte. Am frühen Nachmittag Sitzung der H 3-Kommission. Bescheidene Fortschritte. –„Rückblick“ von H.Meyer auf den Princetoner [Germanisten-] Kongreß. Replik darauf. Mit W. [Verlagsdirektor in Berlin] länger telefoniert. – Staatsexamen. Nachmittags Besprechung wegen der Störungen von Vorlesungen und Übungen im „Bereich“ S.. Ich schlage vor, bei deren Fortsetzung die Lehrveranstaltungen einzustellen ohne langatmige Erklärungen. – Mit Frau W. in der Universität über das Register zum Buch. – Musil. Auch Kraus 1. Jahrgang der „Fackel“. – Berichte über den Konvent. Die Hilflosigkeit der Hochschullehrer. Studenten zeigen, wie man als Minderheit die Macht ergreift.- Universität:Verwaltungsgeschäfte. Vorbereitung Zeitungsseminar. Seminar: Frage des Literaturkriteriums.- Mit Pr. telefoniert: er scheint nicht zu kommen. Herr Wi. bei mir. Lehrkörper-Versammlung des Instituts, aber nur der der Neueren Abteilung ist anwesend. Verstimmung über die Ältere Abteilung. – Verwaltung. Vorbereitende Sitzung Kommission H 3: Einigung von Hochschullehrern und Assistenten auf Kandidaten B. Anschließend Direktorensitzung: Kopiergerät, Schlüssel für das neue Gebäude etc. Explosion. Frau D. rennt aus dem Raum. – Offizielle Kommissionseinigung mit Studenten : B. wird akzeptiert. – Sitzung der Hochschullehrer: etliche krank. Soll Fachbereichskonferenz stattfinden? Gespräch mit S. im Beisein von W. Frau D., der ich inzwischen einen vermittelnden Satz geschrieben hatte, besteht darauf, daß der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung zurückgenommen werde. Sie werde sonst nicht an Sitzungen teilnehmen, an denen ich teilnehme. Der Vorwurf ist nicht aufhebbar. – Nachmittags Fachbereichskonferenz, die einigermaßen geordnet verläuft. Einige Worte zu den Genossen: ihr nehmt die ‚bürgerliche’ Argumentation in Anspruch, haltet euch aber selbst an keine Spielregel. Ihr Erstaunen. – Gespräch mit Herrn G. und Herrn Bi. über die illiterarische Haltung der heutigen Studenten. – Besprechung M., W.: neuer Studienordnungsentwurf. – Nachmittags Frau R., die ziemlich verzweifelt über ihre Situation ist. – Sprechstunde: längere Gespräche mit verschiedenen Studenten. – Hebbel-Aufsatz revidiert. – Weiter am Hebbel-Aufsatz. – Hebbel-Nestroy zu Ende. – Abends Fest des Lehrstuhls bei Frau W. – Herr B. stellt sich vor. Mittagessen mit ihm. - Buch über den Deutschunterricht von Sonnemann. – Konzept von Schreiben an Minister und Rektor wegen der Freisemesterfrage. – Krankenhausaufenthalt . – Woche mit Staatsprüfungen, Schlußsitzungen der Seminare, Sprechstunden, vorher Fachbereichskonferenz mit Schwierigkeiten wegen Frau R.- Briefe. Gespräch mit Herrn L., einem Studienrat vom Niederrhein, der mich aus Berlin kennt und bei mir promovieren will. – Besprechungen mit Herrn I., der nach Pr. den Ruf bekommen hat. – Vorbereitung d. Gesprächs über Frau R. in Düsseldorf. Nachmittags Fahrt nach Düsseldorf. Gespräch mit Min.-Dir. v. M., Leiter der Hochschulabteilung, zusammen mit W. und S. Einiger Erfolg.

 

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Aus einem Brief an einen Freund nach dem Tod von Peter Szondi

Dezember 1971

 

...laß mich etwas versuchen, was von Anfang an natürlich eine ganz unsichere Sache ist: brieflich nämlich ein Telefongespräch fortzusetzen...

Meine paar Bemerkungen zu Szondi waren dem Medium angemessen: eben ein paar Bemerkungen. Was mir auffällt, und zwar seit der Zeit, zu der der Tod Sz’s zur Nachricht wurde: ich werde von vielen Leuten , die ihn gar nicht kannten, nach den „Gründen“ gefragt; in seiner näheren Berufsumgebung dagegen spricht man, wie ich aus Berlin weiß, gar nicht darüber. Aber Neugier und Verdrängung darf man ja doch wohl als Zeichen von Beteiligtheit werten, ein Gefühl, daß einen dies etwas angeht. 

Mich selbst geht es auf dreifache Weise etwas an: einmal, weil ich ihn neben Emrich als den einzigen wirklich bedeutenden Literaturwissenschaftler dieser Jahre betrachtete; dann weil ich mit ihm bekannt war und er mir in der Habilitationsphase sehr geholfen hat; schließlich wegen der Diagnose „Depression“....Nun habe ich Szondi aber gar nicht als Depressiven kennengelernt, sondern allenfalls als  den, den man einen Kontaktscheuen und Verschlossenen nennt. Doch auch von diesem Gesichtspunkt aus könnte ich sagen, daß ich ihn eben darum nicht sehr genau gekannt habe, so daß ich z.B. nur durch andere wußte, daß er als Junge im KZ Bergen-Belsen war. 

Aber das alles ist die Oberfläche der Oberfläche. Die Frage erneuert sich immer wieder: Warum fährt P.Sz. nachts mit seinem Auto in die Trabener Str., schließt es ab und geht dann zum Halensee und springt hinein ? Und die Frage ist natürlich gar nicht so sehr eine Frage, die man glaubt irgendwann beantworten zu können, aber sie ist auch keine rhetorische, sondern ein Kristallisationskern, an den andere Fragen anschießen.

