Zur Lage der Nation

Bemerkungen zur Sprache, Literatur, Kultur, Politik und

zu den Medien in Deutschland

Herausgegeben von Helmut Arntzen

 

Nummer 9  ( November/ Dezember 2004)

   

   

INHALT: VON DER SPRACHE: Karl Kraus: Medienkritik von der Sprache her – Walter Benjamins Sprachspekulation – Zum Sprachdenken: Jürgen Trabant, Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens. VON DER DEUTSCHEN GEGENWART: Wahlkommentare – Eine Verteidigerin des liberalen Rechtsstaates – Bildungsreformdiskussion – Fahrten in den Osten – Zum Ende der Zivilisation. VOM JOURNALISMUS:  Von gelehrten Sachen – Auf nach Tegel – Schlössernacht, Fernsehnacht – Herr Poschmann. VOM (EINSTIGEN) LEBEN: 1950.

   

   

     Der Irrtum wiederholt sich immerfort in der Tat,

     deswegen muß man das Wahre unermüdlich in 
     Worten wiederholen.

                               Goethe,Maximen und Reflexionen 292

   

VON DER SPRACHE

   

Karl Kraus:Medienkritik von der Sprache her

   

„Die Fackel“ der ersten Jahre gilt als eine Wiener Lokalangelegenheit. Und in der Tat kümmert sich Kraus anfangs um die sogenannten Mißstände in Verwaltung, Bildung und Wirtschaft, vor allem um die direkte und die indirekte Korruption. Doch die begegnet ihm nicht so sehr in den Fakten, die die Tages- und Wochenzeitungen mitteilen, sondern immer mehr in der Art dieser Mitteilung selbst, d.h. in den Widersprüchen, die sich zwischen dem Anspruch der Presse, Aufklärung zu leisten, und der Realität des Verschweigens und des ideologischen, des politischen und des kommerziellen Interesses auftut. Diese Widerspüche zeigt er immer wieder vor allem an dem liberalen Hauptblatt Wiens, an der „Neuen Freien Presse“, auf, das ihm ein Angebot zur Mitarbeit,  die er ausschlug, gemacht hatte. Obwohl in dem programmatischen Text der ersten Nummer der „Fackel“ vom April 1899 von der Presse noch gar nicht ausdrücklich die Rede ist, betont Kraus dreieinhalb Jahre später, daß die „Fackel“ „sich an dem brennenden Gefühl von der Nothwendigkeit, die österreichische Leserwelt über das verderbliche, geistfälschende und eigenthumsgefährliche Wirken der österreichischen Presse aufzuklären“ (Die Fackel [= Fa], 118, 1) ‚entzündet’ habe. Es gehe um das „Gesammtbild des großen Feindes ‚Presse’“ (Fa 118, 2). Beides wird im folgenden  als zentrale Aufgabe seiner Zeitschrift wiederholt, und die gilt Kraus keineswegs mehr nur oder vor allem als Kritik an der „Neuen Freien Presse“ allein, sondern als Pressekritik schlechthin, und zwar auch an den Zeitungen, die als antikorruptionistische Blätter auftreten.

In jenem ersten Artikel der ersten Nummer der „Fackel“, der sich noch nicht ausdrücklich auf die Aufgabe der Pressekritik beruft, heißt es aber auch: „Was hier geplant wird,  ist nichts als eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes, den andere immerzu national abgrenzen möchten“ (Fa 1, 2). Hier verbindet sich Unterschiedliches:einmal die Leugnung ethnischer Differenzen hinsichtlich einer Situation, die mit der Metapher des ‚Sumpfes’ beschrieben wird. Zum anderen ist das offenbar nicht einfach der Sumpf der allgemeinen Korruption, sondern als „Phrasensumpf“ etwas, das durch einen bestimmten Sprachgebrauch, und zwar sowohl in der politischen wie in der medialen Öffentlichkeit, entsteht. Und die Aufgabe eines kritischen Publizisten ist es nach Kraus, diesen „Phrasensumpf“ auszutrocknen, also, metaphorisch gesprochen, aus ihm wieder begehbares Land zu machen. 

Dies ist die erste Stelle in der „Fackel“ , in der, wenn auch noch undeutlich, die gesamte politisch-kulturelle Situation in eine Perspektive gestellt wird,  die nicht mehr identisch ist mit dem kritischen Blick auf Mißstände, sondern in der erst die sprachliche Vermittlung dieser Mißstände, ja aller Objekte der modernen Presse als das Problem gesehen wird, in dem sich Art, Ausmaß und Bedeutung des Dargestellten zeigen.

Doch klafft in der konkreten Kritik der „Fackel“ noch längere Zeit eine Lücke zwischen der politisch-kulturellen Kritik, der Pressekritik und der sehr allmählich sich herausbildenden Sprachkritik . Zwar begreift Kraus schon bald, daß die politisch-kulturelle Kritik in der Pressekritik aufgehoben sein muß, doch worin sich diese fundiere, bleibt Kraus noch längere Zeit verborgen. Wenn er sich explizit kritisch auf die Sprache der Journalisten  richtet, so geht es ihm am Anfang immer um stilistische Kritik, die einmal grammatische Fehler rügt, zum anderen sogenannte „Stilblüten“, auf die ihn häufig seine Leser aufmerksam machen.

Dabei handelt es sich durchweg um den falschen Gebrauch metaphorischer Wendungen. So wichtig gerade dies ist und später sein wird,  so bleibt es für ihn doch vorläufig ein formales Mißlingen. Auch wenn er z.B. in Hinsicht auf  „Stilblüten“ von der „Schuld der Journalistik an der sprachlichen Uncultur“ (Fa 53,30) spricht, rügt er damit handwerkliche Fehler, die man auch beheben könnte. Durchweg versteckt er seine sprachkritischen, genauer stilkritischen Bemerkungen in der Rubrik „Antworten des Herausgebers“, die  nur ansatzweise die späteren Glossen vorwegnehmen. Darin setzt er sich ausdrücklich mit dem Vorwurf von Lesern auseinander, er als Kämpfer gegen Preßkorruption ‚nörgle’ „an den sprachlichen Sitten der Tagespresse herum“ , er beachte deren  „‚Stilschnitzer’“(Fa 105,25). Er meint sich deswegen durch Berufung auf Schopenhauer rechtfertigen zu müssen. Im April 1903 erscheint wiederum eine„Antwort des Herausgebers“zum Sprachgebrauch der Presse mit einer Zitierung Schopenhauers. Es ist der früheste Text der „Fackel“, den Kraus später in den Band „Die Sprache“ übernimmt. Darin steht der Satz „Sprechen und Denken sind eins, und die Schmöcke sprechen so corrupt, wie sie denken“ (Fa 136,23). Der erste Teil ist ein sprachkritischer Fundamentalsatz, wie er schon bei Herder und Humboldt zu finden ist. Der aber wird verbunden mit einem pressekritischen. Und der wiederum bezieht sich auf den zentralen Ansatz seiner bisherigen Pressekritik, daß nämlich Korruption nicht als Merkmal der öffentlichen Institutionen insgesamt betrachtenswert sei, sondern als Merkmal der Presse. Das aber gilt nun nicht mehr so sehr darum, weil sich die Presseleute korrumpieren lassen (obwohl auch das weiterhin für die „Fackel“ eine Rolle spielen wird), sondern weil sie durch ihr korrumpiertes sprachliches Verfahren ihre Leser korrumpieren. Dies kann sich nun unmöglich nur auf Verstöße gegen Grammatik und Stil beziehen, bzw. solche Verstöße müssen nun  intensiver und grundsätzlicher betrachtet werden. 

Kraus hatte  bei der Gründung der „Fackel“ Ermunterung durch Maximilian Harden erfahren, den damals schon berühmten Herausgeber der „Zukunft“, der ein Gesprächspartner Bismarcks gewesen war. Ein jüngerer Biograph Hardens, Harry F.Young, sagt von ihm, er habe „das wohl eigentümlichste Deutsch seiner Tage“ geschrieben (H.F.Y., Maximilian Harden. Censor Germaniae. Münster: Regensberg 1971. S. 22). Obwohl Kraus in Harden zunächst den persönlichen Förderer, dann den Pressekritiker und den Literaturkenner sah und schätzte, mußte ihm das „eigentümlichste Deutsch seiner Tage“ natürlich auffallen. Seine Reaktion darauf entwickelt sich sehr langsam. Über viele Jahre, zwischen 1903 und 1907, zieht sich die ‚Absetzbewegung’ Kraus’ von Harden hin. Zunächst wird der Unterschied zwischen der Pressekritik beider herausgestellt: Harden wolle „die Presse verbessern. Ich will sie verschlechtern...“ (Fa 136, 18) Es sei seine, Kraus’ „Idee, daß man die corrupte Presse allen verführerischen Glanzes einer literarischen Form e n t k l e i d e n   müsse“, ihr solle es erschwert werden, „ihre schändlichen Absichten hinter geistigen Prätentionen wirken zu lassen“ (Fa 136, 18). ‚Literarische Form’ und ‚geistige Prätention“ – beides hat etwas mit der Sprache, beides aber auch mit Hardens Stil zu tun.Hinzu kommt für Kraus, daß Harden sich in einer unverzeihlichen Art über ‚prominente’ Frauen in der Weise auslasse, wie es die sensationierende Presse tue. Das kritisiert Kraus , und er zitiert, wie sich der mit höchstem Anspruch auftretende Kritiker Harden ausdrückt. Das sind für Kraus keine bloßen Stilattituden mehr, sondern bereits Signale eines problematischen Bewußtseins, das sich dann in den Denunziationen Hardens im Zusammenhang mit der sogenannten Eulenburg-Affäre offen zeige. Die erste massive Attacke auf Harden ist daher die Parodie eines Harden-Textes vom Mai 1906. Ein Jahr später wünscht sich Kraus „einmal so viel Muße wie Lust“, „zu zeigen, mit welcher Gesinnung, in welchem Stile und aus welchem Zettelkasten der Mann, dessen Intimität mit Bismarck mit der zeitlichen Entfernung von dessen Todestage zunimmt, das deutsche Geistesleben bedient“ (Fa 229, 24). Die drei Elemente des Hardenschen Schreibens stehen hier noch nebeneinander, aber es deutet sich eine Engführung an, durch die Kraus über die Pressekritik als Kritik an der Pressekorruption einerseits und an dem Pressestil andererseits hinauskommt.

 „Maximilian Harden. Eine Erledigung“ vom Oktober 1907  ist der erste Text der „Fackel“, in der Pressekritik als Sprachkritik erscheint, ja beides identisch wird. Dem Ganzen wird ein Wort des innerhalb der Eulenburg-Affäre angeklagten Grafen Kuno von Moltke, des Militärkommandanten von Berlin, als Motto vorangestellt: „Da erstirbt einem das Wort - -“. Das erinnert an die Schlußzeile aus Kraus’ letztem Gedicht  „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte“.

Das erste scheint nicht mehr als eine Unmutsäußerung Moltkes zu sein, das zweite sich allein auf „jene Welt“ des Nazismus zu beziehen. Aber nur wer unempfindlich ist gegenüber allen Konnotationen von „Sprache“, die seit dem ersten Harden-Text von Kraus erscheinen, kann so urteilen. Ganz ähnliches gilt für den Anlaß dieses ersten Textes, eben jene Eulenburg- Affäre, die v.a. Harden lanciert hatte, indem er die vermuteten homosexuellen Neigungen des Fürsten Eulenburg, eines engen Vertrauten Wilhelms II., und der von ihm so genannten „Kamarilla“ verantwortlich machte für die zunehmenden innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten Deutschlands. Kraus fragt nicht danach, ob Harden mit seinen Vermutungen recht hat, ihm geht es allein um die Frage, ob die Sprache und die Vorwürfe Hardens kompatibel seien, d.h. ob sein sprachliches Pathos die angeblichen sexuellen Verhaltensweisen der von ihm Genannten als kriminell entdecken könne. Ihm geht es sofort um die Behauptung, „daß noch nie ein geschwolleneres Mundwerk, nie eine affektiertere Zunge sich in normwidrige Beziehungen zur deutschen Sprache gesetzt hat“, ja mehr: „Ich gehe in der Schätzung stilistischer Vorzüge weiter und nehme sie zum Maßstab ethischer Werte. Daß einer ein Mörder ist, muß nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, daß er ein Mörder ist. Die Unfähigkeit zur Bekleidung eines öffentlichen Amtes mit der Abneigung gegen den normalen Geschlechtsverkehr zu beweisen, konnte nur einem Philister, oder einem Freibeuter journalistischer Sensation gelingen.“ (Fa 234 – 235, 5 u.6). Kraus ist sofort inmitten seines neuen Themas. Hardens Problem ist für ihn, daß er die Sprache dazu mißbraucht, die vermutete Homosexualität von Diplomaten und Militärs als Ausweis eines Deutschland schädigenden politischen Kurses heranzuziehen. Die ‚Normwidrigkeit’ wird von einer Angelegenheit der von Harden Beschuldigten zu einer Angelegenheit des Beschuldigers, und zwar ausschließlich wegen dessen Sprachgebrauchs. ‚Normwidrig’ ist der, weil in rhetorischer Manier, nämlich als Überredung des Lesers eine Beziehung hergestellt werden soll zwischen Homosexualität und Politik. Das ist fern der behaupteten Aufgabe des Journalismus, über die Realitäten des politisch-sozialen Lebens aufzuklären, ja Hardens Stil schlägt nun um in den Beleg dafür , „daß einer ein Mörder ist“, also daß er durch seine Sprechen kriminell handelt. Was zunächst nicht mehr zu sein scheint als stilistische Outriertheit wird als sprachlicher Mißbrauch in seiner gewalttätigen Wirkung gesehen.  So sehr Kraus an Harden und seinen journalistischen Zeitgenossen auch immer wieder das Ornamentale von deren Rede demonstriert und damit rügt, insofern es die ‚Sache’ bis zur Unkenntlichkeit verstelle, schlimmer sei die Argumentlosigkeit der Phrase, die allein als sprachliche Attitude eine destruktive, eine kriminelle Wirkung erziele, immer unter der Vorgabe, Aufklärung zu betreiben.

Indem die Pressekritik von Karl Kraus sich sprachkritisch entwickelt, geschieht ein Doppeltes: statt ihrer Aufklärungs- und Informationstendenz zeigt sich die verstellende Tendenz der Presse, und der Sprachgebrauch der Presse entdeckt Sprache als das Realitätsetzende, Realitätverändernde  und darin eben als das latent Bedrohliche, aber auch Notwendige für jede Form der menschlichen, der menschheitlichen Situation. Zum ersten Mal wird Sprach- und Pressereflexion zusammengesehen und damit nicht nur der Pressekritik ein verläßliches Fundament gegeben, sondern auch dem Sprachdenken die zeitgenössische Konkretheit , die es erst durch die zentrale Stellung der sogenannten Informationsmedien seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts bekommen hat.

Genau zu der Zeit - wir verhalten im Jahre 1908 -, da Kraus seine Pressekritik als Sprachkritik, d.h. als Kritik durch Sprache, nicht an ihr, begreift, kontrastiert er sie mit der Sprache der Literatur. Kraus’ Sprachdenken entspringt eben diesem Kontrast zweier Sprachgebräuche: einem, den er als durch und durch instrumentellen sieht, einem anderen, der ästhetisch nicht ist im Sinne rhetorischer Gewandtheit, sondern als Denken aus der Sprache heraus, das philosophisches Denken darum nicht leisten kann, weil es von der ‚Sinnlichkeit’ des Gedankens nichts weiß. Schon in der zweiten großen Harden-Polemik „Maximilian Harden. Ein Nachruf“ verwahrt er sich aber auch gegen ein politisierendes Literatentum, das mit journalistischen Meinungen dem Journalisten Harden beispringt. Mit der Kontrastierung von Pressesprache und Literatursprache einher geht die Einsicht in die zunehmende Assimilierung der zeitgenössischen Literatur an den Journalismus. Beides bedeutet eine Perspektivierung  des Sprachproblems für mehr als das nächste Jahrhundert.

Kraus kommt in den nächsten Jahren häufiger auf Harden und seinen Sprachgebrauch zurück, er veranstaltet „Übersetzungen aus Harden“, als handle es sich bei dessen Sprechen um eine Fremdsprache, und er stellt den sprachlichen Unterschied zwischen Harden und sich selbst in einer Glosse abschließend so dar: „Der eine schlägt auf den Fels der nüchternsten Prosa, und Gedanken brechen hervor. Der andere schwelgt im Ziergarten seiner Lesefrüchte und in der üppigen Vegetation seiner Tropen.“ (Fa 279 – 280, 12).“Nüchternste Prosa“ bezeugt sich als Literatursprache, einmal insofern „Gedanken“ aus ihr ‚hervorbrechen’, aber auch, insofern die Metapher vom (mosaischen) Felsen so gebraucht wird, daß gerade dadurch eine deutliche Kontrastierung zu dem „anderen“ kenntlich wird, dem nicht nur Metaphern eines „Ziergartens“ zugeschrieben werden, dessen „Ziergarten“ vielmehr als Verbindung von „Lesefrüchten“ und „Tropen“, von ornamentaler Gelehrsamkeit und ornamentaler Rhetorik (orientalische Tropen und rhetorischer Tropus) charakterisiert wird. Zwei Sprachgebräuche werden aphoristisch benannt, sie sind als die Pole des Umgangs mit der Sprache zu verstehen: der eine wird als gedankenproduktiv gesehen, der andere als nur dekorativ. In zwei Aphorismen aus dem Jahr 1909 wird von der fundamentalen Beziehung zwischen Sprache und Gedanken ausgegangen.„Die Sprache ist die Mutter,nicht die Magd des Gedankens.“ (Fa 288,14)Und: „Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den Journalisten.“ (Fa  281 – 282, 29) Die Sprache dient nicht einfach der Übermittlung von Gedanken, sie ist vielmehr die Voraussetzung jedes Gedankens. Gleichzeitig ist jeder gedankenlose Sprachgebrauch ein Mißbrauch, und der Journalist, der sich wie Harden auf den Ausdruck kapriziert, ist ein prinzipiell versagender Sprecher. Der Gegensatz Kraus – Harden wird keineswegs bloß als einer verstanden, durch den sich unterschiedliche Meinungen artikulieren, sondern als ein Gegensatz von Sprachverständnissen und Sprachgebräuchen. Beansprucht der „eine“, aus der Sprache, verstanden als ‚Mutter des Gedankens’, zu sprechen, so wird der „andere“ als jemand  betrachtet, der gerade weil er die Sprache beherrscht, sie durch Instrumentalisierung verfehlt.

Damit ist der Unterschied von Literatur und Journalismus für Kraus keiner mehr, der auf die Funktion beider abhebt, sondern der den unterschiedlichen Sprachgebrauch betrifft: einen, der nah an der Sprache selbst, einen anderen, der ihr fern ist. „Die Sprache ist eine Herrin des Gedankens, und wer das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß.“ (Fa  272 – 273,  48). Die sprachliche Metaphorik entwirft den Gedanken: die alltaghafte kontrastiert der organischen, die instrumentelle der kreativen. Schon im Dezember 1908, also im Jahr der Hauptauseinandersetzungen mit Harden, bringt Kraus  die Genese des journalistischen Sprechens auf den Namen, und es ist der eines Literaten, nämlich Heine. „Heine hat das Höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist. Höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird.“ (Fa 267 – 268, 41) Aber nicht nur der historische Name anstelle des Begriffs wird genannt, sondern damit  auch der Ursprung  journalisierter Literatur, der für Kraus identisch ist mit dem Verrat an der Sprache. In „Heine und die Folgen“, schon im April 1910 im Manuskript vollendet, im gleichen Jahr als Broschüre erschienen, aber erst im August 1911 in der „Fackel“ abgedruckt, wird die Frage jenes Ursprungs  mit der nach der Literatursprache und der des Verhältnisses der deutschen zu den romanischen Sprachen verknüpft. Diese Kritik,unter dem Namen Heines eingeführt, war schon damals dem liberalen Zeitgeist zuwider und ist es dem heutigen nicht minder, was aber wenig über die Sache sagt, die hier verhandelt wird. Im Fackel-Abdruck fügt Kraus dem Text ein Vorwort an, in der er sich über den mangelnden Erfolg der Broschüre klar zu werden sucht. Sie hängt für ihn mit dem tiefen Desinteresse des Lesers an der Kunst und mit der Approbierung  des „Einen“ zusammen, den Kraus den Feuilletonisten (als Nachfolger Heines) nennt, was wiederum eine „Lebensform“ sei, „in der ein für allemal alles Unschöpferische seinen Platz und sein glänzend elendes Auskommen gefunden hat...“(Fa 329 – 330, 4). „Ohne Heine“ aber „kein Feuilleton“ (7). Und dies wiederum, aus Frankreich „eingeschleppt“, hat „die Moral des deutschen Sprachgefühls“ gelockert (7).

Wird hier nicht alles,was deutschen Nationalismus, Kunstidolatrie und Antisemitismus ausmacht, versammelt, auch wenn dies  den Verfasser der „Letzten Tage der Menschheit“, den Gegner jedes ‚gedankenlosen’ Ästhetizismus und einen Juden zum Autor hat? Aber was Kraus an Kritischem einführt, wird allein hergeleitet aus seinem Sprachgedanken und verliert damit die politisch korrekten Konnotate. „Von den Sprachen bekommt man alles, denn alles ist in ihnen, was Gedanke werden kann. Die Sprache regt an und auf, wie das Weib, gibt die Lust und mit ihr den Gedanken. Aber die deutsche Sprache ist eine Gefährtin, die nur für den dichtet und denkt, der ihr Kinder machen kann.“ (8). Diese erotische Kreativität, die der Sprache zugehört, wird in der Literatur mächtig, für die ihm die Namen Shakespeare, Goethe, aber auch Claudius und Nestroy stehen. Jene ist also nicht das übliche Register der ‚Genies’, sondern eine auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Gesellschaft der Sprachbewußten. Doch verpflichtet Kraus nicht alle Sprecher auf die Literatur. Sprache kann auch für die tägliche Kommunikation zur Verfügung stehen. Und die Presse wäre für deren Gelingen dann  geeignet, wenn sie, wie Kraus es schon in der ersten Fackel-Nummer andeutete, „geistig trocken“  gelegt würde „und die Säfte, die aus der Literatur...erpreßt wurden, wieder der Literatur“ zugeführt würden.  „Die Presse als eine soziale Einrichtung, weils denn einmal unvermeidlich ist, daß die Phantasiearmut mit Tatsachen geschoppt wird, hätte in der demokratischen Ordnung ihren Platz.“ Doch statt dessen betreibe die „demokratische Welt immer aufs neue die Renovierung des geistigen Zierats“ (10,11). „Ihren besten Vorteil [den der Neugierde] dankt sie jenem Heinrich Heine, der der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, daß alle Kommis an ihren Brüsten fingern können“(11). Es geht Kraus nicht, wie Adorno meinte, um die „Unmittelbarkeit“ der Heineschen Lyrik, die einmal „hingerissen“ habe(Th.W.Adorno, Noten zur Literatur. Berlin u. Frankfurt: Suhrkamp 1958. S.146), sondern um das Gegenteil, nämlich um das Phrasenhafte jener Lyrik, vor allem des „Buches der Lieder“, das sich eben bis in die Prosa des Feuilletons ausgewirkt habe, nicht zuletzt in der alles einebnenden Ironie, die doch einmal die  behauptete  „Unmittelbarkeit “problematisieren sollte.  „Die impressionistischen Laufburschen melden heute keinen Beinbruch mehr ohne Stimmung und keine Feuersbrunst ohne die allen gemeinsame persönliche Note“ (11). „Von Heine leben sie fort und er in ihnen“ (15). Um die Folgen geht es also vor allem, die darin bestehen, daß jedem journalistischen Sprechen die Attitude des Stimmunghaften,aber auch des Gewitzten und gleichzeitig des völlig Unverbindlichen zugewachsen ist. Dagegen habe zu gelten: „Kunst bringt das Leben in Unordnung. Die Dichter der Menschheit stellen immer wieder das Chaos her...“ (19). Das hat Adorno viel später Kraus nachgesprochen, ohne die Quelle anzugeben(Th.W.A., Minima Moralia Berlin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1951 S.428). Aber „nur in der Wonne sprachlicher Zeugung wird aus dem Chaos eine Welt“ (25). Das nicht endende Gerede der Zeitungen aber instrumentalisiert Sprache, um das Chaos sensationierend auszustellen oder es stimmunghaft und ironisch zu kommentieren.

Wenn auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Harden „Heine und die Folgen“  anderes ist als eine Stilkritik, so wird das ‚Weltverändernde’ des journalistischen Sprachgebrauchs erst Ende 1912 in „Untergang der Welt durch schwarze Magie“ völlig deutlich. Kraus spricht nun von einer „Welt von Taten und Tönen“ (Fa 363 – 365, 2), was das Tatsächliche und die Pressesprache, die er schon vorher als den „Ton“ (Fa 357 – 359,1) ausgemacht hatte, verbindet. Aber diese Verbindung, die die sprachliche Pressekritik zutage bringt, gilt Kraus als „Untergang“, denn „eine Gesellschaft ist dann auf dem Krepierstandpunkt, wenn sie zum Schmuck des Tatsachenlebens Einbrüche in kulturelles Gebiet begeht und duldet.“ (Fa 363 – 365, 3) „Wenn der alte journalistische Typus in den Krieg zog, so log er. Aber er begnügte sich damit, unwahre Tatsachen mitzuteilen“(4). Aber nun heißt es: „Die Zeitung ruiniert alle Einbildungskraft[in der Buchausgabe: „Vorstellungskraft“]: unmittelbar, da sie, die Tatsache mit der Phantasie servierend, dem Empfänger die eigene Leistung wegnimmt [Buch: „erspart“]; mittelbar, indem sie ihn unempfänglich für die Kunst macht und diese reizlos für ihn, weil sie deren Oberflächenwerte weggenommen [Buch: „abgenommen“] hat.“ (4). Der Krieg, zunächst der noch ‚harmlose’ Balkankrieg, läßt Kraus das sprachliche Verfahren der Presse als weltveränderndes erkennen. Er blickt zurück auf die Protokollsätze der Presse der Jahrhundertmitte, er findet sie noch einmal in einem zeitgenössischen Bericht, den die liberale „Neue Freie Presse“ aus Ablehnung beim Einzug eines päpstlichen Legaten in Wien stilisiert hat: „Aus Wut erschien ein anständiger[Buch: „vornehmer“] Bericht“(9), ein „schmuckloser Bericht“ (11). Aber generell gilt nun: „Eher stürzt der Islam ein als der Glaube an das Wort, das gedruckt ist !“ (22) Das könnte gerade eben formuliert sein. Und dies auch , daß jene alten Protokollsätze  die Vermutung nähren,  die Schreiber hätten damals noch „für den Geist“ sich der Einpfropfung des „Tatsächlichen“ „entzogen“; „sonst wären schon damals die Ereignisse abhängig gewesen vom Bericht“ (23). Damit ist Kraus durch Sprachkritik schon vor dem ersten Weltkrieg an einen Punkt gelangt, der ihn den Sprachgebrauch der Medien so sehen läßt, wie er erst fünfzig Jahre später wieder gesehen wird, allerdings dann häufig mit jener Harmlosigkeitsattitude, die den Schrecken dieses Sprachvorgangs kleinredet. 

Als der erste Weltkrieg ausbricht, schweigt Kraus. Erst im Dezember 1914 erscheint die „Anrede“ „In dieser großen Zeit“, die er im November gesprochen hatte. Sie begründet nicht nur sein bisheriges Schweigen, sondern macht das Schweigen zu einer zentralen Kategorie der Sprache: „Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!“(Fa 404, 2). Der Zusammenhang zwischen Presserede und Kriegsgewalt wird bedacht. Nun erst wird gerechtfertigt, daß Kraus „die Presse überschätzen“ mußte. Denn: „Was ist sie? Ein Bote nur? Einer, der uns auch mit seiner Meinung belästigt? Durch seine Eindrücke peinigt? Uns mit der Tatsache gleich die Vorstellung mitbringt?...Ist die Presse ein Bote? Nein, das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß Taten erst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind...“ (8 f). „Identität“: exakt in dem Augenblick, da die Instrumentalisierung der Sprache generelle Sprachübung und –reflexion zu werden scheint, bemerkt Kraus in der Pressesprache die Nachrichtenkommunikation als Produktion, denn „wieder ist uns das Instrument“ (das Pressesprache  als krudester der Sprachgebräuche zu sein hätte) „über den Kopf gewachsen“: „Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu melden hat und der wohl die untergeordnetste Rolle im Staat spielen müßte, über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über die Tatsache und über unsere Phantasie.“(9) Kraus sieht den Ersten Weltkrieg bereits als Medienkrieg. Denn „der Reporter...zündet das Haus an und macht die Greuel, die er erlügt, zur Wahrheit.“(9) Das Leben, das nun identisch ist mit der Presse und ihrer Rede, ist der permanente Krieg, in dem die „Tat stärker [ist] als das Wort, aber stärker als die Tat ist der Schall“(11), eben jener, den die Presse erzeugt und der sie ausmacht: „ Die Wahrheit ist, daß die Zeitung keine Inhaltsangabe ist, sondern ein Inhalt, mehr als das, ein Erreger“(11). Damit werden Stilkritik, Kritik am Feuilletonismus, Kritik an der Journalisierung der Literatur transzendiert hin auf eine Sprachkritik, die das Konstitutive der Sprache auf deren negative Seite überträgt: die Welt als Medienwelt. Sie wieder zeigt sich am deutlichsten und schrecklichsten zugleich, wie der Nörgler in den „Letzten Tagen der Menschheit“ behauptet, im Deutschen, das diesem doch, wendet der Optimist ein, „als die tiefere“ Sprache galt. „Aber tief unter ihr den deutschen Sprecher“, antwortet der Nörgler, denn „kein Volk lebt entfernter von seiner Sprache, also von der Quelle seines Lebens, als die Deutschen“ . Sie entschädigen „sich in einer Zeit, in der kein Mensch mehr das Schicksal des Wortes ahnt und erlebt, durch Luxusdrucke, Bibliophilie und ähnliche Unzucht eines Ästhetizismus, die ein so echtes Stigma des  Barbarentums ist  wie das Bombardement einer Kathedrale“(Die letzten Tage der Menschheit. In:K.K., Schriften. Bd 10. Hrsg.v. Ch. Wagenknecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. S. 200 f). Zwar kümmert sich die in die Medienwelt und deren Wirkung, den Krieg, verwandelte Welt insgesamt um das Schicksal der Sprache nicht mehr, aber die Deutschen, denen in ihrer Sprache die Sprache überhaupt anvertraut war, begehen nun in der Synthesis von Presse und Krieg den „vollkommensten Verrat am Geiste“ (201). Die Tragödie handelt nicht einfach vom Untergang der Menschheit, sondern von diesem als dem Untergang der Sprache: „Im Krieg gehts um Leben und Tod der Sprache“ (255).

Es gehört zu den produktiven Widersprüchen des Krausschen Denkens und Schreibens, daß er trotz seines abgrundtiefen Pessimismus, was die Zukunft der Menschheit  als sprachliche angeht, also als vernunft- und sinnbegabte und damit zu einem friedensbestimmten Leben befähigte, in den zwanziger Jahren versucht, über eine auf den ersten Blick nur kasuistische Sprachlehre zu einer Erneuerung von Sprachreflexion als Lebensreflexion zu kommen. Aber Kraus weiß zugleich, daß diese Sprachlehre vor allem einer Presse gewidmet ist, deren Schreiber seine Postulate gar nicht verstehen und nicht verstehen wollen, vielmehr ihre Sprachinstrumentalisierung zugunsten der Tatsachenideologie, des Sensationismus, des Feuilletonismus und vor allem der im Weltkrieg sich durchsetzenden Verwandlung der Welt in die Medienwelt ohne den Hauch einer Selbstreflexion fortsetzen.

Als „jene Welt“, nämlich die des Nazismus, erwacht, und Kraus konstatiert, daß deswegen „das Wort entschlief“, ergießt sich der Hohn der Presse wegen seines neuerlichen Schweigens -  „Ich bleibe stumm;/ und sage nicht, warum“ (Fa 888, 4) - über ihn. „Mir fällt zu Hitler nichts ein“, steht schon in Heft 890 – 905 der „Fackel“ vom Juli 1934, das den Titel trägt „Warum die Fackel nicht erscheint“ und die Vorstufe zur „Dritten Walpurgisnacht“ ist, die zu Kraus’ Lebzeiten in der Tat nicht erscheint. Der „Notstand“ jener Feststellung ist bei den Höhnenden „von vielerlei Einfällen begleitet, die inzwischen als Kleingeld unter die Leute gekommen sind“(2), von dem, so könnte man fortfahren, ganze Scharen von historiographischen Publizisten bis heute gut, will sagen satt leben. Kraus aber sieht die weitere Entwicklung der Welt als Medienwelt, in der der „Bereich jenes lähmenden Zaubers“ sich öffnet, „der zum erstenmal der politischen Phrase die Tat, dem Schlagwort den Schlag entbunden hat und dem die Stirn zu bieten nicht mehr im Schutz der Metapher gewährt ist.“ „Dort [nämlich in Deutschland] ist eine Welt durch die Redensart, die man beim Wort nahm, zur Tat aufgebrochen...“ (2).Nun scheint eindeutig, es sei „Hausväter-Unrat der Mißdeutung: die Worte wären das Register der Sachen!“ (9) Aber die Höhnenden begreifen es natürlich so wenig wie Kraus’ Bemerkung: „Doch können wir ihnen...versichern, daß ‚in sprachzerfallnen Zeiten im sichern Satzbau wohnen’ [ein Selbstzitat] auch keine Zuflucht mehr gewährt, seit eben dort die Schlieferl eingezogen sind und sich als Aftermieter selbständig gemacht haben...“ (27). 