Ich frage mich z.B., warum ich seit drei Jahren nicht mehr mit P.Sz. gesprochen habe ? Ich frage mich das nicht, weil ich etwa an der Selbstüberschätzung leide, häufigere Gespräche hätten eine Depression verhindert oder gemildert. Aber ich weiß, daß er allein lebte; ich weiß, daß er vor Jahren mir dann und wann etwas Neues von sich vorlas (was für einen sog. introvertierten Literaten ja etwas bedeutet), ich weiß, daß er die Berliner Verhältnisse nicht bewältigte.

Unser letztes, sehr langes Gespräch war angefüllt mit „Berliner Fragen“: er hatte sich, nachdem er anfangs ungleich zögernder war als ich, sehr stark mit den Argumentationen der Studenten zu identifizieren begonnen, ich hielt ihm entgegen, daß ich befürchtete, aus den Behauptungen und Forderungen ginge nur mehr Barbarei hervor als schon da sei. Wir konnten uns darin nicht annähernd einigen, sprachen von anderem, gingen freundlich auseinander.

Aber ich suchte das Gespräch nun nicht mehr so, wie ich es vorher gesucht hatte. Vielleicht wich ich ihm sogar aus, obwohl  ich zwei-, dreimal bei späteren Besuchen in Berlin ihn anzurufen mich bemühte, ihn aber nicht antraf. Für mich wurde er einer derjenigen, der sich mit neuen Machtverhältnissen zu arrangieren suchte, der dann gar, als die Dinge immer schlimmer wurden, von Berlin wegstrebte, weglief. (Er hatte einen Ruf nach Zürich angenommen.) Andererseits kam mir nie der Gedanke, daß Sz. über das gewöhnliche Maß hinaus isoliert sei, daß es ihm vielleicht an Menschen fehlen könne, die mit ihm zu sprechen bereit seien....

 

(Aus einem Brief von Gershom Scholem vom 11.4.1974 an Hans Georg Gadamer:

„Ich war sehr lange in Zürich, dazwischen auch, besonders in Verbindung mit dem Tod von Peter Szondi in Berlin...Ich wollte einmal nach 50 Jahren einen Winter in Europa verbringen, der aber gerade in diesem Falle völlig abgesagt worden ist. Dafür haben wir einige andere Schwierigkeiten mit der Gesundheit und  der Erkrankung  von nahen Freunden in Zürich gehabt, von der Erschütterung  durch den Tod von Peter Szondi ganz zu schweigen, der sich in den letzten zehn Jahren  eng an uns angeschlossen hatte und mit dem ich noch im Sommer des letzten Jahres zusammen war. Als Hermeneutiker war er, wie Sie ja wohl am besten beurteilen können, von hohem Rang, von allem Menschlichen ganz abgesehen.“ (G.Sch., Briefe III. 1971 – 1982. Hrsg. v. Itta Shedletzky. München: Beck 1999. S. 16 f.) 

 

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VON DEN MEDIEN

 

Achtundsechzig und die Medien

 

Am 14. November 1974 sendete der Norddeutsche Rundfunk ein Feature des späteren Spiegel-Herausgebers Stefan Aust mit dem Titel „Studentenunruhen“. Das war gut sieben Jahre nach Beginn der Bewegung der Achtundsechziger, die 1967, ja schon 1966 angefangen hatte.

Die folgenden Zitate stammen aus dem Manuskript dieser Sendung. (Sperrungen sind von mir, H.A.)

 

 

Stefan Aust

                    Welche Rolle spielte das Fernsehen? Kam es nur seiner Chronistenpflicht nach – oder propagierte es den Protest? Erläuterte es die politischen Anliegen der Studenten – oder benutzte es deren Aktionen zur Unterhaltung des Publikums?

                                                ______

 

Wolfgang Lefèvre

                    .... die zweite Erfahrung [war], daß wir in gewisser Weise auf diese Medien  a n g e w i e s e n   sind, daß wir mit den eigenen Publikationsmitteln doch nicht das erreichen können, was wir wollen.

                    ...

                    Gab es mal „Radau“ – wie das in den Medien dann heißt, also eine Konfrontation zwischen dem Rektor und uns, oder gar der Polizei und uns, oder es war irgend etwas passiert, eine Fensterscheibe war in die Brüche gegangen oder irgend etwas von der Sorte – dann hatten wir plötzlich Publizität. Zwar nicht die, die wir wünschten, wir wurden dann nur als Radaubrüder behandelt, aber immerhin, wir hatten Publizität. Und erst solche Erfahrungen – glaube ich – brachten uns darauf, daß man sich Publizität mit Provokationen verschaffen kann. Wir merkten, ein damals noch 23 Pfennig kostendes Ei an der Fassade des Amerikahauses macht den Berliner Blätterwald voll mit uns, was wir mit einer 
a n s t ä n d i g e n  Methode niemals hätten erreichen können !

                                               ______

 

Stefan Aust    Einem Aufnahme-Team von „Panorama“ erläuterten die Kommunarden den tatsächlichen Hergang und s p i e l t en 
f ü r  d i e  K a m e r a  die Vorbereitungen für das später gescheiterte Pudding-Attentat [auf den amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey] nach:...

______

 

Erwin K. Scheuch 

                    ...Und hier ist dann den Studenten und auch den anderen linken Gruppen der geschickte Umgang mit den Theaterrequisiten davongelaufen...

______

 

Wolfgang Lefèvre 

                     Natürlich gibt es einen Abschleifungsprozeß, den  wiederum das Medium setzt.

                    ...

                    Es muß mehr geschehen, damit das Medium überhaupt Interesse faßt, die Sache abzubilden. Und die Gefahr lag natürlich nahe – schon deswegen, die Provokation t e c h n i s c h  zu eskalieren. Um  b i l d l i c h zu bleiben: von den Eiern zu Steinen überzugehen.

                                               ______ 

 

Stefan Aust    Die Gefahr war groß, zum modischen Bilderbuch-Agitator gemacht zu werden.