Kraus wendet sich denen zu, die bei der „Bücherverbrennung“ mit der Parole aufwarteten: „’Gegen Verhunzung der deutschen Sprache ! Für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes’“ und resumiert: „Leicht gesagt, schwerer getan“(89). Und er analysiert Beispiele, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen: „Doch wo sie sich öffentlich versammeln, hat man immer noch, gemäß den ‚Mesdames et Messieurs’, die Ansprache an ‚Meine Damen und Herren’ gepflogen. Diesem ‚mein’ liegt das gelinde Gefühl einer Beziehung zugrunde, keineswegs die Absicht der Besitzergreifung. Sie hat sich erst im Deutschen Reichstag vollzogen, als wir – schlagartig – die nicht durchdenkbare Formel empfingen: ‚Meine Männer und Frauen!’“ (93) Das finden die damaligen Sprecher als „Wort des Führers“ so selbstverständlich wie heutige bis zum Institut für Deutsche Sprache es uninteressant und  beiläufig fänden. Weniger beiläufig werden sie die Konstatierung finden: „Denn der Nationalsozialismus  hat die Presse nicht vernichtet, sondern die Presse hat den Nationalsozialismus erschaffen.Scheinbar nur als Reaktion, in Wahrheit als Erfüllung. Jenseits aller Frage, mit welchem Humbug sie die Masse nähren – sie sind Journalisten. Leitartikler, die mit Blut schreiben; Schwätzer der Tat.“(141) Das ist ein Wort, das noch schlicht empirische Korrespondenzen hat, denkt man an all die Journalisten, die sich ohne weiteres zur Schaffung und Durchsetzung des Nazismus bereitfanden, obwohl sie doch einem System anzugehören behaupteten, das allein der Aufklärung diene. Und nicht nur die Nazitäter waren „Leitartikler, die mit Blut schreiben, Schwätzer der Tat“, sondern auch bspw. jene Kriegsberichterstatter, die die Gewalt priesen und kurz danach wieder zuständig waren für den Aufbau der Demokratie,  die sie auch als  Gelegenheit  für den  einkünftespendenden Sensationismus unterstützten. 

Kraus geht es  vor allem anderen um die Wahrnehmung der „Gleichzeitigkeit von Elektrotechnik und Mythos,  Atomzertrümmerung und Scheiterhaufen, von allem, was es schon und nicht mehr gibt !“(164) Wie die vor sich geht, davon gibt jedes „6 Uhr-Blatt“ Zeugnis. Es „ringt um die Befreiung Österreichs, aber weiß man denn, was im Herbst  unter Preminger sein wird? Vor dem Höllenrachen erhebt sich die Frage, ob das Pallenberg-Gastspiel perfekt wird, und zwischen Folterkammerspielen die Gestalt Robitscheks... Jetzt hat  die Kulturschmockerei eine lohnende Nebenbeschäftigung bekommen, indem es ihr gelang, die Sphären zu verbinden und den Kulissenschmus unter den politischen Gesichtspunkt einzuordnen:“ ( Die Dritte Walpurgisnacht. München: Kösel 1952. S. 102 f). Diese Synthese des plattesten Nebeneinanders ist die Leistung der Pressesprache, die alles mit allem arrangiert. Kraus dagegen, „symptomenempfindlich“, erschließt „Krieg und Hunger aus dem Gebrauch, den die Presse von der Sprache macht, aus der Verkehrung von Sinn und Wert, aus der Entleerung und Entehrung alles Begriffs und alles Inhalts.“(288)

Kraus hat nie eine Sprachtheorie entworfen, wenngleich sich seine Gedanken zur Sprache sehr wohl auf die Tradition der großen deutschen Sprachdenker, Hamann, Herder und Humboldt, beziehen lassen. Als Satiriker und Pressekritiker wird er auf einen Sprachgebrauch aufmerksam, der nicht nur Wien, sondern auch Berlin und den ganzen deutschen Sprachraum beherrscht. Er reflektiert ex negativo diesen Sprachgebrauch, indem er immer wieder nach den Gründen seiner sehr subjektiven Idiosynkrasie gegenüber diesem Sprachgebrauch fragt. Das macht die Geschichte dieses Denkens aus. An tausenden von Beispielen werden die sich unablässig wiederholenden ‚Regelverstöße’ der Pressesprache gegen Grammatik, Syntax, Logik, Semantik, Metaphorik, Vorstellung, Phantasie kenntlich gemacht und ihre Bedeutung für den Umgang mit der Sprache, für die Vorstellung von der Wirklichkeit, für die Geschichte der Moderne, für das Versagen vor den menschheitlichen Notwendigkeiten entdeckt. Das Problem der Medien liegt für Kraus nahezu ausschließlich in ihrem Sprachgebrauch. Dem steht der der Literatur gegenüber, dem er  ebenfalls immer wieder nachdenkend folgt. Vor allem aber auch folgt durch den Vortrag literarischer Texte, die in Lautung und Sinn für ihn Sinnlichkeit und Bedeutung der Sprache als deren zentrale Qualitäten repräsentieren. Die Pressesprache ist ihm die Fluchtbewegung  weg von der Sprache, wie sie in der großen Literatur erscheint, hin zu einem sensationistischen Faktischen und zu einer bloß meinunghaften oder stimmungsevozierenden Reflexion, deren energetischer und intellektueller Mangel die Presse (und die ihr folgenden Medien) zunächst widerstandslos, dann approbierend der Gewalttätigkeit der Epoche zutreibt, ja die sie mehr und mehr selbst produziert. Längst bevor man begann, die Fragwürdigkeit von Medien und Mediensprache als vordringliches Thema zu begreifen, hat Karl Kraus diese Fragwürdigkeit ausgestellt, indem er sich nicht auf einen bekennenden Sprachglauben, sondern auf den Zweifel berief, den die Sprache schon in ihrem Ursprung bewegte. „Der Zweifel als die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt.“ (Fa  885 – 887, 2) Dieser Satz steht in dem einzigen sprachtheoretischen Prolegomenon von Kraus, „Die Sprache“ überschrieben. Es erschien im Dezember 1932, unmittelbar bevor mit der dritten Walpurgisnacht die letzte Phase menschheitlichen Fortschritts, in der wir bis auf weiteres noch in angenehmem Wohlstand vegetieren, eingeleitet wurde.     

   

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Walter Benjamins Sprachspekulation

   

Benjamins sprachtheoretische Arbeit von 1916 „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“, die zu seinen Lebzeiten ungedruckt blieb, ist sehr weit entfernt von dem im selben Jahr erschienenen, aufgrund von Hörernachschriften konstruierten „Cours de linguistique générale“ von Ferdinand de Saussure, der für die moderne Linguistik bestimmend wurde. Der Aufsatz des 24jährigen Benjamin ist aber auch in der Benjamin-Rezeption eher vernachlässigt worden, da er zu dem vor allem seit den siebziger Jahren venerierten marxistischen oder pseudomarxistischen Autor nicht paßte, obwohl der noch mehr als acht Jahre später dem Freunde Gershom Scholem gegenüber die Einleitung zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ als „so eine Art zweites, ich weiß nicht, ob besseres, Stadium der frühen Spracharbeit“ bezeichnete (W. B., Briefe Bd 1.Hrsg. v. G. Scholem u.Th.W.Adorno. Frankfurt/M. :Suhrkamp1966. S.372).

Diese „frühe Spracharbeit“ orientiert sich sowohl an der Sprachreflexion der Frühromantiker, aber auch an der jüdischen Kabbala und deren Betrachtung durch Gershom Scholem. Sie ist also der mystischen Tradition des Sprachdenkens verpflichtet und schon deswegen hochspekulativ, was sie den gleichzeitigen sprachtheoretischen Erwägungen nur hatte fernrücken können und nach ihrem ersten Abdruck im Jahr 1955 den damaligen selbstverständlich ferngerückt hat.

Das gilt sowohl für den ersten Teil der Arbeit, der grundsätzliche Thesen über die Sprache aufstellt, wie für den zweiten, der diese Thesen in Beziehung zu den Sprachauffassungen der Genesis setzt. 

Benjamin geht davon aus,  daß Sprache „Mitteilung“ sei, welcher Begriff hier allerdings ganz anders eingeführt wird als z.B. bei Max Müller, wo „Mitteilung“ die in ‚Naturlauten’ sich äußernde kommunikative Fähigkeit von Lebewesen ist, welche noch nicht Sprache als Fähigkeit zum Begriff ist. „Mitteilung“ ist bei Benjamin durchaus Sprache, insofern sie verbunden ist mit dem, was er „geistiges Wesen“ nennt, aber auch als „sprachliches Wesen“(W.B., Schriften. Bd. 2. Hrsg. von Th.W. und G. Adorno. Frankfurt/M. 1955. S. 402) unterschieden von diesem, das jedoch zu seinem Ausdruck immer der Sprache bedarf. Im Worte „Logos“ erscheine  der paradoxale Doppelsinn, der die Nichtidentität von „sprachlichem“ und „geistigem Wesen“ aufzuheben suche. So sehr beider Nichtidentität behauptet wird, so sehr sei das „geistige Wesen“ auf die Sprache angewiesen, in der es sich und nicht durch die es sich mitteile. So sei das Mitteilbare „unmittelbar die Sprache selbst“ (403).

Der Begriff der Mitteilung wird dadurch geradezu in die Mitte der Benjaminschen Sprachtheorie gestellt. Er verliert die Momente des Abgeleiteten und Indirekten, denn „jede Sprache teilt sich in sich selbst mit“ (403), da sie die „Unmittelbarkeit“(403) des Mitteilbaren jenes „geistigen Wesens“ ausmache, es also nicht medial transportiert, sondern als Mitteilbares erst herstellt. 

Auf den Menschen bezogen gilt Benjamin, daß dessen „geistiges Wesen in seiner Sprache“ (404) sich mitteilt. Da die menschliche Sprache in Worten erscheine, sei Benennung der Dinge „das sprachliche Wesen des Menschen“(404). Benennung, Namengebung schreibt sich aus der Genesis und  aus  deren kabbalistischer Ausdeutung her.  Sie ist keineswegs identisch  mit ‚Bezeichnung’, sondern setzt voraus, daß sich die Phänomene dem Menschen mitteilen. Der Name wird von Benjamin als „das innerste Wesen der Sprache selbst“ (405) gesehen, nur dort spreche sich die Sprache „rein aus, wo sie im Namen spricht“(406). 

Die Betrachtung der ersten Genesis-Kapitel solle weder „Bibelinterpretation“ sein noch auch diese Stellen als „offenbarte Wahrheit“ ausgeben, „sondern das, was aus dem Bibeltext in Ansehung der Natur der Sprache selbst sich ergibt“, solle „aufgefunden werden“. Die Sprache werde in jenen Texten „als eine letzte, nur in ihrer Entfaltung zu betrachtende, unerklärliche und mystische Wirklichkeit vorausgesetzt“(409).Vor allem die These von der ‚unerklärlichen Wirklichkeit’ der  Sprache stellt die entschiedene Abkehr sowohl von einem behaupteten Desinteresse am Ursprung der Sprache wie von jenen empiristischen Ursprungstheorien dar, die zu naiv sind, um ernsthaften Erwägungen Raum zu geben.

An den biblischen Schöpfungsgeschichten hebt Benjamin „die tiefe deutliche Beziehung des Schöpfungsaktes auf die Sprache“ hervor. Die Sprache sei „das Schaffende und das Vollendende, sie ist Wort und Name“(410), wobei „Wort“ die Naturschöpfung betrifft, „Name“ deren Erkenntnis.

Wichtig ist nun, daß nach Benjamin die biblische Schöpfung des Menschen im Gegensatz zur Naturschöpfung nicht  dem „Wort“ entstammt und dem nicht die Benennung folgt. Gott wollte den Menschen „nicht der Sprache unterstellen, sondern im Menschen entließ Gott die Sprache, die ihm als Medium der Schöpfung gedient hatte, frei aus sich“ (410). Das Schöpferische sei im Menschen Erkenntnis geworden. „Der Mensch ist der Erkennende derselben Sprache, in der Gott Schöpfer ist.“(410) Aber während Gott im Wort schuf, ist „alle menschliche Sprache“ „nur Reflex des Wortes im Namen“ (411), der hier zunächst ganz direkt als Eigenname verstanden wird. Aber darüber hinaus gilt: „Das menschliche Wort ist der Name der Dinge.“ (412). Und unmittelbar schließt der junge Benjamin dieser Behauptung ein entscheidendes Verdikt an, das sich auf die Epoche des Positivismus, aber auch schon auf die des Rationalismus bezieht: „Damit kann die Vorstellung nicht mehr aufkommen, die der bürgerlichen Ansicht der Sprache entspricht, daß das Wort zur Sache sich zufällig verhalte, daß es ein durch irgendwelche Konventionen gesetztes Zeichen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei. Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen:“ (412) Doch distanziert sich Benjamin nun auch von jeder „mystischen Sprachtheorie“, der er doch selbst anzuhängen schien  und die vielleicht richtiger eine magische zu nennen wäre. Auch sie sei mißverständlich. „Nach ihr nämlich ist das Wort schlechthin das Wesen der Sache“(412), doch die Sache an sich habe kein Wort, sie sei aus dem Wort Gottes geschaffen und erkannt im Namen des Menschenworts. Die Wortlosigkeit der Dinge als deren Sprache müsse „in den Namen“ des Menschen übersetzt werden. Der „Begriff der Übersetzung“ sei „in der tiefsten Schicht der Sprachtheorie zu begründen“ (412). 

Der Sündenfall des Menschen bestehe darin, daß dieser „die Unmittelbarkeit in der Mitteilung des Konkreten, den Namen,“ verlassen habe „und in den Abgrund der Mittelbarkeit aller Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen Wortes verfiel, in den Abgrund des Geschwätzes“ (416). Hier erscheint Mitteilung wieder als jene Medialität, die sich im „Geschwätz“ zeige, welcher Begriff in dem 15 Jahre späteren Aufsatz über Karl Kraus dem Journalismus zugeordnet wird.

„Der Journalismus ist Verrat am Literatentum, am Geist, am Dämon. Das Geschwätz ist seine wahre Substanz, und jedes Feuilleton stellt von neuem die unlösbare Frage nach dem Kräfteverhältnis von Dummheit und Bosheit, deren Ausdruck es ist“(2,179), heißt es dort. Und Benjamin ergänzt diese Sätze durch einen von Kierkegaard: „Durch die Zeitung...wird die Distinktion zwischen dem Öffentlichen und Privaten in einer privat-öffentlichen Schwatzhaftigkeit aufgehoben“.(2,182). In diesem privat-öffentlichen Ineinander  des Geschwätzes geschieht „die Knechtung der Sprache  durch die Dummheit“(2, 182). Damit wird der Zeitung die Fähigkeit abgesprochen, der Sprache je zu entsprechen, und die andere zugesprochen, die Sprache unablässig zu zerstören. Kraus’ „Sprachlehre“ sei darum immer „Beitrag zur Sprachprozeßordnung“ (175). Jeden Sprachprozeß  verliert die Zeitung, weil sie von dem Schwindel lebt,  dem „Hirngespinst einer ‚unparteiischen Nachrichtenübermittlung’ sich [zu] überlassen“(2, 170), obwohl es doch nur um die „immer gleichen Sensationen“ geht, „mit denen die Tagespresse ihrem Publikum dient“, während Kraus dem „die ewig neue ‚Zeitung’ gegenüber“ stelle, die von „der Geschichte der Schöpfung“, nämlich der aus dem Wort, „zu melden ist: die ewig neue, die unausgesetzte Klage“ (2, 170). 

   

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Zum Sprachdenken

Jürgen Trabant, Mithridates im Paradies. Kleine Geschichte des Sprachdenkens. München:C.H.Beck 2003. 356 S.

   

Der Coseriu-Schüler Jürgen Trabant, Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin, legte 2003 seine „Kleine Geschichte des Sprachdenkens“ vor, die  nach der Bibliographie von immerhin 17 Seiten die einzige ist, die es in den großen lebenden Sprachen gibt. Das setzt in äußerstes Erstaunen. Der linguistic turn des 20. Jahrhunderts hat es also nicht vermocht, eine solche primär wichtige Darstellung hervorzubringen. Ja, das „Metzler Lexikon Sprache“ (Stuttgart, Weimar 1993) z.B.  kennt nicht einmal das Lemma „Sprachdenken“. Die Damen und Herren Linguisten haben allen Fleiß auf alles mögliche aus ihren Bereichen verwandt, aber niemand hat sich offenbar gefragt, wie und was  im Laufe der Jahrhunderte, ja Jahrtausende von der Sprache, ihrer Entstehung, ihrer Bedeutung, ihrer Leistung vermutet, geahnt, gedacht worden ist.