Bernd Rabehl  Das wurde uns durch eine typische Übersteigerung bewußt, als der Rudi Dutschke damals ein Interview für „Capital“ gab und der damalige Interviewer ihm einen Vertrag für Coca Cola anbieten wollte, wenn er bei seinen Reden immer Coca Cola trinkt, würde er im Monat 4.000,-- DM , vielleicht waren es auch nur 1.000,-- DM verdienen, da war klar, man macht sich lustig über uns. Man versucht da an einen Punkt heranzugehen, also an eine Persönlichkeit, zu instrumentalisieren [sic!] und da haben wir sehr hart darüber diskutiert, weil klar war, wir sind jetzt „in“, sind hineingekommen in die Reklame, und wir sind ausnutzbar, wenn wir nicht klare politische Ziele formulieren, wenn wir uns nicht auch klar und eindeutig verhalten. 

                                               ______

Wolfgang Lefèvre

                    ...Also hier machte dieses Sich-hier-eingelassen-haben mit den Spielregeln der Presse...,hatte seine Rückwirkungen auf unsere eigene Politik , und zwar Rückwirkungen, die uns zum Teil sehr unangenehm waren und nicht nur denjenigen, die dadurch in den Schatten kamen, obwohl sie die Politik genauso mittrugen wie Dutschke, Rabehl und andere, sondern auch Leute wie Dutschke und Rabehl selber, natürlich außerordentlich[sic !]. Wichtig ist vielleicht auch noch folgendes, daß man geradezu in den Zugzwang hereinkam, eine politische Kampagne, eine Aktion dann eigentlich erst erfolgreich finden zu können, wenn sie es geschafft hatten[sic !], ihre Publizität in Fernsehen, Rundfunk und Zeitung gefunden zu haben...

Bernd Rabehl  Man verfiel im Grunde auf die Interpretationen der Massenmedien....

                                               _______

Frage eines Reporters

an Rabehl      Man kann also vielleicht sagen, daß die Bewegung zum Teil 

d e f i n i e r t  wird durch die Berichterstattung über sie?

Bernd Rabehl  Ja, in der letzten Phase ja. Muß man leider heute zugeben. 

 

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Vom Dschungelcamp zu Herrn Mohn

 

Die übliche Steigerung des Irrsinns im deutschen Fernsehen kommt einstweilen bei der Schmierigkeit an,  sogenannte Prominente vorzuführen, die sich vorführen lassen, um  zu zeigen,  daß sie lebende Würmer und Schnecken essen, sich im Dreck suhlen und sich teeren und federn lassen. Es wird dann anschließend darüber diskutiert, ob dies gegen die Menschenwürde verstoße oder nicht. Es fällt nicht auf, daß nicht die Unterlassung des Irrsinns einzig sinnvoll wäre,  eine solche Diskussion aber der Meinung Vorschub leistet, der Irrsinn sei keiner, weil das, was vorgeführt wird, die Menschenwürde nicht verletze, sondern der schiere Spaß sei.

Während also auf diese Weise im Vordergrund über etwas diskutiert wird, über das so wenig zu diskutieren ist wie über die Frage, ob inskünftig in aller Öffentlichkeit uriniert werden könne, sitzt im Hintergrund der durch Frömmigkeit und deren Nutzung  gemäß den Thesen Max Webers reich gewordene Herr Mohn in Gütersloh, unter anderem Verleger des „Wörterbuchs des Christentums“, was aber wie üblich gar nicht weiter auffällt. Dem Ingenium des tüchtigen Mannes nämlich ist es zu verdanken, daß es Bertelsmann gibt und daß Bertelsmann RTL gehört und daß RTL Schmieriges produziert, um durch die Steigerung des Irrsinns noch ein bißchen mehr Geschäft zu machen. „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren.“

 

Was aus einem Leserbrief werden kann

 

Als Ergänzung zu einem abgedruckten Leserbrief ging an die Redaktion der „Westfälischen Nachrichten“, Münster,  der folgende Text, der nur zu einem Teil veröffentlicht wurde, was zu tun sich diese Redaktion wie alle Redaktionen vorbehält. Warum wohl behielt sie sich in diesem Fall die Kürzung vor? Wegen der Länge des Leserbriefs? Wegen der Namen im ersten Teil? Oder nur wegen der Namen in dem Teil, der Größen der Wirtschaft nannte?

(Die abgedruckten Sätze [WN 25.2.04] sind fett wiedergegeben.)

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

natürlich hat Herr Wolfgang Klär (WN 18.2.04)recht,wenn er die „Kamerasucht“ unserer Politiker kritisiert. Aber das ist leider nur ein Zehntel der ganzen Wahrheit. Der Vorgänger Stolpes, Herr Bodewig, der die Verträge mit Toll Collect aushandelte, war nicht nur kamerasüchtig wie alle seine Kollegen, sondern auch ein fröhliches Nichts, der der Aufgabe eines Verkehrsministers nicht von ferne gewachsen war. Ihn wiederum hatte der Bundeskanzler zu verantworten. Und so steht es mit dem größten Teil der Minister: Eichel, Trittin, Frau Schmidt, Frau Bulmahn, Stolpe z.B., aber auch der völlig überschätzte berufslose Herr Fischer.

Doch ist das nur die eine Seite des Elends. Wen haben wir denn auf den Rängen der deutschen Wirtschaft? Das gleiche Mittelmaß-Ensemble. Da ist Herr Mehdorn, der nicht in der Lage ist, eine zulängliche Bahn zu installieren, Herr Schrempp, der malade Firmen einkauft  und für Toll Collect verantwortlich ist, der prächtige Herr Sommer von Telekom, die Herren Breuer, Friedel Neubert und Konsorten bei den Banken, die genialen Versicherungslenker, die innovativen Medienkonzernvorsteher, die Privatisierer der Arbeitsverwaltung, dieser einfallsreiche Herr Esser, der ein gesundes Unternehmen zerschlagen ließ  und dafür eine große Erfolgsprämie bekam , kurz ein großer Teil des Heers unserer Wirtschaftslenker.

Und dahinter natürlich deren Adlaten: hohe Beamte und Manager, die es wiederum nicht (mehr) können.

Sie [Die zurzeit Herrschenden in der Politik (!)] sind durchweg das Produkt jenes [sehr] langen Marsches durch die Institutionen, auf dem vor allem die Standards immer weiter gesenkt wurden, so daß schließlich allein der rhetorisch Begabte, also der Schwätzer, also der Kamerataugliche, sich an die jeweilige Spitze hangelte. Nicht die Kamerasucht der Etablierten war das Schlimmste, sondern daß einzig die Medientauglichkeit sie nach oben geschoben hat.

Die Herrschaft in Deutschland liegt vielfach seit nun dreißig Jahren in den Händen dummer Kerle [von Leuten],die über nichts als eine Suada [Beredsamkeit] verfügen. Zu dieser Entwicklung bedarf es freilich eines Volks, das das Zentrum des Lebens in „fun“ entdeckt hat, zu dem es die führenden Achtundsechziger und ihre Erben nachdrücklich ermuntert haben, weil sie selbst es als Ziel ihres Strebens ansahen.

 

Aufgrund des Indizes, daß plötzlich nur „Herrschende in der Politik“ gemeint sein sollen, obwohl ausdrücklich  auch die Wirtschaftsherrscher genannt wurden, gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, daß man die im ganzen heraushalten und erst recht bestimmte Namen in schöner Vorsicht meiden wollte.

 

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Bach für Fernseher

 

Einem ist ein neues Mätzchen eingefallen: Was haben wir an Bach, heißt es in der Redaktion. Und zusammengetragen wird Gejazztes und karibisches Steel, Gesungenes und Instrumentales,  auch Getanztes, Konzertgelungenes  und Probeweises. 

In ihrer Ecke Bedeutende  hören sich gar nicht so prächtig an, andere sind glänzend. 

Und schon vorher wird gelobt, alles sei optisch wunderbar zusammengestellt.

Es soll natürlich etwas aus dem täglichen Affentheater der Fernsehunterhaltung sein.

Aber die Musik Bachs macht daraus das, was es längst nicht mehr gibt.

In den Abgrund des Nichtigen senkt sich Schwere, aus ihm steigt Leichtigkeit, plötzlich ist gegenwärtig die Substanz. 

 

 

VOM (EINSTIGEN) LEBEN

 

1948

 

Die Frage nach Antisemitismus und Antisemiten wird gestellt. Es gebe keine Begründung für eine solche Haltung. Auch könne kein Volk verdammt oder geliebt werden, „immer nur der einzelne Mensch“. 

Lektüre des „König Lear“ als erstes Shakespeare-Drama: nichts sei „kühl rechnender Verstand“, alles sei „großes, herrliches Herz“. 

 

In den Zeitungen sei ein Dokument der Kominform veröffentlicht worden, in dem den Kommunisten Westdeutschlands genaue Anweisungen für Streiks und zur Sabotage des Marshallplans gegeben würden. Deutschland habe wieder eine Sensation. 

Die Zeitungen der russischen Zone hätten nun alle Höflichkeitsschranken fallen gelassen: „Monopolkapitalismus“, „Reaktionäre“ seien noch die harmlosesten kritischen Worte gegenüber den Westmächten. 

Der Mathematiklehrer Dr.H., ein CDU-Mann, habe im Unterricht einen Exkurs auf politisches Gebiet unternommen. Die Alliierten seien an allem schuld. Hitler habe zwar große Dummheiten gemacht, hätte er sie nicht gemacht, wäre unser Leben recht anständig gewesen. „An den Terror hätten wir uns schon gewöhnt.“

Der Lateinlehrer Dr. N., der gelobt wird, habe erklärt, der Krieg sei unvermeidbar, „die Menschen müßten sich einfach einmal austoben“. Dabei sei N. ein Kriegsgegner. Und Krieg könne nicht „eine unumgängliche Tatsache sein“.

 

Der Komponist Ermano Wolf-Ferrari sei gestorben, „der letzte große Meister der opera buffa“.

Im Jugendkonzert gab es Schumanns zweite Sinfonie, die Konzertouverture „Romeo und Julia“ von Tschaikowky. Beides wird überschwänglich gelobt.

Im Rundfunk das Stück „Der Zimmerherr“ von Mostar. Die „ungeheure Geschichte“ Hitlers sei in ein „allzuleichtes Gewand“ gekleidet worden. 

 

Durch die Ermordung des Mahatma Gandhi sei für die „Friedensarbeit der Welt“ eine große Lücke gerissen. 

In Nordrhein-Westfalens Landtag gibt es einen Skandal, als ein kommunistischer Abgeordneter erklärt, wer an den Frankfurter Beschlüssen [für die Konstituierung der Bizone] mitgewirkt habe, sei ein Landesverräter.

Die endgültige Teilung Deutschlands scheine Wirklichkeit zu werden. Nun gebe es den Frankfurter Wirtschaftsrat [für die zwei, später drei Westzonen] und die Wirtschaftskommission des Ostens.

 

Von weiterer Shakespeare-Lektüre wird berichtet: „Was ihr wollt“, „Ende gut, alles gut“, „Liebes Leid und Lust“ und „Die lustigen Weiber“. Das sei „menschliche Komödie in größter Form“. Vor allem die Figur des Narren wird hervorgehoben. 

Kurz darauf wird Kogons „Der SS-Staat“ gelesen. „Wir haben eine furchtbare Schuld auf uns geladen, und sie wird nur durch den unsinnigen Versuch verschlimmert, sie wegzudiskutieren.“ Wir müßten alle Bestrebungen, die Freiheit zu unterdrücken, bekämpfen. 