Trabants hübscher Titel bringt den antiken König von Pontus, der ein Polyglott sondergleichen gewesen ist, in Beziehung zum jüdischen Paradies, in dem natürlich nur eine Sprache, die des vom Schöpfer sprachbegabten Adam, gesprochen wurde. Trabant geht es durch seinen ganzen Text hindurch um die Frage nach den Tendenzen auf viele und  auf eine einzige Sprache, welch letztere im Zuge der Globalisierung wieder eine Vorhand beanspruche, was der Verfasser nicht nur für gefährlich, sondern für katastrophal hält.  Das Spannungsverhältnis der Vielsprachigkeit zur Universalsprachigkeit ist das dominante Thema des Buches, und Trabant sucht diesem Thema auf den Schlichen zu bleiben in allen Bereichen der historischen Beschäftigung mit  Sprache und Sprachen. Damit ist auch schon eine methodische Entscheidung gefallen, die  eine Problematik enthält, nämlich die, ob die Fragen nach den Sprachen und nach der (universellen) Sprache identisch sind mit der Frage nach dem Sprachdenken. Sprachdenken ist ja primär weder mit den zahlreichen Einzelsprachen noch mit einer möglichen Universalsprache beschäftigt, sondern mit „Sprache“ als einer Idee, die sich in allen Konkretionen des Sprechens durchsetzt, und zwar als Weise des Denkens, ja vielleicht der Wirklichkeit überhaupt, insofern sie sich dem Menschen aufschließt. Die Selbstverständlichkeit des Anthropologikums „Sprechen“, das eben darum lange Zeit nur geringe oder sporadische Aufmerksamkeit gefunden hat, verändert sich erst  in den letzten drei Jahrhunderten zu einem eigenen, einem fundamentalen  und zentralen Thema, so daß nun erst „Sprachdenken“ als ein Postulat hervortreten kann, das bisher in Mythos, Religion und Vernunft gewissermaßen verborgen war.

Trabant versteht aber „Sprachdenken“ nicht als ein aus der Sprache selbst  hervortreibendes und an ihr orientiertes Denken, sondern als reflexive Beschäftigung mit der Sprache und den Sprachen, die auch als Sprachphilosophie, also als Nachdenken über Sprache mit systematischem Ort innerhalb des Kosmos der Philosophie, wie als Sprachwissenschaft im vormodernen und modernen Sinn erscheinen kann.

Diese methodisch sehr verschiedenen Bezüge zur Sprache werden nicht differenziert, worin die grundsätzliche Problematik des Buches besteht. Das beginnt mit durchaus spekulativen Überlegungen zur Sprachauffassung der Genesis, in denen zwischen der göttlichen Weltschöpfung durch Sprache und der Schaffung der Sprache durch den Menschen eine wesentliche Differenz postuliert wird (wie sie schon Walter Benjamin bedacht hat).

In einer eigentümlichen Hypothese, die schon Platz schafft für spätere Erwägungen über Tendenzen zur  Sprachlosigkeit, insbesondere bei Platon, Aristoteles und beim heiligen Augustinus, wird der lutherdeutsche Genesistext zum Beweis dessen herangezogen, daß Gott nicht nur durch das Wort schafft, sondern auch „mit den Händen“ gearbeitet habe. So merkwürdig das schon im Verhältnis zu späteren Textanalysen philosophischer und wissenschaftlicher Texte klingt, so wenig überzeugend ist es, das „Gott sprach“ vom „Da schied Gott“ „und nannte“ zu trennen, als könne nicht das ‚Scheiden’ von Licht und Finsternis unter die Voraussetzung des sprechenden Schaffens des Lichts gestellt werden und das ‚Nennen’ als die Spezifizierung  dieses ‚Scheidens’, wobei beides in der Schöpfung durch Sprache eines ist, ohne daß von „einem sprachlichen und einem praktischen“ Aspekt der Gottesschöpfung die Rede sein muß (15). Auch daß von  ‚Übertreibung’ der „Macht des Wortes in der Bibel“(15) durch  den Anfang des Johannes-Evangeliums gesprochen wird, klingt seltsam neuklug hinsichtlich eines solchen Textes, zumal  als Beleg allein die eben vorgestellte Interpretation herangezogen wird, was ein bißchen an die Interpretationen des Goetheschen Faust erinnern, die in dessen Ende auf das schmählichste scheitern. Ähnlich steht es um die Behauptung, es handle sich bei Johannes um eine „späte griechische Interpretation“, wenn uns die intentionale „Sprachlosigkeit“ des griechischen Denkens, vor allem Platons und Aristoteles’, alsbald vorgetragen wird.

Vorher aber spricht Trabant  von „Verschiedenheit als Strafe“ (20). Die Folgen des Babelschen Turmbaus seien, daß an die Stelle der paradiesischen Enheitssprache die Vielfalt der Sprachen als Fluch trete: Einheit der Sprache sei gut, Vielfalt schlecht, sei das Fazit biblischer Sprachreflexion, in der „die tiefste europäische Vorstellung von der Sprache“ wurzele(21).Wirklich ?Und steht es so mit dem biblischen Mythos ? Oder nicht vielmehr so: „Wohlauf, lasset uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst  verwirren, daß keiner des anderen Sprache verstehe !“ (1.Mos 11, 7). ‚Verwirren’ und  ‚(nicht)verstehen’: darum geht es, nicht um Vielfalt. Und die Frage, die sich aus dieser Dialektik erhebt, ist doch, wie denn Verwirrung durch Verstehen in der Vielfalt überwunden werden könne: Einheitssprache oder Übersetzung.  Von letzterer eben ist doch in der Pfingstgeschichte des Neuen Testaments die Rede, wie Trabant  gleich anschließend auch ausdrücklich betont. Warum aber dann das Lamento über die (offenbar zu einfach verstandene) Babelgeschichte?

So wichtig die Betonung der Bedeutung vielfältiger Sprache gegenüber einheitlicher, unparadiesisch globalisierter auch ist, wichtiger scheint mir der Gegensatz von Sprache und Tat, Sprache und Faktum zu sein, den Trabant von vornherein auf , wie mir scheint, unbefriedigende Art in seiner Genesis-Interpretation mediatisiert: Schöpfung aus göttlicher Sprache und göttlicher „Praxis“. Sprachlose „Praxis“ist hier so problematisch wie später bei den griechischen Denkern die Rede von sprachloser Erkenntnis. Mit dieser Dichotomie, die in der Genesis aber nicht statthat, beginnt das Elend. Globalisierung triumphiert ja nicht in der Einheitsspache Englisch als Sprache, sondern darin, daß die eine Welt aus facts  und doings repräsentiert.

Und es ist das Problem, ob Trabant dieser Tendenz nicht selbst Vorschub leistet, wenn er, und zwar gleich zweimal,  von „Sprachlosigkeit“ handelt: „Sprachlosigkeit des Erkennens“(25) bei Platon und Aristoteles, „Sprachlosigkeit“ des Glaubens bei Augustinus. „Sprachlosigkeit des Erkennens“ sei „das Ziel, der Traum“ im „Kratylos“. In dem steht aber auch, daß zwischen göttlicher und menschlicher Sprache zu unterscheiden sei, jene enthalte das „Wahre“, diese aber das „Falsche“, wobei in der Auseinandersetzung von Sokrates und Hermogenes jener postuliert, daß „die Rede alles (pan) bedeutet...und daß sie doppeldeutig ist, wahr sowohl als falsch“. „Und sicher ist Pan entweder die Rede oder ein Bruder der Rede“, heißt es weiter in der Übersetzung von Rufener.Das ist sicher einer der tiefsten Sätze des Sprachdenkens, weil es den Kosmos mit der Sprache zusammendenkt. Und dieser Bestimmung sollte sich „Erkennen“ entziehen, ganz abgesehen davon, daß Denkern wie Platon und Aristoteles, deren Erkenntnis wie jede doch evident ganz und gar Sprachemanation ist, eben dies nicht verschlossen geblieben ist. Vielmehr geht es darum, daß „Erkennen“ hier Sprache immer schon mitdenkt und daß diese mit „Erkennen“ identische Sprache nicht verwechselt werden darf mit der Sprache des Forums, mit Rhetorik.

Von der ist dann in dem Kapitel über Rom ziemlich affirmativ die Rede. Der ehemalige Rhetor Augustinus wende sich von ihr ab. Er (übersetzt Trabant) „zieht den Dienst seiner Zunge zurück vom Marktplatz der Geschwätzigkeit“ (46). Aber was hat das mit einer Tendenz auf Sprachlosigkeit zu tun, zumal Trabant wiederum betont, für Augustinus sei „Quelle des Wissens...nicht mehr die Welt, sondern einzig das Wort“(47)? Auf der nächsten Seite aber steht bereits wiederum, daß „dennoch ...dann auch hier die Sprache insofern keine Rolle“ spiele, „als das , was ich da kommunikativ-auditiv erfahren habe, schon in mir ist“(48).  Trabant sucht ständig zwischen zwei Sprachbegriffen, einem, wie er sagen würde, kommunikativen und einem kognitiven, zu unterscheiden, ohne dies aber wirklich deutlich zu machen. Und wie kann er einen der Kirchenväter für „Sprachlosigkeit“ in Anspruch nehmen, der (ähnlich wie die griechischen Denker) natürlich die zentrale, nämlich hier die liturgisch-rituelle Qualität der Sprache genau kannte? Das  Wandlungssakrament (wie letztlich alle anderen) beruht ja auf  der weder allein kommunikativen noch allein kognitiven Bedeutung der Sprache, sondern vor allem auf  der magischen, wie sublimiert immer die verstanden wird. Sie zeigt sich also nicht nur ‚technisch’, sondern wesentlich als  vollkommen unverzichtbar. Auch das meditative (mönchische) Schweigen würde ja mit dem Begriff der„Sprachlosigkeit“ ganz verfehlt.

So wenig Spekulation Trabants Stärke ist, so glänzend weiß er die Sprachreflexionen der Renaissance, insbesondere Italiens darzustellen. Aufs Mittelalter, also wohl auf Abaelard und Alanus ab insulis, verzichtet er mit Bedauern. Um so ausführlicher widmet er sich Dante, dann Speroni, Pomponazzi und Lascari und ein bißchen beiläufig Luther, dem Schweizer Gesner und dem französischen Drucker Tory.

Trabant stellt die zentralen Sprachüberlegungen Dantes im „Convivio“ und in „De vulgari eloquentia“ dar, in denen er Dantes Vorstellung von der Volks- und der Muttersprache entwirft, die nicht enthusiastisch vorgetragen werde, sondern sowohl affirmativ als auch kritisch. Er sieht aber vor allem, daß in Dantes Sprachreflexion die Sprache etwas ist, „was den Menschen auszeichnet“ (63). Als zweites wichtiges Thema gilt Trabant die Darstellung des Ursprungs der Sprache, bei dem es nicht so sehr um die Mitteilung von Gedanken, sondern um die „Verherrlichung Gottes“(65)in Adams Rede gehe. Und schließlich wolle Dante  den Irrtum des Babelturms wieder aufheben, was aber eben nicht durch die Universalität des Lateinischen geschehen solle, sondern dadurch, daß die Volkssprache zur dichterischen, ja zur kurialen sich erhebe. In ihr werde nun die Sprache des Paradieses wiederhergestellt. 

Der Humanismus aber kehre zunächst zum Lateinischen zurück. Doch indem er es an den bedeutenden Texten festmache, sei die Möglichkeit der Öffnung auf die besonderen, die nationalen Sprachen gegeben. In einem „Dialog über die Sprachen“ von Sperone Speroni fänden sich Dichter und Gelehrter im Lob der Sprache, wenn es auch einmal das Toskanische und einmal das Lateinische sei, doch sei beiden die Sprache das Höchste, „mehr wert als politische Macht“ (88). Das begreife der junge Höfling, der ihnen zuhöre, zunächst nicht, doch wisse er sehr wohl, wie wichtig das Sprechen für den Hof, also die Machtausübung sei. In einem zweiten, eingebetteten Dialog zwischen dem Philosophen Pomponazzi und dem griechischen Gelehrten Lascari überböten sich die bisherigen Positionen., insofern Pomponazzis „Sprach-Haß“gegen die Sprachliebe des Philologen gestellt werde. Pomponazzi gehe es  nur um die „cognizione delle cose“, für die die Sprache lediglich referentielle Bedeutung habe, eine Position, über welche weder Alltagsideologie noch Politik, Wirtschaft, Medien bis heute  hinausgekommen sind trotz oder dank der modernen Linguistik.  Auch Luthers Sprachüberlegungen im Zusammenhang mit seiner Bibelübersetzung. seien vom Humanismus geprägt, doch sei dessen Luthersche Variante sozusagen „vom Heiligen Geist selbst welthistorisch eingesetzt“ (111), was ja  auch dem Humanismus-Begriff eine ganz eigene couleur gibt. 

Bei Bacon werde die vorurteilhafte Sprache des Volkes gegen die gereinigte Sprache der Wissenschaft in Stellung gebracht. Descartes wolle (wieder) zu den Sachen vordringen, begreife aber im „Discours“ die Sprache  als „Zeugin  des Denkens“ (136). Im  Gegensatz zum Empirismus Bacons  bedrohe Sprache  bei Descartes  die Erkenntnis nicht. Ob die breiten Erörterungen über „Sprachkunst“, wie sie die Académie française bald nach ihrer Gründung anstellt, und die „Grammaire Genérale“ von „Port Royale“ einer Darstellung des Sprachdenkens sonderlich weiterhelfen, ist die Frage. 

Erst im 18.Jahrhundert kommt es zu den entscheidenden Erkenntnissen über die Bedeutung der Sprache, dann nämlich, als die fundamentalen Diskurse des Mythos, der Religion und der Vernunft  zu ihrem Abschluß gekommen sind bzw. kommen. 

Locke habe in seinem „Essay Concerning Human Understanding“(1690) nach Condillacs Urteil  als erster „en vrai philosophe“ über die Sprache geschrieben. Auf ihn antworteten Condillac selbst und (verspätet, was die Veröffentlichung betrifft) Leibniz.  Neben ihnen aber sei vor allem Vico zu nennen, dessen „Scienza Nuova“ „der erste linguistic turn der europäischen...Philosophie“ sei(158).

Von Locke sagt Trabant: „...er hat die verschiedenen Arten von Ideen...als verschiedene Arten von Bedeutungen gefaßt, wobei er insbesondere die ‚Arbitrarität’ der auf gesellschaftlich-geistige Größen sich beziehenden Semantik entdeckt hat“. (169) Bei Condillac werde vollends deutlich, daß nun „die Sprachen  nicht mehr generell  eines negativen Einflusses auf das Denken“ verdächtigt werden  (173). Und Leibniz  in den „Nouveaux Essais“, die erst lange nach seinem Tod erscheinen, bestreite wiederum gerade Lockes Arbitrarität der Sprache , vielmehr gebe es für ihn eine Übereinstimmung zwischen Wörtern und Sachen, insofern alles  mit allem zusammenhänge. Leibniz sehe, daß „besser als alles andere“ „eine Sprachanalyse Zugang zum menschlichen Geist gewähren“ würde(187), denn Welt und Sprache entsprächen einander.

In Vicos Denken schließlich sieht Trabant im Anschluß an Coseriu wohl mit Recht zum ersten Mal „ein Denken von der Sprache her“(195). Vicos „Scienza Nuova“ sei eine „Philosophie der Sprache“, die erste Sprache aber sei die in „poetischen Charakteren“, ein Gedanke, den Hamann aufnehmen wird. Die Wörter seien keineswegs willkürliche Setzungen, sie lebten vielmehr aus den „ursprünglichen phantasiegeschaffenen Bildern“ (199). 

Aber in der französischen Aufklärung und ihrem politischen Ziel, der Großen Revolution, gilt die Sprache weiterhin als Hort der Baconschen  „idola“, der Vorurteile. Sie schon streite für eine strikte Reform der französischen Sprache als der Mustersprache. Und Trabant schließt sein Aufklärungs-Kapitel mit den Sätzen: „Die Einrichtung der paradiesischen Sprach-Hölle[,] der einzigen, eindeutigen, willkürlichen, effzienten, rationalen Zeichen-Sprache ist der Französischen Revolution nur andeutungsweise gelungen....Wir aber, die modernen Wissens-, Geschäfts- und Spaß-Eliten, machen es natürlich besser und arbeiten fröhlich und tatkräftig an einer helleren Alternative, die aber auch nichts anderes als [Orwells] Newspeak ist.“ (209) Das ist nur allzu wahr und schrecklich: Es ist die Arbeit an der Selbstvernichtung der westlichen Kultur, ja in ihrem globalisierenden Einfluß an der Vernichtung der Kultur überhaupt.

Wie seltsam aber, daß sich im folgenden Kapitel Trabant  sehr um die Fundamente der modernen Sprachwissenschaft bemüht und die wachsende Trennung von Philologie und Linguistik beklagt, auch Herders Sprachphilosophie an den Anfang seiner Betrachtungen zur Geschichte der Sprachwissenschaft setzt, aber für dessen Inspirator Hamann, der für Trabants Mithridates-Venerierung ein Kronzeuge wäre und einer der wichtigsten Sprachdenker ist,  für den „Magus aus Norden“ nur ein  beiläufiges Interesse aufbringt. Welch klugen Satz  schreibt er, wenn er zu Herder bemerkt: „Der sprachlosen  Philosophie der reinen Vernunft setzt Herder eine Philosophie der sprachlichen Vernunft entgegen“(218), ein Satz, der ganz  auf Hamann zutrifft, dessen er aber unmittelbar vorher nur als „Mentor“ Herders gedenkt.

Trabant verwahrt  sich gegen die Einschätzung Herders „als Herold des (bösen) Nationalismus gegen den (guten) Universalismus“(226), wie er in Frankreich immer noch virulent sei. Er sieht, daß  für Herder ein Geist die Menschen „auch in ihren verschiedenen Sprachen“ eine (228). Diesen Gedanken habe Humboldt fortgesetzt. Für beide sei unverbrüchlich, „daß Sprache das Wesen des Menschen”(229) ausmache. Nach allerhand Exkursorischem und einem kritischen Blick auf Franz Bopp als „ersten Linguisten“, den Texte nicht interessierten (245) und der in der Linguistik eine Naturwissenschaft suche, kommt er vergleichsweise kurz auf Humboldt zu sprechen, der doch der wichtigste Sprachdenker überhaupt ist. Ihn stellt er vor allem in die Perspektive der „traurigen Geschichte  der Scheidung von Philologie und Linguistik“ (269). Doch könnte man ja auch sagen, daß die endgültige Emanzipation der Sprache von allen Spezialinteressen und –ideologien präzise in dem Augenblick erkannt wird, da der Tatsachenfetischismus des alten und neuen Positivismus sich auf das krudeste und gleichzeitig naivste nach vorne drängt.

Verdienstlich  ist, was Trabant an Kritischem über „synchrone Linguistik“ vorträgt. 

Auch betont er den Blödsinn einer „Literatur-Wissenschaft“, die „allerlei“ „politische, historische, ideologische, philosophische, kulturelle, sexuelle Motive traktiert“(291), aber offenbar intelektuell zu schwach ist, um die fundamentale Bedeutung der Sprache für die Literatur, die so evident ist, zu begreifen. 

Den wirkungsreichsten Sprachdenkern des 20. Jahrhunderts, nämlich Wittgenstein und Heidegger, sagt Trabant nach, daß beiden „ein Denken der  Sprachen“ fehle (321): bei Wittgenstein mangle es an „Sympathie“ für „die verschiedenen Sprachen“, bei Heidegger ginge es um „ein unhistorisches Vor-Sprachliches“(321) als prima causa.  Letzteres sei dahingestellt. Aber richtig ist sicher, daß es „ja eben nicht einfach so“ ist, „daß die verschiedenen Sprachen nur das sprachlos Gedachte materiell verschieden benennen  und den anderen mitteilen“(324) Weiß Gott!. Aber der „Triumph der Dummheit“ (325), von dem Trabant spricht, hindert Linguistik und Literaturwissenschaft an einer auch nur ansatzweise zulänglichen Reflexion des Sprachthemas. Dabei haben wir seit dem 18. Jahrhundert eine Fülle bedeutender Sprachdenker. Trabant nennt einige wichtige. Andere – eben Hamann, Lichtenberg, die Romantiker, Friedrich  Max Müller, aus  dem 20.Jahrhundert Fritz Mauthner, Karl Kraus,  Ernst Cassirer, Walter Benjamin, Hans Georg Gadamer, Bruno Liebrucks, Johannes Lohmann – nennt er gar nicht.Das ist bedauerlich. Auch daß wenig vom primären Zuammenhang von Sprache und Hermeneutik und gar nicht vom gegenwartsbestimmenden Kontrast von Sprache und Medien gesprochen wird, ist bedauerlich. Aber das Buch ist eine erste Erinnerung der  Bedeutung des Sprachdenkens für die Geschichte des modernen Denkens überhaupt. Und es ist ein Ruf in eine Globalisierungswüste, die vor allem wegen der vollkommenen Taubheit aller redend Handelnden gegenüber der Sprache entstanden ist. Beides ist ein Verdienst Trabants, der freilich durch manche Sach- und Denkmängel gemindert wird. Die berechtigte Unruhe angesichts dieses Themas treibt Trabant manchmal zu Kurzschlüssen, manchmal zu Vergeßlichkeit. Diese Unruhe läßt ihn auch einen so schrecklichen wie absurden Satz sagen wie diesen: „Bevor die Nazis  das Deutsche auf ewig zur Killersprache machen...“(271) Dies ist ein in jeder Hinsicht sprachferner Satz, den jemand, der vom Sprachdenken handelt, nicht niederschreiben sollte, weil er selbst in die Wüste führt, auf deren Katastrophe Trabant doch aufmerksam machen will. 

   

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VON DER DEUTSCHEN GEGENWART

   

Wahlkommentare

   

Hört man sich an, wie Politiker und Journalisten im Zusammenhang mit Wahlen, wie sie im September 2004 in Brandenburg und Sachsen stattgefunden haben, kommentierend sprechen, so erfährt man etwas vom Zustand der gesprochenen Sprache.

Ein Ausgangspunkt ist die Rede von der Situation der Demokratie in Bezug auf die  nennenswerten Zuwächse der Rechtsparteien. Diese Zuwächse gelten einmal als alarmierend, zum anderen aber als Wiederholung von Wahlergebnissen, wie sie sich immer wieder gezeigt hätten. Doch stimmen die einen wie die anderen darin überein, daß der Demokratie dadurch eine wirkliche Gefahr nicht erwachse. D.h. es werden zwei redensartliche Kommentare vorgeführt, die nicht die Funktion haben, von der wirklichen oder vermeintlichen Bedeutung des Wahlergebnisses zu sprechen, sondern lediglich das zu  sagen, was in analogen Situationen schon oft gesagt worden ist: nämlich, daß man sich wegen der Rechtsstimmen Sorgen mache, zugleich aber, daß man sich gar keine Sorgen zu machen brauche. Was damit jetzt und früher gesagt wurde, ist sowohl eine doppelte Beruhigung des Auslandes: man  ist aufmerksam, aber es kann nichts passieren – wie eine Ablenkung von dem, was wirklich des Kommentars bedürfte.

Die Situation der Demokratie tritt nämlich viel klarer als in den Rechtsstimmen in mehreren anderen Ergebnissen zutage: einmal in der geringen Wahlbeteiligung, die sich immer stärker auf 50 % der Wählerschaft reduziert. Zum zweiten in der Zahl der PDS-Stimmen,  die zwischen knapp 24 und 28 %,  also einem Viertel der abgegebenen  Stimmen liegt. Und schließlich darin, daß die sogenannten großen Volksparteien zusammen nur noch gut 50 % der Stimmen erreichen.

Hier ist offenbar das Material für eine Überlegung zur Situation der Demokratie, die aber zugunsten jenes Redensartlichen gar nicht angestellt wird. Dieses Material macht nicht nur  besorgte Sätze möglich, sondern erzwingt sie geradezu. Denn einmal verweigert sich fast die Hälfte der Wählerschaft überhaupt. Zum anderen wählt die  andere Hälfte  zu einem Viertel eine Partei, deren unmittelbare Vorgängerin die Staatspartei einer Diktatur war und die den Teil des Landes, in dem sie zahlreich gewählt wird, als Staatspartei ruiniert hat. Zum dritten wählt jene Hälfte  nur noch zu gut 50 % die „großen Volksparteien“, die, damit überhaupt eine Regierung zustande kommt, die nicht wesentlich durch eine nichtdemokratische Partei bestimmt wird, sich zur „großen Koalition“ verbinden müssen, wobei diese Volksparteien in beiden Ländern auch noch die eigentlichen Wahlverlierer sind. 

Obwohl also die Lage argumentative Sätze möglich macht und erfordert, werden redensartliche Sätze gebraucht, die repetitiv und nichtssagend sind, aber den Anschein der Nachdenklichkeit haben.

   

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Eine Verteidigerin des liberalen Rechtsstaates

   

Gerade war der Anschlag auf eine Schule im Kaukasus. Und nun wird er im Presseclub beschwatzt. Kann man annehmen, daß einer der Beschwätzer zwischen dem Freitag, an dem es geschah, und dem Sonntag, an dem sie sich dazu äußern, einen ernsthaften Gedanken gefaßt hat, selbst wenn man meint, ein Journalist könne das unter günstigen Umständen? Der Präsidierende im Presseclub und zwei Teilnehmer sind ältere Personen, drei andere sind jünger. So um die 35 bis 40 und mit der coolen Attitude: Wir wissen Bescheid. Aber das ist ja das immer gleiche. Das Besondere ist diesmal, daß eine junge Dame vom „Spiegel“ sich über die Katastrophe in der Weise äußert, eine gewisse Freiheit für mögliche Terroristen, die vielleicht den Anschlag auf die Schule im Kaukasus planten, sei der Preis, den wir als liberaler Rechtsstaat für eben diese Liberalität zu zahlen hätten. Und, kann man hinzufügen, sie, die wahrscheinlich nichts Nennenswertes in ihrem Leben durchgemacht hat, die in hemmungsloser Privilegiertheit aufgewachsen ist, sie zahlt den Preis, wie sagt man, aus der Portokasse. Da sie Journalistin und dazu noch ein junges unbedarftes Ding ist, weiß sie nicht, was sie redet. Hätte sie einen Augenblick den Mund gehalten, wäre sie nicht gerade eine Philosophin, die sie nie war, geblieben, aber sie hätte sich vielleicht etwas vorstellen können.

Sie hätte sich eine Mutter in der Kaukasusschule vorstellen können , die nach ihrem Kind sucht. Und sie hätte sich vorstellen sollen, daß sie zu dieser Frau sagt: ‚Gute Frau, dies ist schlimm, aber es ist der Preis, den wir im Westen zahlen um des liberalen Rechtsstaates willen. Sorry.’

Und wenn sie sich das hätte vorstellen können, hätte sie sich vielleicht gar vorstellen können, wie ihr Mündchen, das plötzlich ein Großmaul war, für lange Zeit sich nur noch bewegen wird, um die Tageszeit zu entbieten.

   

   

Bildungsreformdiskussion

   

Wieder eine der zahllosen Reformdiskussionen, wieder eine der zahllosen Bildungsreformdiskussionen. Frau Simonis aus Schleswig Holstein sitzt mit einem Blick da, der aus Hochmut und  Resignation changiert, und gibt bekannt, was man alles vorhabe, daß es aber nur langsam vorangehe. Ein Vertreter von McKinsey sagt abermals, woran es fehle. Und der umfangreiche Herr Calmund, ein berühmter Sportler, schlägt in Kölschem Jargon vor, daß die Kinder gut Deutsch können sollten.

Sind sie bei Trost ?  Wissen wir nicht seit  fast 40 Jahren, daß die Bildung reformiert werden muß ? Waren da nicht vor dreißig Jahren so hervorragende Bildungsminister wie die Herren von Friedeburg in Hessen und von Oertzen in Niedersachsen, die genau wußten, was zu tun sei ? Aber war vielleicht das, was sie genau wußten, planer Unsinn ? Sind seitdem nicht Kommissionen über Kommissionen gegründet worden, die diese Bildungsreform entwickeln sollten ? Haben diese Kommissionen, die es z.B. in Nordrhein-Westfalen gab, irgendetwas bewegt? Kam nicht, sobald sie Vorschläge gemacht hatten, aus Düsseldorf ein Ministerialrat, der zu allem Übel auch noch Hochmuth hieß, und erledigte diese Vorschläge mit der linken Hand ? Hatten wir in Nordrhein-Westfalen nicht z.B. diesen großartigen Ministerpräsidenten, den Johann Sebastian Bach sein Leben lang begleitet hat, der daraus aber als Gewinn nur zog, stolz zu sein auf die Vereinigung von Universität und Pädagogischer Hochschule, die, wie die Situation der Bildung lehrt, nichts gebracht hat ? Was hat Frau Simonis, die jetzt in  einer Mischung aus Hochmut und Resignation dasitzt, in all ihren Jahren als Ministerpräsidentin  für die Bildungsreform getan ? Sie hat ein paarmal  die Kieler Woche eröffnet und oft die Hüte gewechselt. Oder der Riesenstaatsmann Schröder, der doch Ministerpräsident von Niedersachsen war ? Er hat ein paarmal „basta“ gesagt und die Bildungsreform dadurch gefördert, daß er die Lehrer als faule Säcke bezeichnete. Oder der damalige Hessische Ministerpräsident, der zuerst Studienrat war und sich später auch als Bundesfinanzminister  auf das allerschönste bewährt hat?Oder all die großartigen und unerhört kompetenten Kultusminister, die doch diesen wunderbaren Erfolg der Rechtschreibreform geschaffen haben? Sie hatten fast vierzig Jahre Zeit zu reformieren, und sie haben alle immer wieder gesagt, sie seien ständig dabei, nun aber alles von Grund auf zu reformieren.

Und nun ist alles noch schlechter, als es zu der Zeit war, da es schon schlecht war.Und nun soll man Leuten wie Herrn Schröder oder Herrn Eichel oder den Kultusministern vertrauen, die zur Zeit nur beweisen, daß sie auch ihre neuen Aufgaben nicht bewältigen können? Sie wissen jetzt ganz genau, was zu tun sei, obwohl sie es damals schon nicht wußten ? 

„Wir sollen uns auf euch verlassen?/ Ach lieber nicht“ (Erich Kästner).. 

   

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Fahrten in den Osten

   

I

Viermal setzten wir in diesem Jahr an, jeweils ein Stück der ehemaligen DDR anzusehen.Anzusehen. Denn solche touristischen Fahrten können zwar nicht mehr geben als einen Außeneindruck, der aber ist keineswegs irrelevant, weil er vom Zustand dieser Gebiete eine genauere Vorstellung liefern kann als statistische Werte oder sehr partielle Eindrücke eines geographischen oder sozialen Feldes. So kann ich natürlich sehr wohl einschätzen, wie es mit einer Stadt steht, wenn ich eine Zeitlang in ihren Straßen flaniere.

Der Ausgangseindruck war der, den man in den achtziger Jahren oder auch bald nach der Wende bekommen hat und der zumeist so außerordentlich erbärmlich war, wie man ihn in Mitteleuropa keineswegs vermuten muß. Natürlich veranschlagte man die Auswirkungen des Krieges, natürlich wußte man, daß die materiellen Möglichkeiten der damaligen DDR wesentlich geringer waren als die des Westens, und man bedachte auch, daß sehr viele Städte des deutschen Westens den Wiederaufbau als eine schlimme Heimsuchung hatten erleben müssen, weil Stadtplanung und architektonische Fähigkeiten sehr häufig unzulänglich waren. Einen Vergleich der städtebaulichen Leistungen bzw. Mängel für den Westen hat es übrigens nie gegeben.Und es gehört zu den kulturhistorischen  Lücken, daß es an zulänglichen populären Darstellungen über die Veränderung des Stadtbildes und seiner Qualität nach dem Krieg fehlt. So bieten auch umfangreichere Reisefüher darüber nichts, weil ihre Verlage natürlich fürchten, daß ihnen schlechte Noten über die Erscheinung deutscher Kommunen Verkaufsnachteile bringen. 

In der DDR gab es kaum nennenswerte Differenzen der Stadtbilder. Von ganz wenigen, meist kleinen Städten wie Wernigerode oder Stolberg abgesehen, die aus ideologischen Gründen herausgeputzt wurden, wobei sich das durchweg nur auf die Schauseite beschränkte, waren die kriegsbeschädigten wie die erhaltenen Städte in gleichem Maße grau und in einem präruinösen Zustand. „Ich dachte, Städte sind so“, sagte eine junge Stralsunder Stadtführerin schon vor zehn Jahren, was hieß: so unansehnlich, heruntergekommen, fern jedem Respekt vor dem, was Jahrhunderte aufgebaut hatten. Wie völlig banausisch sich die die besten Traditionen der Arbeiterklasse repräsentierenden DDR-Oberen verhielten, kann an der Sprengung der Leipziger Universitätskirche, die völlig erhalten war, ebenso abgelesen werden wie an der Sprengung des Berliner und des Potsdamer Stadtschlosses, die hätten restauriert werden können, aber wie die Wismarer Marienkirche und vieles andere einem infantilen Feudalhaß zum Opfer fielen, den man offenbar in Polen und anderwärts nicht gekannt hat.