 

Schon im Februar heißt es, es werde oft von der Währungsreform gesprochen. Man solle aber sehr skeptisch sein, zumal an einen finanziellen Anschluß der russischen Zone nicht zu denken sei. Eine westdeutsche Regelung allein könne nicht zu einer stabilen Währung führen.

In der Tschechoslowakei krisele es. 12 nichtkommunistische Minister seien zurückgetreten, und Benesch verliere immer mehr an Ansehen. 14 Tage später wird der Tod des Außenministers Jan Masaryk erwähnt, der keine Möglichkeit mehr für eine demokratische Tschechoslowakei gesehen habe.

Finnland sei von Stalin ein Bündnis angeboten worden, das als Zwang verstanden wird.

Der Berliner Journalist Friede sei vor kurzem verschwunden. Nun sei dessen Verschwinden  durch einen Arzt aufgeklärt worden, der gezwungen worden sei, F. in seine Wohnung im russischen Sektor zu locken, von wo F. dann entführt worden sei. 

 

Die Evangelische Gemeinde und die Gemeindejugend erhalten ein Haus in der Schweizer Str., das im März eingeweiht wird.

Eine „herrliche Aufführung“ der Matthäuspassion unter Georg Ludwig Jochum wird erwähnt mit Heinz Marten, Milly Fikentscher-Villach und R. Watzke. 

 

In der Schule würden wir im nächsten Jahr leider den bisherigen Klassenleiter behalten, einen launischen und unbeherrschten Mann.

Es gibt Zeugnisse. Plötzlich sei ich von einem „mangelhaft“ in Zeichnen auf ein „gut“ gestiegen. Das sei unsinnig. 

 

Was gemeinhin über Ostern gesagt werde, z.B. die Rede von der „Karzeit des deutschen Volkes und seiner Ostern“, sei falsch. 

Genau wird verzeichnet, wie gut wir in diesem Jahr zu Ostern leben konnten.

 

Bei einer „Trümmerfreizeit“ werden Bausteine für ein Freizeitheim in Ratingen geklopft.

Besuch bei Tanten und Onkel im Lippischen. Es sei etwas Merkwürdiges, „aus  Trümmern heraus in eine ganz und gar unzerstörte Gegend zu kommen“.

 

Eine Organisation für die Durchführung des Marshall-Plans sei von den europäischen Mächten gegründet worden.

Von dem merkten wir schon etwas im Alltag: es gebe z.B. Rosinen.

 

In Berlin und Wien gebe es wieder gegenseitige „unfreundliche Gesten“. 

Die Stimmen, die von neuer Kriegsgefahr sprächen, würden vernehmlicher. Die USA rüsteten stark auf, drei Jahre nach Gründung der UNO.

 

Die Kultusministerin von Nordrhein-Westfalen, Frau Teusch, habe in einem Vortrag zur Schulreform als Quintessenz verkündet: „Kommt Zeit, kommt Rat“. Ob man das „wirklich zum Prinzip machen darf“?

 

Ich höre etwas von der Wiederbelebung der „Spielgemeinschaft“. Lessings „Junger Gelehrter“ solle geprobt werden . Enttäuschung darüber, daß man mit mir nicht darüber gesprochen hat, Vermutungen, was dahinter stecken könne.

 

Wenn uns die Welt auch nicht viel gebe, so doch den Charakter.

 

Am 8.Mai wird „Teufels-Deutschlands Ende“ bedacht.  Ob es wirklich ein neuer Anfang geworden sei ?Das Ende dehne sich immer länger, weil keiner den Mut habe, mit dem Ende ein Ende zu machen. Wir brauchten aber einen neuen Anfang, um nicht zu verenden.

 

In Göttingen findet eine Tagung evangelischer Schüler statt, an der ich teilnehme.

Dort wird an die Bibelkreisarbeit vor  ’33, zwischen ’33 und ’45 und nach ’45 erinnert. Hermann Ehlers [später Bundestagspräsident],Udo Smidt, Johannes Schlingensiepen, Otto Weber, Kurt Hennig, Martin Niemöller sind die Vortragenden.

Eine Diskussionsgruppe, an der ich teilnehme, beschäftigt sich kritisch mit der sogenannten „Geistigen Aufrüstung“. Wir fassen Beschlüsse.

Im Theater wird Eliots „Mord im Dom“ aufgeführt, aus dem mir vor allem der Satz haften bleibt: „Die Welt ist in ihrem Kern verfault“. 

 

Vor 100 Jahren sei die Paulskirchenversammlung in Frankfurt eröffnet worden, die den auch heute wichtigen Grundsatz postuliert habe: Einheit und Freiheit.

Von der Rede, die Fritz von Unruh aus diesem Anlaß gehalten habe, könne „ein Strom der Kraft ausgehen, wenn die Ohren der Hörer bereit wären zu hören“.

 

Die Lebensmittelversorgung werde nun allmählich besser. Es gebe große Zuteilungen an Zucker und Trockenobst, auch die Fettrationen stiegen, nur Fleisch sei gegenwärtig ein bloßes Wort. 

 

In Tel Aviv sei der jüdische Staat Israel ausgerufen worden. Das habe Bedeutung, denn „immer sind die Juden nun einmal das auserwählte Volk Gottes“.

Doch der Krieg schweige nicht. Schon bekämpften sich Juden und Araber blutig. Beide behaupteten, ihnen gehöre das Heilige Land.

 

Das Rheinische Landestheater habe ein Gastspiel mit dem ersten Teil von Goethes „Faust“ gegeben. Die Leistungen der Schauspieler „waren wohl alle überdurchschnittlich“.

 

Wieder werde überall von der Währungsreform gesprochen. Dahinter trete „das dumme Kriegsgerede“ zurück. Man fühle wieder etwas „vom alten Mammon“.