Nun ist in  knapp 15 Jahren in den neuen  Ländern eine so  ungeheure Restaurierungsleistung  unternommen worden, wie sie nur mit dem Wiederaufbau der Warschauer Altstadt und Danzigs zu vergleichen ist. Gottseidank hat man es verhindert, daß jene architektonischen Puristen zum Zuge kamen, die ihre Unfähigkeit als ästhetische Ehrlichkeit anbieten wollten, ein Aberwitz, wie er in keinem anderen europäischen Land verkündet wurde. Natürlich wäre es prächtig gewesen, wenn Restaurierungen  durch architektonische Neuleistungen hätten ergänzt werden können. Aber da die Epoche, die wie keine vor ihr Architektur benötigte, nur ein pygmäisches Geschlecht von Baumeistern, nein Baulehrlingen vorfand, wohl aber offenbar in Hülle und Fülle gute Restauratoren, so war es ganz und gar gerechtfertigt, diesen zu überlassen, wenigstens einen Eindruck deutscher Stadtkultur  wiederzuschaffen.  Das ist innerhalb jener 15 Jahre auf das erstaunlichste gelungen. Und wenn es auch immer noch Städte gibt, die von der Ruinosität der früheren DDR zeugen, so müßte allein all das, was an großer Architektur restauriert wurde, das Entzücken der Ostbürger, nein, aller Deutschen  sein. Das ist es aber kaum.Es scheint so, als hätten die Menschen überhaupt längst ein innigeres Verhältnis zu ihren fahrenden Blechbüchsen als zu großer Architektur, als seien  überdies die Menschen Ostdeutschlands in  45 Jahren in einen so erbarmenswerten Zustand sozialistischer Piefkes verwandelt worden, daß sie ganz in eine Vorstellungswelt zurückgesunken sind, die in der Datsche die höchste Erfüllung der Baugeschichte realisiert sieht. 
Und eine Jugend, die angeblich nach Arbeit lechzt, hat keine fruchtbarere Vorstellung entwickelt als die, der westdeutschen Jugend in der beschmierenden Destruktion von mit Fleiß und Kenntnis wiedererrichteten oder wiederhergestellten Bauten Konkurrenz zu bieten: „Wir schmieren noch zertörerischer.“ Eine Leistung, deren Gipfel übrigens in den beiden Teilen der deutschen Hauptstadt zu besichtigen ist.

   

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II

Die erste Fahrt ging in den Südharz, und zwar in das eben schon zu DDR-Zeiten als Thomas-Münzer-Stadt gepflegte Stolberg, das sozusagen im Wald liegt. Vorher konnte man Heiligenstadt  im Eichsfeld betrachten, das fast soetwas wie ein Freilichtmuseum geworden ist und offenbar ein Beleg dafür, daß die Katholiken, die dort ihr größtes zusammenhängendes Siedlungsgebiet haben, die sozialistische Verlumpung nicht mitgemacht haben.  Es ist eine höchst ansehnliche Stadt, schöner als die meisten vergleichbaren westdeutschen. Auch Stolberg ist noch einmal aufgefrischt worden: Fachwerk aller Art ist zu bewundern, nur die Kirche St. Martini wirkt  sehr angegriffen, besuchen kann man sie nicht. Das ist das Leidwesen aller evangelischen Kirchen in Ost und West: man schließt ab und hat dadurch sofort einen sinnlichen Eindruck vom Zustand der Institution Kirche. In Stolberg gibt es noch kleine Geschäfte, z.B. eine winzige Bäckerei, allerdings mit unfreundlichem Personal. Auch ein hübsches Delikatessengeschäft gibt es, das aber selbst am Dienstag nach Ostern geschlossen ist. Man hört  immer, wie schrecklich schlecht es so vielen im Osten geht, aber wenn jemand einen kleinen Betrieb hat, verhält er sich, als wolle er seine Waren wie in der früheren DDR rationieren. 

Das Hotel liegt weit draußen, war wohl früher ein großes Forsthaus und ist mit Handwerkskunst in der Rezeption und den Gasträumen ausgestattet. Über Ostern ist es gut besetzt, durchweg mit Gästen aus dem Osten. 

Wenigerode ist ganz touristisch und hat ein Café, das wie aus den zwanziger Jahren grüßt. Alles ist noch viel perfekter, als es vor zwölf Jahren war.In der  goßartigen Stiftskirche von Gernrode wird evangelischer Ostergottesdienst gehalten. Es ist ziemlich  kalt,   50 Besucher sind gekommen,  ein Chor muß von auswärts herangefahren werden. Wunderbar inzwischen Quedlinburg, dessen Pracht aber auch schon durch Schmieranten gestört wird. Im Klopstockhaus gibt es neben musealen Hinweisen auf K. auch kleine Nebenausstellungen zu dem frühen Turner Gutsmuths  und dem Geographen Ritter, alles mit dem Eifer zusammengetragen, den die DDR nicht hat beseitigen können.

Das Kyffhäuserdenkmal  zeigt sich rötlich, es wird neuerdings wieder gehegt und gepflegt: unten der bartdurchfurchende Barbarossa, über ihm, wie sich’s für das 19. Jahrhundert gehört, der bieder militärische Wilhelm, den sein Enkel partout und erfolglos zum „Großen“ machen wollte. In der Nähe liegt Sondershausen, das wohl am Kriegsende noch beschädigt  wurde,  in dessen großem Schloß  gerade die Landesausstellung von Thüringen vorbereitet wird.   Eine sehr instruktive Musiksammlung kann man schon besichtigen. Sangerhausen wirkt trotz schöner Architektur am Ostersamstag eher abweisend, die Gastronomien haben geschlossen, auch im Kern der restaurierten Altstadt darf die deutsche Jugend ihrem Schmiertrieb frönen. In der „Lutherstadt Eisleben“ ist vieles geschehen, aber zu Ostern ist es ganz still. Im Sterbehaus Luthers sind wir allein, im Geburtshaus, auf dessen Straße Unrat liegt, ist eine Anzahl von Besuchern.

   

III

Im Sommer machen wir von dem Havelländischen See aus, den wir schon kennen, einige Exkursionen nach Norden und nach Süden. Einmal nach Neuruppin und nach Rheinsberg, die sich beide erheblich entwickelt haben. Das Rheinsberger Schloß ist noch nicht völlig restauriert, aber deutlich ist nun wieder das Ensemble von Schloß, Park und kleiner Stadt zu erkennen. In einem Schlenker durch die Wälder und an den Seen nördlich von Rheinsberg vorbei  erfährt man etwas von der Stille und Geborgenheit dieses Landstrichs südlich der Mecklenburger Grenze.

Südlich  Berlins sieht es wiederum sehr unterschiedlich aus. Das nicht nur gut restaurierte, sondern offenbar auch sinnvoll genutzte Schloß Wiesenburg und das schöne Jüterbog mit gotischem Rathaus und der großen und großartigen Nikolaikirche, aber auch  das langhingezogene und etwas langweilige Treuenbrietzen, das arm wirkende Belzig und das unansehnliche Luckenwalde werden angeschaut. Die hügelige Landschaft des Fläming nimmt ein.

   

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IV

Im Sommer  fahren wir nach Mecklenburg. Wir gehen davon aus, daß es in diesem Land, das etwa so groß ist wie Hessen, aber nur 1,7 Millionen Einwohner hat, nur leere Straßen gibt. Die Autobahn von Hamburg nach Schwerin ist in der Tat wenig befahren, aber alle anderen Straßen im Lande, die wir benutzen, haben dichten Verkehr.

Schwerin liegt wunderschön am See, es hat eine Fülle von weißem Klassizismus und natürlich das ganz und gar märchenhafte Schloß, an dem immer restauriert wird. Die Mecklenburgische Straße ist eine angenehme Einkaufsstraße, die durchweg gut wiederhergestellt wurde, aber es gibt auch Straßen, die schon wieder zurückzufallen scheinen in die Trostlosigkeit der DDR, und gleichzeitig solche, in denen sehr lebhaft gewerkelt wird. In den Fenstern eines Job-Büros werden mindestens 100 Stellen angeboten. Das kann ja nicht eine Fiktion sein. Warum werden die nicht besetzt ?

Wir sehen auch hier, daß Außerordentliches getan worden ist und daß das Land  sich ganz wunderbar für sogenannten sanften Tourismus eignet. Wir wohnen in einem guten Hotel am Südzipfel des Schweriner Sees, finden sehr schöne andere, oft Schloßhotels, merken aber auch, daß es dennoch an manchem hapert.

    

Kleiner Exkurs. Nicht nur in den Ostländern, aber hier besonders deutlich, ist die Arbeit in der Hotellerie zu einem ganz beträchtlichen Teil auf junge Mädchen zwischen erwa 17 und 23 Jahre übergegangen. Man begegnet ihnen vor allem in der Rezeption und  beim Servieren.

Sie gehören durchweg zwei Gruppen an: die Angehörigen der einen sind gut ausgebildet, freundlich, zuvorkommend, die der anderen inkompetent,schnippisch bis zur Unverschämtheit.

In einem Hotel bei Schwerin, in dem wir zweimal essen, wird ganz klar, wie es zu diesem Unterschied kommt. Hier dirigiert offenbar die Padrona die Truppe von sechs bis acht Mädchen, die trotz zweier größerer Gesellschaften auch Einzelgäste wie uns nie aus den Augen verlieren. Bei der anderen Gruppe gibt es offenbar weder Ausbildung noch Aufsicht.

   

Um den Schweriner See herumzufahren ist schön. Man kann stille Waldwege am Ufer gehen, man trifft auf ein Schloß, das noch zu Anfang des ersten Weltkrieges von einem der Mecklenburger Herzöge gebaut wurde.

Auch in der Umgebung  findet man Schlösser aller Art und Gestalt: in Bützow ein  graues, liegengelassenes Renaissance-Schloß, in der Nähe von Sternberg ein Loire-Schloß, das ein Hamburger Reeder um die Wende zum 19. Jahrhundert gebaut hat. Dessen Erben strengen sich nun an, es als Hotel weiterzuführen, aber es fehlt offenbar an ausreichendem Kapital. Das scheint in Neustadt-Glewe vorhanden zu sein, wo es ein prächtiges spätbarockes Schloß mit Hotellerie gibt. Ganz entzückend liegt im Naturschutzgebiet Lewitz das Fachwerk-Jagdschloß Friedrichsmoor, das auch Gästen dienen soll, aber  unbedacht und langweilig  eingerichtet ist.   Viele mit erheblichem Aufwand restaurierte Backsteinkirchen fallen auf: so in Tempzin, in Bützow, in Sternberg, in Parchim, natürlich in Schwerin und Wismar.

Die kleinen Landstädte sehen sehr unterschiedlich aus: Parchim ist gut geraten, andere sind es weniger. Es kommt wohl doch auf das Geschick der Bürgermeister an.

Auf einer Landstraße müssen wir halten. Ein Festzug zur 700-Jahrfeier eines Dorfes setzt sich in Bewegung. Die historische Erinnerung reicht nur bis zu den Anfängen der DDR, derer mit Hammer und Zirkel gedacht wird. Ganz am Ende gibt es russische Militärwagen. Die deutschen Fahrer haben russische Uniformen angezogen.

Die Erneuerungsarbeit in Wismar hat seit Anfang der Neunziger noch beträchtlich zugenommen. Die Marienkirche hatte Ulbricht bis auf den Turm zertört, aber an der Georgenkirche wird heftig restauriert. Unendlich vieles ist um den Markt herum geschehen.

In Doberan ist die Restaurierung des Zisterzienser-„Münsters“ unübertrefflich gut gelungen. Auch die Stadt mit dem Camp hat seit einem Jahrhzehnt noch beträchtlich gewonnen. Das ehemalige Logierhaus der Großherzöge ist ein ansehenswertes und gut bewohnbares Hotel geworden. Aber es mangelt am Service. Die Preise dagegen sind verhältnismäßig stattlich. Heiligendamm wirkt durch die Kempinski-Ansiedlung sehr herausgeputzt. Vor allem das wunderbare Kurhaus ist zu bewundern. Aber die Strandvillen stehen noch da, als habe der FDGB sie gerade verlassen.  In Warnemünde ist lebhafter Badebetrieb, und Rostock  ist innerhalb von 15 Jahren bis in die Vorstädte eine gepflegte und lebendige Stadt geworden. In der Marienkirche wird noch gearbeitet, aber sehr vieles ist schon so trefflich restauriert, daß das Großartige des Ganzen deulich wird. 

   

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V

Zum Abschluß der Saison geht es ins Thüringische und vor allem Sächsische. Erster Aufenthalt in Bad Berka, das Goethe etablierte. Es hat einen schönen Park mit dem Gesellschaftshaus des Goethe-Zeitgenossen und Baudirektors Coudray und ist hübsch wieder saniert worden.

Zwölf Kilometer nördlich liegt Weimar, das wir vor und nach der Wende mehrfach besucht haben. Markt, Frauenplan, Schlösser sind gut anzusehen. Das Anna-Amalia-Palais zeigt am Dach seine Verwundung. Unklar bleibt, wie der Brand enstehen konnte, da man doch um die Gefährdung hat wissen können. Aber das ist natürlich schon kein Thema mehr für überörtliche Medien, die längst wieder mit dem Aberwitz des Sensationellen beschäftigt sind.

Wir fahren an die Elbe, an die Sächsische Weinstraße, eine Partie südöstlich und nordwestlich von Dresden. Gegen die eingegrabenen Täler der Mosel und auch des Rheins breitet sich’s hier weit , wird allerdings auch immer wieder von schützenden Felswänden auf einer Seite gesichert. Nicht weit ist Meißen, das sich im Vergleich zu der Zeit vor sieben Jahren schon in der Unterstadt aufs schönste entwickelt hat. Alte deutsche Stadtkultur ist bis in in die Antiquariate und Antiquitätengeschäfte wieder zu bewundern, wahrscheinlich mehr als irgendwo in Westdeutschland.

In Dresden geht es natürlich vor allem um die Frauenkirche. Sie ist wieder als Teil der Stadtsilhouette auszumachen. Natürlich ist sie neu, und gerettete Teile der Ruine erinnern daran,  wie sehr sie es ist. Aber es ist eine große und bürgerschaftliche Tat, diese Silhouette wieder aufzurufen, statt sie auf Dauer in einem Steinhaufen untergehen zu lassen. Die Stadt-Silhouette an der Elbe muß nun für das Ganze stehen, denn hinter der Brühlschen Terrasse, hinter Schloß, Frauenkirche, Hofkirche, Zwinger, Semperoper  und anderem bleibt der trostlose Dilettantismus der fünfziger bis siebziger Jahre bestehen, der angesichts des Geretteten und Wiederhergestellten besonders auffällt.

Ganz neu wirken für uns Freiberg im Erzgebirge mit dem Dom und vor allem dessen Goldener Pforte und die mit erstaunlicher Akkuratesse erneuerten Städte Bautzen und Görlitz. Bautzen wird zwar den Klang nicht los, der  sich nach Finsternis anhört, aber es hat eben auch eine Geschichte vorher, die nun wieder zu erkennen ist im Dom, im Stift, in der Burg, in der Fülle wunderbarer Barockfassaden.Und Görlitz ist zwar ein Museum, dem die Bürger fehlen, aber Ober- und Untermarkt, die Gassen, die Petrikirche sind Rettungen, die es lohnen, weite Wege zu machen.

Auch hier wird es darauf ankommen, ob Verwaltungen und Bürgerschaft verstehen werden, damit etwas zu machen. In Dresden scheint das schon gelungen zu sein , auch in Meißen. Ganz wichtig wird sein, daß man  wieder Gastlichkeit zeigt und nicht bloß die Geschäftstüchtigkeit des Westens erreicht. An der Elbe war man bei einem Winzer untergekommen. Ein bescheidenes, aber ordentliches Haus, sehr gut über dem Fluß gelegen. Der Winzer kochte ausgezeichnet, doch jede Art von Gastfreundlichkeit war verbannt: beim Chef, seiner Frau, der Tochter, die eher Aggresivität denn Freundlichkeit bewies. Man wußte nicht, warum. Es hatte wahrscheinlich mit uns als Gästen wenig oder nur das zu tun, daß wir aus dem Westen kamen. Vielleicht ging es auch um interne Schwierigkeiten. Aber wenn man derlei nicht kompensieren kann, wird  es vergeblich bleiben, sich um Erfolg zu bemühen. Uninteressierte Hoteliers haben wir im Westen ausreichend.

   

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Zum Ende der Zivilisation

   

Der Untergang des Abendlandes und das Ende der Zivilisation hängen nur so zusammen, daß die Zivilisation ihr Ende in der häufig gebrauchten Bemerkung verkündet, es werde sich bei dem und jenem  schon nicht um den Untergang des Abendlandes handeln.