 

Tante G. macht einen Abstecher in Duisburg. Sie habe von Anfang an die Nazis abgelehnt, besonders als die Verfolgung von Kirche und Juden einsetzte. Das sei keineswegs selbstverständlich gewesen, denn „die deutsche Frau ist politisch noch unfähiger als der deutsche Mann“. 

 

Nun will ich selbst im Rahmen der „Spielgemeinschaft“  einige Stücke inszenieren Es solle aber kein großes Theater vorgetäuscht werden. Es gehe vielmehr um das Spiel. Zwei Einakter sollen herausgebracht werden, „die brave Posse Körners ‚Der Nachtwächter’ und Molières ‚Erzwungene Heirat’“. Die ersten Proben fanden statt.

 

Der Film „Unsere kleine Stadt“ wird vorgestellt. Er werde zwar vom Publikum abgelehnt, sei aber ein „Kabinettstück der Zartheit und Güte, der Menschlichkeit“. Hollywood zeige hier, daß es auch anders könne. Vor Beginn des Films sei auf der Leinwand die Bitte erschienen, die Besucher möchten keine Mißfallensäußerungen machen. 

Als wirkliches Filmmeisterwerk gilt mir der Mozart-Film „Wen die Götter lieben“. In ihm sei etwas „vom Geiste des Genies Mozart eingefangen“. 

 

Es gebe nur noch den Gesprächsstoff Währungsreform, heißt es vier Tage vor deren Verkündung. Man rechne mit dem 20. Juni. Viele hätten kein Altgeld mehr, bei den Postämtern werde sehr viel mehr eingezahlt als sonst, die Geschäfte seien restlos ausverkauft, auch der Schwarzmarkt halte seine Ware zurück. 

Am 18. Juni wird die Reform dann verkündet. Sie sei „eine sehr wesentliche  Voraussetzung für unsere gesamte Gesundung“.

Am 21. Juni heißt es, der  Umtausch des Geldes sei sehr ruhig vonstatten gegangen. Schon am Morgen habe man auf dem Schwarzmarkt Lebensmittel „zu niedrigsten Preisen“ bekommen können. Nun seien Sachen, „die man seit Jahren nicht mehr gesehen habe“, frei verkäuflich. Die Schaufenster füllten sich. Der Käufer halte sich aber  sehr zurück. Die Geschäftsleute seien wieder höflich.

In der Hessischen Staatsoper seien die Entrittspreise auf 1 Mark und 50 Pfennig gesenkt worden. In Mainz könne man Kirschen für 20 und 30 Pfennig  das Pfund kaufen. Die Flasche Moselwein koste 80 Pfennig. Am linken Niederrhein würden Frühkartoffeln für 6 Mark pro Doppelzentner angeboten. 

 

Die deutsche Politik stehe auf des Messers Schneide. In den Westzonen sei die neue Währung eingeführt worden, in Berlin und der Ostzone aber nicht. Nun habe der sowjetische Oberbefehlshaber die Durchführung einer Währungsreform für sein Gebiet und ganz Berlin befohlen. Dafür seien auf die alten Reichsmarkscheine Stempelmarken aufgeklebt worden. In den Westsektoren habe man sich gegen die Einführung der Ostwährung verwahrt und die Westwährung eingeführt. Darauf hätten die Russen Strom und Kohle gesperrt und die gesamte Ostzonengrenze geschlossen. Vor dem Berliner Stadthaus habe die SED den Mob toben lassen, so daß die Stadtverordneten keine Möglichkeit gehabt hätten zu tagen.

Moskau  habe seine Satelliten zum Befehlsempfang nach Warschau zitiert.

 

Lessings „Junger Gelehrter“ solle in 14 Tagen Première haben, aber wie werde es mit den Preisen gehen ? Die Generalprobe sei „sehr anständig“ gewesen, heißt es, aber Karten seien kaum zu verkaufen. Am Aufführungstag ist das „Kleine Theater“ dann anderweitig besetzt. Am nächsten Tag aber wird vor „fast ausverkauftem Hause“ gespielt. Ich darf Inspizient sein. Es gibt eine Premièrenfeier. Eine Woche später wird das Stück „vor leider ziemlich wenig besetztem Hause“ wiederholt. Nun gibt es finanzielle Schwierigkeiten. Dennoch feiern wir noch einmal. Und statt des „Nachtwächters“ von Körner sollen nun „Die Juden“ von Lessing geprobt werden.

 

Es gibt Zeugnisse: „sehr gut“ im Deutschen, aber auch ein „Mangelhaft“. 

Mit Alfred N., der die Hauptrolle in Lessings Stück spielte, Regie führte und alles organisierte,  fahre ich nach Korschenbroich, um die Theaterkostüme zurückzubringen. Wir sprechen über die Zukunft der „Spielgemeinschaft“. 

 

Die Lage in Berlin habe sich noch nicht entspannt. Die Versorgung mit Massengütern durch Flugzeuge sei schwierig. Die Westsektoren hätten nur zwei Stunden Strom am Tag.

 

Von einem heißen und trockenen Sommer wird geschrieben.

 

In der Wohnung wartet man auf die Maurer. Der Dienst am Kunden funktioniere doch nicht so gut, wie man es sich vorgestellt habe. Innerhalb von vier Tagen seien dann aber „alle Bombenspuren“ beseitigt worden.

 

Ein kleines Referat über Orwells „Wie die Tiere“ im Rundfunk. Es sei eine „recht geschickte Analyse“ „der Entwicklung jeder Diktatur“.  „Alle Tiere sind gleichberechtigt, aber einige sind gleichberechtigter“, heiße die Maxime.

 

In Ludwigshafen habe es „eine schreckliche Katastrophe“ gegeben: eine Explosion im Werk Oppau der Badischen Anilin- und Sodafabrik. Etwa 200 Menschen seien ums Leben gekommen, über 1000 verletzt worden.

Eine Tante lädt mich zu einem Besuch in Düsseldorf ein. In einer kleinen Konditorei habe es „sehr leckeren Kuchen“ gegeben, aber zu hohen Preisen: für zwei Tassen Kaffee und vier Stücke Kuchen (ohne Marken) hätten wir 8,60 DM gezahlt.

Es gibt eine Aufführung von Shakespeares „Was ihr wollt“ als Gastspiel des Rheinischen Landestheaters. 

 

Ich besuche wieder Verwandte im Lippischen. Es sei eine Eisenbahnfahrt im „tiefsten Frieden“ gewesen. „Zum ersten Mittagessen wird gebeten“. Von schönen Spaziergängen durch die blühende Heide wird berichtet, von „Wohlgefühl“ und Appetit, von einem Kirchenkonzert mit der B-dur Messe von Palestrina, Händel-Arien, Bach-Chorälen.

 

Die Schule habe wieder im alten Trott begonnen. „Es ist alles Ungeist und Moder“. 

Als Alfred N. und ich noch einmal eine Änderung der einzuübenden Stücke vornehmen und statt der „Juden“ Molières „George Dandin“ planen, gibt es seitens eines Mitspielers eine heftige Reaktion.

 

Werner Bergengruen liest in D. u.a. seine Novelle „Die Steine“.

 

In Bonn sei am Tag des Kriegsanfangs der Parlamentarische Rat eröffnet worden. Er wolle über „ein Grundgesetz beraten, das unsere vorläufige Verfassung darstellen soll, solange bis die Ostgebiete auch wieder Teile eines freien Deutschlands“ seien. Es sei ein wichtiger Tag für uns.

Trotz Gesprächen zwischen den Militärgouverneuren habe sich die Lage in Berlin nicht beruhigt. Die Stadtverordnetenversammlung sei gesprengt worden, die „westdemokratischen Fraktionen“ hätten sich in den britischen Sektor begeben. Die SED habe einen „Demokratischen Block“ gebildet und die Stadtverordnetenversammlung als „funktionslosen Trümmerhaufen“ bezeichnet.

Vor dem Reichstag habe es Demonstrationen gegeben. Es sei zu Zwischenfällen mit der Polizei des Ostsektors gekommen. Fünf  Demonstranten seien von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangarbeit verurteilt worden. In Berlin herrsche „eine ungeheure Empörung“.

Kurzsichtig sei es , eine Figur wie de Gaulle nicht für einen Diktator zu halten. Wo liege denn der Unterschied zwischen „unseren Halunken und dem angehenden französischen“?

 

Eine Diskussion über die Frage des größten Komponisten . Trotz Mozart und Beethoven hätte ich mich für Bach entschieden, denn die Matthäuspassion oder die Orgelchoräle gäben uns „Ehrfurcht und Stille“.

 

Im Evangelischen Jugendkreis werde ich abgewählt.  Ich hätte nie ein Blatt vor den Mund genommen, und das sei auch im ganzen richtig gewesen. Aber es gebe auch etwas Enttäuschung, da ich ja „den ganzen Apparat aufgebaut und wohl auch am meisten dafür getan“ habe. Zwei Neugewählte wollten ihr Amt nicht antreten, aber ich würde sie zum Bleiben bewegen wollen. 

 

Ein Rezitationsabend unter dem Titel „Tierisch-Satirisches“ werde geprobt mit Texten von Kyber, Morgenstern, Ringelnatz und Busch. Lilo K. und Günter L. spielten dazu kleine Stücke von Händel, Mozart, Kuhlau, Distler u.a.

Die erste Lesung sei gut verlaufen. Einige seien aber mit „meiner Auffassung von Ringelnatz nicht einverstanden“ gewesen. Ein paar Tage später habe es eine Wiederholung gegeben: „noch gelungener“.

Zuckmayers „Des Teufels General“ sei in D. aufgeführt worden. Es gehe darin um „die Problematik des Menschen an sich“. Der Fliegergeneral Harras sei ein Mensch, das interessiere uns an ihm.

Der Film „Das Lied von Bernadette“ nach Werfels Roman wird hoch gelobt.

In D. werde die Rhein-Ruhr-Halle ein „Kulturzentrum des Westens“. Es sei der Bau eines Großkaufmanns der Nachkriegszeit. Der Protektor der Kunst sei heute ein Schieber. 

 

Der Sicherheitsrat beschäftige sich mit der Berliner Frage. Eine Stadt werde „aus rein machtpolitischen Gründen monatelang einfach blockiert“.

 

Die amerikanischen Präsidentenwahlen hätten mit einer Überraschung geendet. Nicht der Favorit Dewey von den Republikanern, sondern der bisherige Präsident  Truman sei gewählt worden. 

Ganz gleichgültig verhalte man sich bei uns gegenüber den „großen Kämpfen in China“. Man lebe in einer „Totenwelt“. 

 

In der Gemeindejugend werde ein Weihnachtspiel geprobt, das ich geschrieben habe. [Es wurde aber, scheint es, nicht aufgeführt.]

 

Anläßlich eines Konzerts gibt es eine Hommage auf Händel und dessen „Wassermusik“.

Lektüre von Heinrich Manns „Untertan“. Die  lasse das unangenehme Gefühl aufkommen, ob das nicht wiederkommen könne. „Sind nicht noch viele solcher Untertanen lebendig?“ Die Sprache sei eigentümlich: das Verb stehe oft in der Satzmitte.

 

Von einem neuen Weihnachtsrummel wird berichtet. „Schneebartumflossene Weihnachtsmänner“ ständen an jeder Straßenecke. „Das Weihnachtsgeschäft wird gemacht“.

Die Neunte Sinfonie in der Rhein-Ruhr-Halle unter Jochums Leitung, u.a. mit Heinz Marten, Tenor, Lore  Fischer, Alt.

 

Kurz vor Weihnachten: In China sei Krieg, ebenso in Indonesien, ebenso in Palästina.

Dennoch geschehe das „Wunder von Bethlehem“.