   

Die Rede vom  Untergang des Abendlandes sollte einmal eine ungeheure Provokation sein. Es kam aber nur das Ende der Zivilisation heraus, das aus Harmlosigkeiten besteht wie der, wieder auf das Essen mit dem Messer zu verzichten und es, wenn man es nicht jemandem unter die Nase hält, dazu zu verwenden, mit ihm die Zähne zu reinigen.

   

Im Gastronomischen zeigt sich das Ende der Zivilisation darin, daß auf den deutschen Speisekarten „Menu“ immer „Menue“ geschrieben wird, es dort statt „Gemüse und Kartoffeln“ „Gemüse an Kartoffeln“ heißt  und an die Stelle von haute cuisine und bürgerlicher Küche Gemanschtes an Pommes getreten ist.

   

Die Grundform des Umgangs am Ende der Zivilisation besteht nicht mehr im „Gestatten Sie“, sondern im „Verpiß dich!“ 

   

Die bescheidenen zivilisatorischen Errungenschaften: das Siezen des Mitbürgers, sinnvolles Grüßen, die Reinlichkeit des Anzugs, aber auch der Dörfer und Städte, die Respektierung des anderen, Umgangsformen, die Bemühung um Ausdruck etc haben längst  der Stupidität und der mentalen und brachialen Gewalt Platz machen müssen.

   

Hitler war natürlich bereits der Endpunkt der Zivilisation. Fasziniert starrt darum die heutige Zeitgenossenschaft auf seine letzten Tage. Was darauf folgte, gab sich als die Abkehr vom Führer,  war aber dessen  Verwandlung  in die  Masse entalphabetisierter Selbstbestimmter . Nach der rührenden Restaurationsphase der Fünfziger und frühen Sechziger kam es mit den Achtundsechzigern, die versuchten sich als Antiautoritäre zu gerieren,  zur Fortsetzung des  Grobianismus der SA wie der intellektuellen Durchtriebenheit der  SS. Das  Fäkalische und Obszöne traten neuerdings  in den Vordergrund. Man benahm sich so schlecht wie die HJ. Man kleidete sich sportlich, jugendlich und uniform, als lebe man immer im Camp. Man bildete einen Jargon aus, der einzig durch Grobheit und Unverschämtheit auffiel. Wenn die Nazis mit ihren Parolen die Städte beschmiert hatten, so setzte man dies durch  sinnloses Beschmieren fort, das nun gar als jugendliche Produktivität galt. Die Besäufnisse der SA wurden im Saufen der Jugendgangs weitergeführt. Jugend wurde wie bei den Nazis per se zum Vorzug. Man avancierte weiter ohne Ausbildung zum politischen Funktionär. Die Ideologen besetzten die einflußreichen Stellen. Wer sich nicht anpaßte, wurde denunziert.. Die Macht wurde statt an die Partei nun an die Parteien delegiert, die sie im Namen des Volkes ausübten.  An die Stelle von Marschrhythmen traten Rockrhythmen, verwandt in ihrer Stumpfheit und Gewaltankündigung. Das Banausische und das Brutale schoben sich wieder in den Vordergrund. Der Kappenzwang von Hitler bis zum letzten SA-Mann setzte sich in den Baseballkappen fort, die auch noch im Schlaf auf dem Kopf festpappen. Die Fußballwut blieb ungebrochen. Man tritt in Gruppen auf und ist  gröhlend laut, wie es Führer und Gefolgschaft waren. Auf renovierten KdF-Dampfern wird gereist. Das Fernsehen betreibt die Wiederauflage von Volksmusikveranstaltungen. Bei dessen Shows lacht man auf Kommando wie bei einer Führerrede. Die Groschenblätter üben sich in Parolen wie der „Völkische Beobachter“.  Wurde damals volkstümlich geschrieben, so jetzt populär. Nicht die lächerlichen Rechtsradikalen sorgen für die Fortsetzung Hitlers, sondern diejenigen, die in Politik und entertainment faszinierende Persönlichkeiten vorstellen, die wie Hitler „der Größte“ sind. 

   

Das 20. Jahrhundert, das doch den Triumph der Zivilisation heraufführen sollte, stellt sich als deren Ende heraus. Aufklärung, Demokratie, Fortschritt, Frieden, soziale Gerechtigkeit, Achtung der Menschenwürde sind Proklamationsvokabeln geblieben, ja schlimmer: sie kündigten als solche bereits die unablässig steigende Barbarei an.

Statt zur Aufklärung kam es zum Rückgang des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit mit Hilfe der modernen Verblödungstechniken. Demokratie fand ihre Erfüllung in jenen Volksdemokratien, die nur Etiketten der Diktaturen des kommunistischen Ostens waren und schon als Pleonasmus verkündeten, daß der Begriff als Schwindel konzipiert wurde. Fortschritt ist allein der technische geblieben, der schon darum immer auf der Stelle marschiert, weil er letztlich nur dem Kommerz dient. Frieden war höchstens kalter Krieg und ist zum Fähnchenschwenkwort derer geworden, die ihre Ruhe haben wollen. Soziale Gerechtigkeit  blieb Forderung, und zwar eine nach der Rente von Kindesbeinen an. Achtung der Menschenwürde ist nur in ihrer ständigen Mißachtung noch erfahrbar.

So sind alle historischen Leitbegriffe der Zivilisation nur die rhetorische Cachierung ihres Endes.

   

Die große Architektur Mitteleuropas wurde im Krieg abgeschlachtet. Gemäß den Maximen der Postzivilisation galt dies nicht als Barbarei, sondern als Leitvorstellung. Die realisierten  am Übriggebliebenen die Stadtbauräte der fünfziger und sechziger Jahre, die sich dabei auf das Bauhaus beriefen, während  Ulbricht seine Destruktionsfachleute nur anwies, beschädigte Schlösser und Kirchen in die Luft zu sprengen, um der Platte freien Raum zu geben. Keinen der Entzivilisierten hat das je gestört. Darum ist unverständlich, daß man den Brand der Anna-Amalia-Bibliothek öffentlich beklagt. Der ist nichts als ein Teil der Praxis in Mitteleuropa seit 1939.

   

Die Zivilisation proklamierte den pursuit of happiness derart, daß der zu dem Befehl verkommen mußte, individuell immer happy zu sein und die fun-Gesellschaft als Love Parade zu exekutieren.

   

Der Ganove und die Prostituierte sind die Leitfiguren der nachzivilisatorischen Epoche.

   

Eine der Grundregeln des künftigen Äons wird lauten: Wer einen ganzen Satz sagt, wird erschossen.

   

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VOM JOURNALISMUS

   

   

Von gelehrten Sachen

   

In der sehr intellektuellen Zeitung „Die Zeit“, und zwar in ihrer Online-Ausgabe, schreibt der Literaturgelehrte Klaus Harpprecht eine Rezension zu der Musil-Biographie von Corino. Er bezieht sich darin auf die Posse von Musil, der er den Namen „Vienzent und die Freundin bedeutender Männer“ gibt. Doch erinnert er sich zum Beweise seiner umfassenden Bildung auch eines Dichters, der bei ihm den Namen Hugo von Hoffmansthal führt.

Man will uns mit PISA schrecken, übersieht aber unsere absolut coolen Eliten. 

   

   

Auf nach Tegel

   

Vormittags freut man sich, daß der „Spiegel“ endlich einmal wieder einen bedeutenden Titel hat. Matussek schreibt über Alexander von Humboldt, den letzten europäischen Universalgelehrten. Er schreibt – Gottseidank – nicht ironisch, sondern emphatisch über ihn. Man empfindet mit ihm Begeisterung für diesen Mann. Nur fällt einem auf, daß Matussek lediglich ein einziges Mal den Namen Wilhelm von Humboldts erwähnt, den er einen Sprachforscher nennt und der nur als „Bruder“ eine ganz kurze Rolle spielen darf, obwohl Alexander 1836 dessen Einleitung zum sogenannten Kawi-Werk, einen der wichtigsten Texte zum Sprachdenken, herausgibt. Aber gut, die Kenntnisse sind heute schmal, und man muß froh sein, daß überhaupt... 

Dann schließt sich ein Interview mit Hans Magnus Enzensberger an, der in seiner Anderen Bibliothek dankenswerterweise soeben mehrere vergriffene bzw. noch nicht in deutscher Sprache erschienene Bücher von Alexander von Humboldt herausgibt.

Man findet auch das sehr verdienstlich und erfreut sich an Enzensbergers intelligenten Bemerkungen, Matussek ist einer der Interviewer.

Abends begegnet in einem der Digitalkanäle ein dicklicher Mensch, der, glaub’ ich, Denis Scheck heißt und mal einen Sicherheitshelm trägt und sich in der Anna-Amalia-Bibliothek  aufgestellt hat, mal einen Strohhut trägt und mit einer schönen Romanschriftstellerin in einem Boot auf dem Lago maggiore herumfährt, mal gar nichts auf dem Kopf hat und mit Hans Magnus Enzensberger in einem leeren Gewächshaus sitzt. Und er spricht mit diesem – der Leser wird es schon erraten haben – über den großen Alexander von Humboldt. 

Das ganze Vergnügen über eine Wiederentdeckung ist zum Teufel. Es geht ja  nur um eine  schwitzende PR-Maßnahme. Keiner, außer vielleicht Enzensberger (aber auch bei dem ist man nicht sicher), hat sonderliche Ahnung von Alexander von Humboldt, sondern der ist aus Anlaß von Neuauflagen eben dran, und der Verleger oder Enzensberger haben es verstanden, sich ein paar Kulturbereder zu sichern. Enzensberger sagt im zweiten Interview noch einmal das, was er schon im ersten gesagt hat, behauptet nur, man könne bisher keines von Alexanders Büchern kaufen, obwohl es doch so viele Institutionen gebe, die nach ihm heißen: die Humboldt-Stiftung – da hat er recht, denn die heißt „Alexander von Humboldt-Stiftung“ -, die Humboldt-Universität – da hat er nicht wirklich recht, denn die ist auch nach Wilhelm genannt, von dem er kein Wort sagt.

So wird es nun weiter gehen. Enzensberger gibt Interviews über Alexander von Humboldt, und Kulturbereder tun so, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich ihre intime Kenntnis von Alexander dem staunenden Leser oder Hörer servieren zu können. Das Ganze ist aber  eine läppische Inszenierung. 100 bis 150  Autoren der letzten 350 Jahre, die sehr wohl eine Vorstellung verdienten, werden weiter Pech haben. Nicht einer der Kulturbereder wird einen von ihnen wiederentdecken. Dazu sind alle zusammen zu faul und zu unintelligent. Erst wenn es irgendjemandem gelingt,  Enzensberger oder dessen Verleger einen von ihnen zu suggerieren, wird sich das ganze Spiel wiederholen. Aber jeder wird nur dazu dienen, jenen Kulturberedern Gelegenheit zu geben, sich als Leute zu zeigen, die neben den Schmonzes von heute auch Dinge kennen, die sie klug aussehen lassen.

    

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Schlössernacht, Fernsehnacht

   

Leider regnete es wieder einmal. Trotzdem glänzten abends die Architekturen und die Parks von Sanssouci, stäubten in zarten Tönen alle Wasserspiele, wie sie so komplett in früheren Jahrzehnten nie zu sehen waren. Wie wunderbar, daß dieses Ensemble erhalten blieb, so prächtig restauriert wurde. Außer dem Schloß oberhalb der Weingärten sah man das Neue Palais mit den Communs, die Orangerie, das Belvedere, das chinesische Teehaus, Charlottenhof und viele Tempel, Brunnen und Skulpturen. Das Fernsehen bewährte sich mit dem, was allein dieses Medium kann.

Man sah gottlob den Kontrast Potsdams nicht: die bis heute sicht- und spürbare Vernichtung vierzehn Tage vor Kriegsende, dem Haß auf Deutschland und die Deutschen entsprungen, in Wahrheit eine masochistische Zerstörung europäischer Werte. An deren Stelle setzte eine Vereinigung von Hausmeistern, offenbar nach Entwürfen von Erich Mielke, eine trostlose  Reihe von Behausungen ins frühere Zentrum, riß dafür die Schloßruine und die der Garnisonkirche ein: ein Beispiel der kulturellen Taten des Walter Ulbricht in der ganzen DDR.

Zu den Veduten, bewegt und beleuchtet, kamen die Stimmen und die Erscheinungen von Menschen, die in den Schlössern und Parks tätig sind, Personen, die über die Misere von  deutscher Regierung und deutschem Volk in diesen Jahren hinwegtrösten können: kluge Leute als Uhrenrestaurator, Skulpturenkustodin, Schloßkastellanin, Porzellanmalerin, Putzfrau ,alle so außerordentlich und hingegeben bei der Sache, hoch über dem stehend, was an Narrentum heute gefeiert wird zwischen Staatsmann und Tormann. In ihnen erhält sich, wenn überhaupt, die Kultur dieses Landes, ihnen kann man zuhören und zustimmen.

Das alles könnte ein geschickter Bildregisseur collagieren, begleitet  von einem Sprecher aus dem Off, dem man präzise Texte  zu dem, was der Zuschauer sah, gegeben hätte.

Aber soviel Wohlgefühl durfte nach der Entscheidung der Fernsehgeneräle, die unsere Sicht dirigieren, nicht sein. Eine Rotte von drei sogenannten Moderatoren war abgestellt worden, sich in alles einzudrängen und mit ihrer Ignoranz zu prunken. Einer der beiden Buben führte nicht von ungefähr den Vornamen Attila: ein Hunnentrupp zerstampfte in freier Rede jeden Eindruck von Heiterkeit und Schönheit. Eine Mutter Courage der Kaltschnäuzigkeit übertraf sie aber leicht. Nichts, was sie hervorquasselten, hatte irgendeinen Sinn, nichts war vorbereitet, alle Informationen waren falsch oder zumindest schief. Am schrecklichsten ging es mit der Historie, die für diese Kameraderie natürlich terra incognita ist, auf der sie aber als kundige Entdecker herumtollen. Die Hohenzollern haben gar nicht so geheißen, wie sie sich nannten, angefangen von den preußischen(!) Kurfürsten bis zu jenem Kaiser (Wilhelm II. war gemeint), der als Sohn der Königin Luise vorgestellt wurde. Man kannte die höfischen Tänze nicht, benannte sie aber kreuzfidel mit falschen Namen. Dafür wußten sie von den Communs, die mehrmals gezeigt wurden, nicht den richtigen. 

Als ein in historischem Kostüm auftretendes Model sich gegen die (wohl schon vor der Fernsehaufnahme beginnenden) Impertinenzen der Kaltschnäuzigen wehrte, wurde die  ruppig: ein Fernsehobjekt war nicht einverstanden mit den dem Fernsehjournalismus zustehenden Unverschämtheiten? Da mußte eingeschritten werden.

Wieviel plagender als der Regen war diese Bengelgruppe aus Impertinenz und Ignoranz.

Wie schön, wie erheiternd wäre das Bild gewesen, wenn diese Gespenster dorthin kommandiert worden wären, wohin sie gehörten: zum Teufel. 

   

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Herr Poschmann, ein Deutscher, spricht bei der Eröffnung der Spiele von Athen deutsche Sätze

   

 Herr Poschmann, nach Zeitungsberichten , die natürlich falsch sein können, „Sportchef“des Zweiten Deutschen Fernsehens, hat nach Feststellung  des Chefredakteurs des ZDF, Herrn Brender, „in Athen einen hervorragenden Job gemacht“. Innerhalb dieses hervorragenden Jobs hat er am 13. August bei der Eröffnung der Spiele  u.a. folgende Sätze gesprochen.

   

Sätze über Athen und die Deutschen:

   

„Athen muß schon was bieten.“

    

„Was sollen die deutschen Zuschauer machen, wenn sie die Bilder sehen?“

    

Sätze über Mythos und Mystik:

  

„Der Mythos kehrt heim zu den Wurzeln.“

    

„...eine mystische Schau.“

    

Sätze über die Elemente:

   

„Das Wasser spielt eine große Rolle in Griechenland und die Musik.“

    

„Feuer und Wasser sind die Elemente, die so wichtig sind für Griechenland.“

    

„Am Ende fallen sie ins Wasser.“

    

Sätze über Ideen und Kunst:

   

„Ein kleiner Junge, ein kleines Land, das große Ideen hervorgebracht hat.“

    

„Bildhaft dargestellte Perioden der Bildhauerkunst.“

    

„Zykladische Skulpturen.“

    

„Der Würfel als Symbol der Erde, der so in der Natur nicht besteht.“

    

Sätze über griechische Geschichte:

   

„...der Zerfall des griechischen Reiches.“

    

„Man organisierte sich über Fürsten und Königinnen.“

    

Sätze über die olympischen Spiele:

  

„...und genau in dieser Zeit entstanden auch die Maskottchen der Spiele.“

   

 „...athletenfreundliche Musik.“

    

„Eine Mannschaft mit Sorgenfalten.“

    

„Man hat auch diesmal die 200 voll bekommen.“

    

„Wenn man aussteigt aus dem Flughafen.“

    

Sätze über die teilnehmenden Staaten und die Staatsmänner:

   

„Der Staatspräsident [von Bulgarien] gibt sich die Ehre.“

[Es war der Ministerpräsident.]

   

„Auch im Sultanat Oman gibt man sich mannhaft beschränkt.“

    

„Das kleinste afrikanische Land, wenn man so will.“

    

[Herrn Poschmanns oftmals wiederholte Frage:] „Wo liegt das denn ?“

    

Kurz: ein hervorragender Job in hervorragenden Sätzen.

Man könnte natürlich auch sagen: Ein ignoranter Idiot. Aber wem hülfe das ?

Es bliebe ja immer noch Herr Brender.

   

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VOM (EINSTIGEN) LEBEN

   

1950

   

Lektüre von Werfels Verdi-Roman. Es sei ein „diffizil-verästeltes Buch“, in dem  Verdi als „ein Genie des Fleißes und ein Genie des Herzens“ dargestellt werde. Auch Nebenfiguren wie der uralte Marchese Gritti, Verehrer der italiensichen Oper des 18. Jahrhunderts, und der moderne Musiker Fischböck, ein „fanatischer Eiferer“, werden hervorgehoben.

Wenige Tage danach wird die Rundfunkfassung von Henry de Montherlants „Die tote Königin“ besprochen. Es gehe um Liebe gegen Staatsraison, aber es handle sich um eine äußerst moderne, „intellektuelle, sehr psychologische, diffizile, von viel Kälte“ bestimmte Darstellung. Man sei „erstaunt und immer interessiert“, vor allem wegen der Figur des Königs, den Fritz Kortner gebe.Goethes „Clavigo“in einer Aufführung aus Aachen wird „mit tiefem Gähnen und ohne alle Ehrfurcht  und Dankbarkeit gegen Herrn von G.“ „ zur Kenntnis genommen“.

Am Geburtstag waren acht Gäste eingeladen, an einem anderen Tag kommt der Patenonkel, mit dem ein Gespräch über moderne Kunst geführt wird, was nicht ganz einfach gewesen sei.

Die Uraufführung von Julius Weismanns Chorwerk „Wächterruf“ beeindruckt: „klangschön und schlicht volksliedhaft“. 

Daß der französische Außenminister Schuman in Bonn Visite macht, gilt als bemerkenswert.

Der eigene Gesamtzustand  sei „wartend“. Die Abiturarbeiten hätten begonnen.Mir sei ziemlich unwohl, wenn ich mir vorstellte, daß es für mich noch zwei Jahre dauere.

Die Universitätsgesellschaft wird mit einem Vortrag des Philosophen Rothacker eröffnet, der über Kulturanthropologie spricht. Nur Höchstleistungen könnten eine „geistige Einheit  schaffen“.Die  sei die Grundlage für neue Höchstleistungen. Wir müßten uns an unseren Klassikern orientieren, durch die allein Kultur entstehe. Urteil: gute, aber nicht neue Gedanken, in einem angenehmen Stil vorgetragen.

Nach Düsseldorf zu einem Bronchialspezialisten.Gegensatz zu der „aufgeblasenen Siedlung“ D.: hier sei alles „groß gesehen, aber nichts bombastisch“.Zerstörungen sehe man nicht mehr, die Zeit aber zu kurz, um sich richtig umzusehen. 

Den ersten Akt des „Tristan“, wohl im Radio: „sehr weit und groß, aber mir doch unendlich fern“. Dann ein Jugendkonzert mit Bruckner, Mozart und Bach. Die Jugend sei für Bach aufgeschlossen. Walter Gieseking spielt Bach, Schubert, Brahms und Debussy. Das Klavier gebe „tiefstes Schwingen und tosendes Brausen“ wieder. „Welche Leichtigkeit und auch gleich Bedeutsamkeit in der d-moll-Suite [Bachs]“. „...und schließlich Debussys Suite bergamasque. Keine Verschwommenheit..., sondern grazöse Klarheit, fragil...“

Prozeß gegen den Bundestagsabgeordneten Hedler von der Deutschen Partei.Der sei wegen Mangels an  Beweisen vom Vorwurf  gemein-chauvinistischer und niedrig-antisemitischer Äußerungen freigesprochen worden.  „Unverständlich und beschämend“, daß ein solcher Mann Abgeordneter werden konnte. Der Bundestag habe sich „lärmend mit diesem Problem“ beschäftigt.

Gedenken des 25.Todestags Friedrich Eberts mit einer Rede von Bundespräsident Heuß. Ebert sei ein „durchaus wahrhaftiger und klarer Charakter gewesen“. Über ihn habe sich „die elende Meute hergemacht und ihn wahrhaftig zu Tode gehetzt“. 

Für einen Vortrag in der Schule hätte ich mich mit Homer abgemüht. Am selben Tag wird von der „Abendentspannung“ des Disneyschen „Schneewittchen“gesprochen. Der und ihr Prinz seien zwar „Edelkitsch“, aber die Zwerge und die Tiere: „ein einziger Phantasie-Purzelbaum“. 

Man müsse so schnell als möglich unabhängig werden von „der väterlichen Geldtasche“: „...das Bitten um die Groschen,  die...mit der Geste des Mannes der Armut gegeben“ würden, erniedrigend.

Virtuosentum habe nur dann Berechtigung, wenn es aus „echter Vitalität“ wachse. Das wird mit Bezug auf die Amerikanerin Margot Pinter gesagt, die Khatchaturians Klavierkonzert „dahinmusiziert“ habe. „Von dieser unerschöpflichen Vitalität“ sei „unseren alten Konzerthasen“ etwas zu wünschen. Dazu Dvořák und Ravels „wahnsinnig machender“ Bolero.

Von der Universitätswoche wird breit berichtet. Müller-Schwefe habe über „Die Suche nach dem Menschen“ gesprochen: der Entwurf einer christlichen Anthropologie; einen Tag danach Hans-Joachim Schoeps über „Die Krise des modernen Menschen in der neuen deutschen Dichtung“; dann Pater L.Siemer über „Geschichte und Gegenwartsforderungen“und Willibald Gurlitt über „Johann Sebastian Bach in seiner Zeit“.

Bei Gelegenheit der jährlichen Aufführung wird die Matthäus-Passion gerühmt. Die Musik sei „objektiv, niemals beschreibend, erklärend, deutend. Die Musik Bachs ist.“ Sehr stark auch berührt von der h-moll-Messe. Ein Kammermusikkonzert mit modernen Franzosen  und Mozart habe 75 Besucher gehabt, der Platz habe durchschnittlich 1,-- DM gekostet.

Jahreabschluß in der Schule. Wieder wird über zwei weitere Schuljahre geklagt [1941 Verschiebung des Schuljahrbeginns von Ostern auf den Herbst; im September 1944 werden in Heidelberg die Schulen geschlossen; erst Ende Oktober 1945 gibt es wieder, nun in D., normalen Unterricht; mehr als eineinhalb Jahre „Verlust“]. Doch brächten die Primen „eine Auflockerung des vollgepfropften Stundenplans“.  Der bisherige Klassenleiter Dr.J. wird verabschiedet. Er sei mir zu fremd gewesen, aber der Verabschiedungsabend „habe noch einen Kontakt geschaffen, wie er vorher wohl nicht möglich gewesen wäre“.  Auch die Klasse, „wahrhaftig ein unerfreuliches Konglomerat“, habe sich „in Haltung und Aufgeschlossenheit selbst übertroffen“. 

Ein Vergleich von „Misanthrope“ und „Tartuffe“. T. sei geistreicher und echter als M., auch besser gebaut, obwohl M. „nach dem Grundgedanken wesentlicher ist“. 

Der Hamlet-Film mit Laurence Olivier.Erste Begegnung mit dem Mann, „der sich nicht entschließen konnte“. Die Frage sei „Sein oder Nichtsein“, die Behauptung „In Bereitschaft sein ist alles“ sei Wunsch, der es bleibe. Als Hamlet sich zu einer Tat durchringe, töte er einen alten Schwachkopf. Es gebe für ihn „ kein echtes Handeln“. „Der Rest ist Schweigen“: ein Notbehelf.

Bach-Abend, Allegris Miserere, Johannes-Passion, Bachs a-moll-Konzert für vier Cembali, sein E-dur-Violinkonzert: „Röhrig [Konzertmeister in D.] spielte höchst klar“.

Bruckners Achte: „im Finale werden die Posaunen heiß geblasen“.

Ich beginne ein Praktikum in der Stadtbücherei. Versuche, z.B. der „Welt“ Gedichte anzubieten, scheitern. 

Ein Lektürebericht über Thomas Wolfes „Schau heimwärts, Engel“.„Die symbolischen Stellen...wirken oft überladen.“Es sei die Geschichte der Familie Gant, nicht so sehr die Eugene Gants.Beim Sterben Bens heißt es von den unendlich Unterschiedlichen, am Sterbebett Versammelten, daß sie „an die Holdseligkeit und Süße des Todes dachten“ und daß „sie einander liebten“. Das Buch versuche, „hinter die Dinge zu leuchten“.Kritischer wird von Dos Passos’ „Manhattan Transfer“ gesprochen: „unbekümmerte Zusammenhanglosigkeit der Szenen“, „in den Details sehr gut beobachtet“. Aber das Buch laufe sich tot.

Kammerkonzert mit Werken von Günther Raphael, Jugendkonzert mit der Musik für Orchester von Rudi Stephan: ein „echter und überzeugender Neuanfang ohne gewollte Konstruktivismen“. Danach Mozarts D-dur-Violinkonzert und Beethovens  siebte Sinfonie. Bachs Goldberg-Variationen: „Worte finden. Es  ist immer Geschwätz.“ Kammermusik von Schumann, Brahms, Resphigi und Ibert. Ein Orchesterkonzert mit Mozart, Ravel, Richard Strauß’ Burleske und „Eulenspiegel“, deren Aufführung gelobt werden.“Musikalisches Opfer“.

Arbeitskreis für neue Musik mit einem Referat von Prof. Mersmann und der Klaviersonate Nr 1 von Hindemith und Liedern aus dem „Buch der hängenden Gärten“ von Schönberg.

Tod von 63 Bergleuten bei einem Grubenunglück in Gelsenkirchen. Ein Geretteter wird interviewt und stirbt zwei Stunden danach an einem Herzanfall.

Gespräch mit dem Kapellmeister Zilcher über Jugendmusik und einen Kulturring der Jugend. 

30,-- DM für Bücher ausgegeben: u.a. F.G. Jüngers Essays für 90 Pfg.

Beginn einer langjährigen Beziehung. Viele Gespräche. Spaziergänge. Krisen. Ich gehe nicht mit ins Landheim der Schule. Mit K.R., einem Graphiker, über die heutige Kunst.

Im Juni und Juli: Kammerkonzert mit Tscherepnin, Debussy, Mozart. Bach-Konzert. Kammerkonzert mit Honegger, Reger, Hindemith: „Heiterkeit und Beschwingtheit“. Weiteres Bach-Konzert , veranstaltet vom Konservatorium, mit der Hochzeitskantate, Solowerken, einer Motette. Jugendkonzert mit der Smetana-Suite von Raphael, Tschaikowskijs Violinkonzert und Dvořáks Sinfonie „Aus der neuen Welt“: „sehr musikantisch, alles schön, nie akademisch“. Kammermusik von Rachmaninoff, Strawinsky, Borodin.  Abschließendes Bach-Konzert mit dem Doppelkonzert, „Jauchzet Gott in allen Landen“ und „Wachet auf ruft uns die Stimme“: „das beste Bach-Konzert, das ich bisher in D. gehört habe“.

Kinobesuch: „Maria Walewska“ mit der Garbo. Fahrrad-Ausflug in die Umgebung.

Krieg zwischen Nord- und Südkorea.

Die Masse sei das einzige Kollektiv, das einen gemeinsamen Haß erleben könne. „Die allermeisten Menschen sind von einer geradezu verblüffenden Stumpfheit, die der krasse Gegensatz der Heiterkeit ist.“

Radfahrt nach Ratingen, Ausflug nach Düsseldorf.

Mit den Eltern in den Urlaub nach Urach  in der Schwäbischen Alb. Lange Zugfahrt. In U. im Kaufmannserholungsheim: „Bauhausstil, viel Glas, klar, offen“, auf der Höhe, außerhalb der kleinen Stadt. Besichtigungen, Spaziergänge, Ausflüge, u.a zum Lichtenstein: dort zwei alte Prinzessinnen von Württemberg, Besuch der ersten Bundesgartenschau in Stuttgart und der Schwester in Heidelberg.

Weitere Arbeit in der Stadtbücherei. Teilnahme am Kirchentag in Essen. Fahrt an den Niederrhein. Eine ältere Verwandte, mit der ich mich gut verstand, stirbt nach zwei Schlaganfällen.  Das Gesicht der Toten. Die Beerdigung.

„Der Gegensatz West-Ost  verschärft sich von Tag zu Tag... Beschimpfungen und Drohungen gehen hin und her...Kann man nichts tun gegen das Auseinanderleben, gegen das Fremdwerden?“

Ständige Sicherheitsgespräche. „Wir sind wieder Partner, begehrter offenbar...“ „Eben beruhigte Adenauer die Gemüter, die sich wieder Gewehr bei Fuß sahen. Nun, mißtrauisch bleiben wir ja doch.“

Ein Konzert mit dem Cellisten Pierre Fournier. Wiedereröffnung des Stadttheaters. „Der Saal macht den Eindruck des Intimen, Beruhigenden.“ Vorläufig ist nur die Vorbühne zu bespielen. Das Festkonzert mit Bruckners 5. Sinfonie. Shakespeares „Caesar“: „Gibt es soetwas wie die Forumszene wieder? Wo hat man die Masse schärfer, aber auch wahrhaftiger getroffen?“ Eine Inszenierung von Sellner. Dann der Gebrüder Schönthan „Raub der Sabinerinnen“ mit Alfred Schieske. „Immerhin: dieser Vierakter ist von hundert ähnlichen [Schwänken] übrig geblieben.“

Konzert mit der Uraufführung von G. Raphaels Sinfonia breve, „sehr rhythmisch, interessant, ohne sonderlich Neues“. Wilhelm Backhaus spielte Brahms’ erstes Klavierkonzert.Schließlich Regers Mozartvariationen. Kammermusik mit Telemann, Reger und Raphael. Hauptkonzert mit Hindemiths Orgelkonzert, das „wunderschön frech“ genannt wird, dem a-moll-Violinkonzert von Viotti  und der Liturgischen Sinfonie Honeggers. Die „letzten himmlisch-süßen Klänge“ seien „Himbeersaft“.  Aber G.L Jochums Orchester musiziere großartig.  Weitere Konzerte - „allmählich wird’s damit zu viel“ -, u.a. mit Strawinskys Violinkonzert. J.M. Blome mit einem „prachtvollen Klavierabend“. Cassado und Schumanns Cellokonzert. 

Zum ersten Mal Tschaikowskijs Pathétique. Sie sei nicht so russisch wie Mussorgskijs Arbeiten.

Im Kino „Adam und Evelyne“, „eine harmlos-freundliche Sache“, Käutners „Unter den Brücken“: „die eigenartige Atmosphäre des Stroms und des Schiffs“. 

Gemeinsam Dostojewskijs Großinquisitor-Legende nachAnspannungen und Schwierigkeiten gelesen.

„...ganz nah steht der Krieg vor uns... Die Welt ist taub und blind.“

Brahms’ Violinkonzert und Bartoks Orchesterkonzert 1944: „nichts Gewolltes, Zwanghaftes, sondern eine Vielheit von Form, Melodik und Aufbau, die erstaunlich ist“. 

Shaws „Candida“.  Winterwanderung.

   

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Nummer 8 (Juli/August 2004): s. Archiv

   

INHALT: VON DER SPRACHE: Das Sprachdenken der Romantik – Nietzsches Kritik an der Sprache – Friedrich Max Müller: Sprache und Denken. VON DER LITERATUR: Satire. Eine Ergänzung. VON DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN: Der siebenundzwanzigste September. Zu Christa Wolfs Buch „Ein Tag im Jahr. 1960 – 2000“ – Das dicke DDR-Buch. VON DER GEGENWART: Die Rechtschaffenen – Was man in der Bundesrepublik Deutschland, dem bisher freiesten Lande auf deutschem Boden, nicht darf und was man darf – Köln in zwei Tagen. VOM JOURNALISMUS: Bildungsbürger – „Staatschef“ – Der alltägliche Feuilleton-Tinnef – Presseclub – Sie lesen „Die Zeit“ nicht mehr?  VOM EINSTIGEN LEBEN: Literaturfeiern in Österreich oder Karl Kraus und Robert Musil vor dreißig Jahren (Tagebuchnotizen) – 1949. Neue Titel.

   

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