Ich lese in den Weihnachtstagen C.F.Meyers „lyrische Novelle“ „Angela Borgia“ in einem neuen Band seiner Novellen. 

 

Das „Ruhrstatut“ sei veröffentlicht worden mit Bestimmungen über die internationale Kontrolle der Ruhrindustrie durch eine Ruhrbehörde. Die Reaktion westdeutscher Politiker sei „fast übereinstimmend negativ“, „diese einhellige verbitterte Ablehnung“ könne aber zu nichts führen. „Warum versuchen wir nicht einmal mit den gegebenen Dingen zu rechnen?“ Wir richteten nur eine „Mauer der Verbitterung“ auf,  sprächen aber von Zusammenarbeit. 

 

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Nummer 1 (März 2002): s. Archiv

 

Dialog mit einem Bundespräsidenten – Dialog mit einem Fraktionsvorsitzenden – Dialog mit einem Bundestagspräsidenten (Variation) – Dialog mit einer Bundesjustizministerin – (Nachwort)

 

 

Nummer 2 (Mai/Juni 2002): s. Archiv

 

Fünfzig Jahre [nach dem Abitur]. Eine Rede – Erfurt im „Spiegel“ – Erfurt für Medienonkel – Ursprünge unserer Gewalt – Die Frage der Gewaltdarstellung – Richterin Salesch – Meseritscher (von Robert Musil) – Was die Medien sagen – Korruption 1 und 2 – Wirtschaft und Scham – Wozu Politik? – Epitaph – Von Menschen und Wölfen – Praktische Theologie – „Schönen Karfreitag“ – Koran-Anthologie

 

 

Nummer 3 (November/ Dezember 2002): s. Archiv

 

Nach der Wahl – Aus „Mahagonny“ von Brecht – Ernste Worte – Aus „Mahagonny“ von Brecht – Die alte Großmutter und der theologische Enkel – Germanistik und die Lage – Aus „Mahagonny“ von Brecht – VON DEN MEDIEN: „Metapher als Titel“ (von Karl Kraus) – Alles klar – Apposition mit als  - Nachdenklichkeiten – Ein Mediensprachgeschädigter – Journalistische Distanzlosigkeit – Journalistisches Mittelalter – Richtigstellung – Wenn Journalisten nicht fragen, sondern von ihrem Fragen reden – Schlaraffenlandjournalismus – Medientreffen – Was für uns vorgesehen ist – VON DER POLITIK: Was die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer in einer als „fulminant“ bezeichneten Rede unter anderem gesagt hat – Wandel durch Annäherung – Ins Grüne – VON DER BILDUNG: Die Gebildeten unter den Verächtern der Bildung – Eine Zuschrift – VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1944 – Sprache im „Spiegel“

 

Nummer 4 (März/ April 2003): s. Archiv

 

Die Gesellschaft der Gartenzwerge (Mit Zitaten aus der „Dreigroschenoper“ und dem „Spiegel“) – VON DER POLITIK: Deutsche Friedenspolitik – Demokratie in Deutschland (und anderswo) – Der Porzellanverkäufer und der Taxifahrer – Möllemann – Die Achtundsechziger erschöpft? – VON DER GESCHICHTE: Bürger Hitler – Zwei Bücher gegen die politische Korrektheit – VON DER GEGENWART: Die Stadt, die Sauberkeit und Häussermann – Bei nochmaliger Durchsicht (von Walter Kempowski) – VON DER LITERATUR UND DER SPRACHE: Martin Walser, Tod eines Kritikers (mit zwei autobiographischen Notizen) – Wie die Präsidentin spricht – VON STÄDTEN UND DENKMALEN: Wiesbaden und Umgebung (im Winter) – Rühmungen – VON DEN MEDIEN: Das vollkommen Idiotische – Wichtige Nachricht – Wie ein ARD-Intendant redet, wenn er gefragt wird – Uns’ Heike -VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1945

 

 

Nummer 5 (Juni/ Juli 2003): s. Archiv

 

VON KRIEG UND FRIEDEN: Der Westen und der Islam. Kultur versus Religion – Parallelwelten – Ein Sternenmärchen – Eine Fabel – Wann demonstriert werden muß – Kleinigkeiten – Was sagt man öffentlich, wenn ein Krieg anfängt – Eine Fabel – Friedens-Deutschland und der Nahe Osten. Ein Capriccio – VON DER GESCHICHTE UND DER GEGENWART: [Tagebuch 9.2.1963] - Zum 17. Juni 1953 – Zwei Aphorismen – Der „Spiegel“ und die Lage der Nation – VON DEN DEUTSCHEN: Aufklärung, Reaktion, Homosexualität – Zum Ethos der Deutschen – Berlin und seine Unruhen – VON DEN MEDIEN: Die Medien vor 75 Jahren (von Karl Kraus) – Kleiner Beitrag zum Journalisten-Knigge – Drei Aphorismen – VON DER JUSTIZ: Justiz bei der Arbeit – Eine Fabel – VON DER THEOLOGIE: Sprich nur ein Wort – Zwei Aphorismen – VOM ALLTAG: Ein Prozeß in Deutschland – Ein Aphorismus  – VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1946.

 

 

Nummer 6 (November/ Dezember 2003): s. Archiv

 

VON DER SPRACHE: Herders Sprachdenken. Mit Bemerkungen zu Hamann und zur Mediensprache (Zum 200. Todestag am 18. Dezember 2003) – VON DER EPOCHE: Gräßliche alte und schöne neue Welt – VON DEUTSCHLAND: Der Staat und sein Bürger – Warum sich in Deutschland nichts ändern wird – Probleme des Landes, für die es keine nennenswerten Lösungsvorschläge und –bemühungen gibt – Strukturreformen und Alltagsbewußtsein – VOM SPORT: Und nun hat der Sport das Wort – Legenden / Kleine Berlinreise /Ulrich Erckenbrecht, Einige Gedichte – Dem Anreger Ulrich Erckenbrecht / VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1947

 

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